Landnahme (eBook)
382 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73295-3 (ISBN)
Bernhard Haber ist zehn, als er 1950 mit seinen Eltern aus Breslau in eine sächsische Kleinstadt kommt, wo man Vertriebene und Ausgebombte lieber heute als morgen wieder abreisen sähe. Zwar werden Handwerker gebraucht, und Bernhards Vater ist Tischler, aber die Einheimischen bestellen ihre Möbel natürlich nicht bei dem Fremden.
Dem Jungen begegnet man in der Schule nicht viel besser, sich durchbeißen und immer wiedere Schläge einstecken - das erkennt er rasch als den einzigen Weg. Daß Bernhard nach der 8. Klasse eine Tischlerlehre beginnt, wundert niemanden, eher schon, daß er später zeitweise als Karusselbesitzer sagenhaft viel Geld verdient. Peter Koller, der in einem selbstgebauten Auto zahlende Gäste nach Westberlin gebracht hat und dafür ein paar Jahre ins Gefängnis muß, weiß genauer, woher Bernhards Wohlstand stammt, aber er verpfeift ihn nicht.
Überhaupt hat Haber Glück mit den Leuten um sich herum: mit seiner Frau Friederike, die ihn anhimmelt, mit seiner Schwägerin Katharina, die ihm beigebracht hat, was Liebe ist, mit dem Sägereibesitzer Sigurd, der dafür sorgt, daß Bernhard als Tischlermeister in den Kegelklub aufgenommen wird, wo die Selbständigen sich treffen, um den nötigen Einfluß auf die Politik des Ortes zu nehmen ... vor 1989 und erst recht in den wilden Jahren danach.
Christoph Hein erzählt die Lebensgeschichte Bernhard Habers über fast fünfzig Jahre aus der Sicht und mit den Stimmen von fünf Wegbegleitern. Es ist der Lebenslauf eines Außenseiters in der Provinz, der mit der großen Geschichte scheinbar nichts zu tun hat und doch den Verlauf deutscher Geschichte vom zweiten Weltkrieg bis zur Jahrtausendwende exemplarisch spiegelt.
<p>Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle <em>Der fremde Freund / Drachenblut</em>.<br /> Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis. Seine Romane sind <em>Spiegel</em>-Bestseller.</p>
Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle Der fremde Freund / Drachenblut. Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis.
Auf dem Podest am Ende der Freitreppe standen vier Männer und lächelten unbeirrt der Menschenmenge zu, die sich auf dem Marktplatz versammelt hatte. Einer von ihnen sah mehrmals auf seine Uhr, dann gab er den Musikern ein Zeichen, und die Kapelle spielte den York’schen Marsch. Wenn die vier Männer miteinander sprachen, lächelten sie nicht, ihre Gesichter wirkten besorgt, sie waren nervös.
»Länger können wir nicht warten«, sagte der Älteste von ihnen. »Was glauben die, wer sie sind? Königliche Hoheiten? Es ist nur das Prinzenpaar.«
»Reg dich nicht auf, Sigurd«, sagte ein kleiner, untersetzter Mann, »ich gehe und hole sie.« Er nickte den anderen zu, wandte sich um, öffnete die schwere Rathaustür und ging hinein.
Der Prinz stand mitten im Flur des Rathauses. Er schwieg und nickte, als der Mann erschien und ihm mitteilte, dass alle auf sie warteten. Dann sah er zu der Prinzessin, die auf der Bank saß und ein Taschentuch vor ihr Gesicht hielt.
»Es ist Zeit, wir müssen jetzt hinausgehen. Wir können es nicht weiter verzögern«, wiederholte der Mann und sah gleichfalls zur Prinzessin, die ihre Wangen betupfte, kurz in einen Handspiegel schaute und aufstand. Sie war auffallend blass und lächelte bemüht, auf ihrem Gesicht waren Tränenspuren unübersehbar. Der Mann ging der Prinzessin entgegen.
»Die halbe Stadt steht auf dem Platz und wartet«, sagte er zu ihr und sah sie beschwörend an.
Er reichte ihr seine Hand und führte sie zu dem Prinzen. Dann ging er zur Tür, öffnete sie und machte mit einem Arm eine große auffordernde Geste, um das Prinzenpaar zum Hinausgehen zu bewegen. Die beiden liefen die wenigen Schritte bis zur Tür und dem Podest der Freitreppe nebeneinander, ohne sich anzusehen oder gar anzufassen.
Die Prinzessin war ganz in Weiß gekleidet und trug eine Krone in dem aufgesteckten Haar. Der Prinz trug einen weißseidenen Anzug, auch er lächelte, presste jedoch dabei grimmig die Lippen aufeinander. Neben ihnen standen die vier Männer, die wie das Prinzenpaar der Menschenmenge vor ihnen auf dem Rathausplatz zuwinkten. Die Blaskapelle, die sich am Fuße der Treppe aufgestellt hatte, spielte nun den Präsentiermarsch.
Auf dem Platz standen mehr als zweihundert Leute, viele von ihnen hatten kleine Kinder mit, sie hielten sie an der Hand oder trugen sie auf den Schultern, damit sie das Prinzenpaar besser sehen konnten. Die Kinder hatten bemalte Gesichter, silberne und rote Sterne klebten auf ihren Wangen, Stirnen und Nasen, einige hatten Papiermützen auf dem Kopf oder Teufelskappen und gefütterte Mützen, auf denen Tiergesichter und Fratzen aufgestickt waren und die man den Kindern weit über die Ohren gezogen hatte, denn es war eisig kalt. Alles starrte zum Prinzenpaar und zu den Männern auf dem Podest, die unermüdlich lächelten und abwechselnd mit der rechten und der linken Hand den Versammelten zuwinkten. Die vier Männer trugen dunkle Anzüge und in einem seltsamen Kontrast dazu glänzende rotgoldene Papierhelme auf dem Kopf. Hinter ihnen standen kostümierte junge Mädchen, die Prinzengarde mit dem Funkenmariechen, fünf stramme Mädchen mit kurzen Röcken und knielangen roten Stiefeln. Sie bewegten sich zur Musik und trampelten mit den Füßen, um sich warm zu halten. Ihre Augen leuchteten vor Stolz, und sie bemühten sich, zwischen den Rücken der Männer hindurch auf den Rathausplatz zu sehen und nach ihren Freundinnen und Bekannten Ausschau zu halten.
Einer der Männer auf dem Podest sah zu dem Dirigenten der Blaskapelle, und als dieser zu ihm blickte, gab er ihm ein Zeichen. Die Musik brach nach wenigen Takten ab. Der kleinere Mann, der das Prinzenpaar aus dem Rathaus begleitet hatte, hielt plötzlich einen übergroßen Schlüssel aus goldbezogener Pappe in der Hand, den er dem Prinzen überreichte. Die Kapelle spielte einen Tusch, dann erklärte der Mann, der als Sigurd angesprochen worden war, über ein aufgestelltes Mikrofon, dass man nun nach der Schlüsselübergabe mit dem Umzug durch die Stadt beginnen werde. Wieder warf er einen Blick zu dem Dirigenten, der den Einsatz für einen weiteren Tusch gab. Der Mann auf dem Podest trat vom Mikrofon zurück, er winkte der Menge zu und strahlte begeistert, während er sich halblaut mit seinem Nachbarn unterhielt.
Die vier Männer waren gleichaltrig, alle waren sie Ende fünfzig und etwas beleibt. Sie schienen selbstbewusst und mit sich zufrieden zu sein, und offensichtlich waren sie gewichtige, einflussreiche Personen der Stadt. Man könnte sie stattliche Erscheinungen nennen, mit ihren spitz zulaufenden, reich geschmückten Karnevalshelmen auf dem Kopf wirkten sie weniger lächerlich als vielmehr abgearbeitet, müde und fett.
Nach dem Ende des Tusches begannen die Musiker das nächste Karnevalslied zu spielen, wobei sie mit erhöhter Lautstärke vereinzelte falsche Töne zu kaschieren suchten. Das Prinzenpaar und die vier Männer traten von der das Podest begrenzenden Mauer zurück, einer der Männer schob die Prinzengarde nach vorn, wobei er scheinbar absichtslos die Taillen und Hintern der Mädchen berührte. Die fünf Mädchen standen für einen Moment still, dann begannen sie nach einem Kommando des Funkenmariechens zu tanzen. Sie rissen abwechselnd ihre Beine hoch, so weit es ihnen möglich war, und warfen unentwegt Kusshände in die Menge auf dem Platz. Gelegentlich kam eins der Mädchen aus dem Takt, weil es das Gleichgewicht zu verlieren drohte, dann stellte es sich rasch in der Grundstellung auf und bemühte sich mit hochrotem Gesicht, wieder Anschluss zu bekommen und noch energischer und begeisterter als zuvor Kusshände zu verteilen. Einige Leute auf dem Platz klatschten im Takt, andere winkten den Mädchen zu und riefen ihre Vornamen, um sie auf sich aufmerksam zu machen. Da die Mauerbrüstung nur einen eingeschränkten Blick auf die oben stehenden Mädchen und Männer erlaubte, konnten die Leute auf dem Platz wenig von ihren Beinen sehen, und allein an den Bewegungen der Oberkörper waren die Bemühungen der Prinzengarde zu erraten.
Der Prinz winkte unablässig, ohne einen Blick seiner Karnevalsprinzessin zuzuwenden. Diese lächelte tapfer und wirkte in ihrem prächtigen weißgoldenen Kleid hilflos und verloren. Der Sprecher drängte sich wieder zum Mikrofon und rief etwas, das keiner verstehen konnte, denn die Musik war zu laut. Er nahm das Prinzenpaar in die Arme und schob die beiden zur Treppe. Der Prinz und die Prinzessin gingen die Stufen hinunter. Der junge Mann bot der Prinzessin nicht den Arm an, sie gingen nebeneinander, ohne sich anzufassen oder auch nur anzusehen. Hinter ihnen liefen die Mädchen der Prinzengarde die Treppe hinunter, bei jeder Stufe die Beine hochwerfend, ängstlich besorgt, niemanden anzustoßen, aber auch nicht die Treppenstufen zu verfehlen. Das Funkenmariechen kontrollierte überdies die Bewegungen ihrer Kameradinnen, sie warf Blicke nach rechts und links. Bevor sie die letzte Stufe erreichte, riss sie mit dem linken Fuß die angeklebte Mikrofonleitung von dem steinernen Treppengeländer, das Mikrofon wurde von der Brüstung gerissen und fiel mit einem lauten und von den Lautsprechern übertragenen Scheppern zu Boden, bevor es einer der Männer aufheben und in Sicherheit bringen konnte.
Die Kapelle stellte sich für den Umzug auf. Es gab ein wenig Verwirrung, da zwischen den Musikern und der Freitreppe nicht genügend Platz war für das Prinzenpaar und die Garde der Mädchen. Der Kapellmeister musste erst energisch auf seine Bläser einreden, bevor sich diese ein paar Meter weiter neu ordneten. Die vier Männer waren auf dem Podest geblieben, sie sprachen miteinander. Der Redner hielt das Mikrofon in der Hand und untersuchte es missmutig, um festzustellen, ob es beschädigt war.
Ein Herr mit einem kleinen weinenden Mädchen auf dem Arm kam zu der Treppe, ging ein paar Stufen hinauf und sprach jenen Mann an, der das Prinzenpaar aus dem Rathaus geleitet hatte, der schüttelte den Kopf und bedeutete ihm, im Augenblick für ihn keine Zeit zu haben, da er beschäftigt sei. Der Herr mit dem kleinen Mädchen ließ sich nicht abwimmeln, er ging zwei Stufen höher und erklärte dem Redner, dass das kleine Mädchen seinen Großvater verloren habe und er ihn über das Mikrofon ausrufen möge. Er reichte ihm das Mädchen zu. Der Redner stellte sich mit dem Kind auf dem Arm an die Brüstung, nahm das Mikrofon vor den Mund und rief über den Platz, es werde ein Großvater gesucht, der sich melden möge, um sein Enkelkind abzuholen. Er ließ seinen Blick über die auf dem Platz versammelte Menge gleiten, und da sich niemand bemerkbar machte, fragte er das Kind nach dem Namen des Großvaters. Das Mädchen gab ihm stockend Antwort, und der Mann sagte in das Mikrofon, der Großvater heiße Opa und möge sich bitte umgehend bei ihm melden. Er wandte sich nochmals zu dem Mädchen auf seinem Arm und fragte es, wie es selbst heiße. Da er in Eile war und die verschreckte Kleine zu fordernd und schroff gefragt hatte, presste sie die Lippen aufeinander und verzog das Gesicht, als wolle sie gleich wieder losheulen.
Ein älterer Mann mit einem Kind an der Hand kam auf die Rathaustreppe zu. Er versuchte mit Winken die Aufmerksamkeit des weinerlichen kleinen Mädchens auf sich zu ziehen und so rasch, wie die Trippelschritte des anderen Mädchens, das er an seiner Hand hielt, es ihm erlaubten, zu ihm zu gelangen. Es dauerte einige Augenblicke, ehe die Kleine auf dem Podest ihren herbeieilenden Großvater entdeckte, und mit einem großen Seufzer der Erleichterung begann sie nun hemmungslos zu weinen. Der Redner stellte das Mädchen auf die Füße und schickte, als der Großvater mit dem zweiten Mädchen an der...
Erscheint lt. Verlag | 13.10.2012 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Belletristische Darstellung • Deutschland • Geschichte 1950-2000 • Kinderbuchpreis des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 • Mitteleuropa • Prix du Meilleur livre étranger 2019 • Sachsen • Samuel-Bogumił-Linde-Preis 2019 • Sozialer Aufstieg • ST 3729 • ST3729 • suhrkamp taschenbuch 3729 • Tischler • Vertriebener |
ISBN-10 | 3-518-73295-1 / 3518732951 |
ISBN-13 | 978-3-518-73295-3 / 9783518732953 |
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