Eisnattern (eBook)

Ein Hamburg-Krimi
eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
224 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-41580-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Eisnattern -  Simone Buchholz
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Hamburg, kurz vor Weihnachten. Irgendwer verprügelt Obdachlose, die Männer liegen mal mehr, mal weniger bewusstlos in den Ecken des idyllischen Karolinenviertels. Dann verschwindet ein Teenagerpärchen. Staatsanwältin Chas Riley kriegt währenddessen zweimal Höchststrafe: Urlaub und Besuch von ihrer Mutter. Sie ermittelt trotzdem, findet ein uraltes Labyrinth - und hochmoderne Verwahrlosung.

Simone Buchholz, geboren 1972, wohnt mit Mann und Sohn im Herzen von Hamburg. Mit Staatsanwältin Chastity Riley aus St. Pauli - erster Auftritt in 'Revolverherz' - hat sie eine der spannendsten deutschen Serienheldinnen geschaffen.

Simone Buchholz, geboren 1972, wohnt mit Mann und Sohn im Herzen von Hamburg. Mit Staatsanwältin Chastity Riley aus St. Pauli - erster Auftritt in "Revolverherz" - hat sie eine der spannendsten deutschen Serienheldinnen geschaffen.

21. Dezember:


Männer im Schnee

Wenn man alleine ist und es gibt nichts zu tun, hat man im Grunde nur zwei Möglichkeiten: aus dem Fenster starren wie eine alte Katze oder in die eigenen Abgründe starren.

Beides möchte ich lieber nicht.

Frauen und Katzen, das ist mir zu banal. Und meine inneren Schluchten, die sind wegen gefährlicher Ecken geschlossen, da kommt keiner rein, und ich schon gar nicht, zumindest nicht in den nächsten vierzig Jahren.

Also gehe ich spazieren. Spazierengehen halte ich für eine gute Alternative zum Arbeiten, wenn man nicht morgens um zehn schon das Trinken anfangen will.

Ich bin dann ab jetzt und bis zur Jahreswende die Spaziergängerin von Sankt Pauli. Denn sie haben mich gezwungen, Urlaub zu nehmen. Sie haben gesagt, dass ich als Staatsanwältin ja schließlich Beamtin bin und dass Beamte ihren Urlaub nicht einfach ausfallen lassen können. Wenn das alle machen würden. Dann hätten eben alle weniger Urlaub, habe ich gesagt. Da hat die Frau aus der Personalabteilung mich gefragt, ob ich keine Hobbys hab. Nee, hab ich gesagt, Hobbys sind was für Verdränger, für Leute, die ihre Zeit mit Belanglosigkeiten zukleistern, weil sie nicht wahrhaben wollen, dass jeder von uns nur dieses eine Leben hat und schon morgen tot sein könnte. Die Frau aus der Personalabteilung hat sich geräuspert, und dann hat sie aufgelegt. Wäre sie noch einen Moment länger in der Leitung geblieben, hätte ich ihr erzählt, dass ich gerne zum Fußball gehe, der Fußball nur leider gerade Winterpause hat. Aber das wollte sie offensichtlich nicht hören. Die komische Frau.

Ich hab meine Sachen zusammengepackt, mein Büro in der Staatsanwaltschaft abgeschlossen und den Weg durch den Park genommen. Es ist zehn Uhr. Bis Silvester liegen noch elf Urlaubstage vor mir, die ich mit Anstand rumkriegen muss.

Auf dem Heiligengeistfeld bläst der blanke Hans, ein kalter Winterwind aus Nordost, der hier auf dem riesigen Asphalthandtuch ordentlich Platz zum Tanzen hat. Ist ja ein ziemliches Wunder, so ein freier Platz mitten in der städtischen Wohnungsnot. Keine Ahnung, warum Hamburg sich das leistet. Warum sie da nicht auch endlich mal ein paar Bürotürme oder teure Eigentumswohnungen draufstellen. Machen sie ja sonst überall, wo nur ein Fitzelchen Platz ist. Aber das Heiligengeistfeld fassen sie nicht an. Als wäre da im Rathaus eine Art kollektives Sentiment für den alten Betonplatz. Eine alle Regierungen überlebende zarte Melancholie, die das riesige schiefe Rechteck beschützt, das aus jeder Stimmung in Sekundenschnelle Sehnsucht oder eine Depression machen kann, je nach Tagesform.

Gerade mal drei Monate im Jahr ist es hier pickepacke dicht, läuft hier das große Sich-auf-die-Füße-treten, nämlich dann, wenn Hamburger Dom ist. Der große Rummel, immer vier Wochen am Stück, im Frühling, im Sommer und im Winter. Vorher wird vier Wochen aufgebaut, danach wird vier Wochen abgebaut. Ansonsten ist auf dem Heiligengeistfeld nur ein klein bisschen was los, eigentlich wirklich nicht genug, um so einen leerstehenden Platz zu rechtfertigen. Da kommt vielleicht mal ein Zirkus. Oder irgendein Telefonkonzern oder eine Supermarktkette stellt ein Belustigungszelt auf. Oder es ist Fußballweltmeisterschaft oder Fußballeuropameisterschaft, dann werden natürlich sofort gigantische Leinwände für alle aufgezogen, und es wird getrunken und gepinkelt, und es gibt kein Halten mehr. Ich halte mich vom Heiligengeistfeld fern, wenn es voll ist. Ich mag’s lieber so wie jetzt: frei.

Der böige Wind hat Kraft, er weht von der Seite und wirbelt kleine Schneestaubwolken auf, die in Richtung Millerntorstadion huschen. Da steht die alte Gegengerade, das wackelige Gerüst. Gerade von der Rückseite aus betrachtet, sieht das Ding aus wie ein rostiges Provisorium. Kann man sich gar nicht vorstellen, dass da fünftausend Leute drauf rumgrölen können, ohne dass es auf der Stelle zusammenbricht.

Linker Hand, genau zwischen mir und dem Stadion, versucht ein Mann, sich auf einem der übers ganze Heiligengeistfeld verteilten Stromkästen eine Zigarette zu drehen. Er sieht aus wie ein aus der Zeit gefallener Seemann. Blaue Wollmütze, kariertes Holzfällerhemd, dunkelblaue Marinejacke, zerknülltes Gesicht. So einer kann Wind ab. Sein Tabak kann das aber leider eher schlecht. Klappt nicht so gut mit der Zigarette. Er packt seinen Krempel zusammen, läuft zum nächsten Stromkasten und versucht es da noch mal. Wieder nichts. Langsam wird er maulig, das kann man sehen, sein Gesicht wird immer knülliger. Ich lasse mich vom Wind ein bisschen in seine Richtung treiben, bleibe vor ihm stehen und biete ihm eine von meinen Luckies an.

»Nee, min Deern. Lass mo steck’n. Aber kanns’ mir büschen Schutz geben?«

Seine Stimme klingt wie ein großes, altes Stück Sandpapier.

Ich stelle mich mit dem Rücken zum Wind, mache meinen Mantel auf und breite ihn über dem Stromkasten aus. Der Seemann hat sich in null Komma nix eine astreine Kippe gedreht. Er steckt die Zigarette in den Mundwinkel, tippt mit dem rechten Zeigefinger an seine Wollmütze und stapft davon. Als er auf Höhe des alten Hochbunkers ist, holt er ein Sturmfeuerzeug aus seiner Jackentasche und zündet sich die Zigarette an. Ihr Qualm vermischt sich mit der dünnen Sonne, dem dicken Wind und dem wirbelnden Schneestaub in der Luft. Ich atme tief ein. Es ist kälter geworden in den letzten Tagen. Da kommt ein Wetter aus Russland zu uns herübergekrochen. Nachts schneit es manchmal, vor einer Woche erst ist der Regen in Schnee übergegangen. Es schneit nicht heftig, der Wind weht nur ab und zu einen Sack voller Flocken vor sich her, nur immer mal wieder eine halbe Stunde lang. Auf den Dächern der bombenlöchrigen, zahnlückigen Häuserreihe in der Feldstraße liegt ebenso zahnlückiger Zuckerguss. Auf den Straßen und Gehsteigen tut sich der Schnee tagsüber zu kleinen Grüppchen zusammen. Am Abend zieht er sich dann in die Ecken zurück.

Irgendwer hat hier und da einen Eimer Sand oder Rollsplitt ausgeschüttet, aber meistens genau da, wo es eisfrei ist. An Stellen also, an denen ihn keiner braucht. Die Hamburger sind ja professionelle Pragmatiker und können eigentlich mit allem schnell gut umgehen, aber beim Anblick von Schnee agieren sie immer ziemlich amateurhaft.

Ich überquere die Feldstraße an der Fußgängerampel und biege in die Glashüttenstraße ein, dann lässt der Wind nach. Meine Schultern und mein Nacken entspannen sich, und ich merke, wie mich das Karolinenviertelgefühl überfällt. Es ist, als wäre ich in eine kleine Extrawelt geworfen worden, ein parallel existierendes Stück Stadt, das eine Spur neben dem Rest fährt. So ist das hier immer. Das Karoviertel ist jetzt gar nicht großartig anders als andere Straßenzüge auf Sankt Pauli. Jugendstilhäuser, zugestückelte Bombenlöcher, Kneipen, Cafés, ein paar schicke Läden und ein paar weniger schicke, man kann Klamotten kaufen und Platten, Schuhe und Geschenke, Kaffee und Kakao, alles in alt und in neu. Es sind eher die Kleinigkeiten, die das Karogefühl ausmachen. Besser: das Kleine. Dass es ein abgeschlossenes Viertel ist, in nur fünf oder sechs Straßenzügen. Ein eigener urbaner Organismus. Die Marktstraße ist die Hauptstraße, da ist alles dicht an dicht, da gibt es im Erdgeschoss keinen Meter, der nicht auch ein Schaufenster für was auch immer wäre. Die drei wichtigsten Querstraßen, die Karolinenstraße, die Glashüttenstraße und die Turnerstraße machen’s fast genauso. Eine insgesamt freundliche Mischung aus Neuem und aus Läden, die schon seit über zwanzig Jahren aufhaben. Und jede Bar, jedes Café, liegt es auch noch so mittendrin, tut, als wäre es eine Eckkneipe. Eine bedeutende Eckkneipe an einem wichtigen Platz. Das Karoviertel nimmt sich ernst und hat sich selber lieb. Das ist selten geworden unter zynischen, durchironisierten Großstädtern. Das ist etwas Schönes. Und zu guter Letzt muss man das Karoviertel fast überhaupt nicht verlassen, wenn man hier wohnt. Eigentlich nur dann, wenn man mal zu Budnikowsky will. Der Drogeriemarkt, den es in Hamburg an fast jeder Kreuzung gibt und der mehr eine Stammkneipe als ein Drogeriemarkt ist, ist das Einzige, was man im Karoviertel nicht finden kann. Aber sonst ist hier von allem alles. Ich schwöre.

Und dann noch das Licht, das sie im Karoviertel machen. Das ist hier gelblicher, wärmer, altmodischer als woanders. Ich bin mir fast sicher: Die verwenden heimlich hübschere Glühbirnen. Die importieren sie aus Paris oder Marseille. Außerdem hat das Karoviertel für einsame Spaziergängerinnen wie mich in diesen Tagen einen entscheidenden Vorteil: Weihnachten findet so gut wie nicht statt.

Es sind nur noch vier Tage bis Heiligabend, und das Unbehagen sitzt mir unter der Haut wie eine dünne Schicht zersplitterter Lichterketten. Sticht sich in mein Bewusstsein, egal, in welche Richtung ich mich bewege. Überall in der Stadt treffe ich seit Wochen auf glitzernde Zweige, rührselige Gesichter und zu viel Lametta. An manchen Tagen habe ich das Gefühl, als würde ich von Engeln gejagt. Aber jetzt bin ich schon die ganze Marktstraße langgelaufen und habe noch keinen einzigen Stern, keinen Tannenbaum, kein Rentier und keinen Nikolaus gesehen. Nicht eine kleine Christbaumkugel. Hier scheint sich niemand großartig für das Thema zu interessieren. Keine Ahnung, woran das liegt. Untermauert aber natürlich meine Theorie vom Paralleluniversum Karolinenviertel. Vielleicht kriegen die ja von Weihnachten einfach nichts mit. Auf der anderen Seite des Heiligengeistfelds, in meinem Viertel also, haben alle einen totalen Weihnachtsknall. In diesem Jahr hängt endgültig in jedem Fenster irgendwas, das blinken kann. Oder ein grinsender Weihnachtsmann. Oder ein winkender...

Erscheint lt. Verlag 26.9.2012
Reihe/Serie Ein Fall für Chas Riley
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Bunker • Calabretta • Chas Riley • Chastity Riley • Club • Gewalt gegen Obdachlose • Hamburg Krimi • Hochbunker • Inceman • Jugendbande • Jugendliche • Karolinenviertel • Karoviertel • Klatsche • Krimi deutsche Autoren • Krimi Deutschland • Krimi Hamburg • Krimi Kommissarin • Kriminalromane Serien • krimi reihen • Krimis mit Kommissarin • Krimis von Frauen • Obdachlose • Pesthöfe • Polizei Krimis/Thriller • Simone Buchholz Chas Riley • Simone Buchholz Reihenfolge • Staatsanwältin • St. Pauli • Teenager • Weihnachten
ISBN-10 3-426-41580-1 / 3426415801
ISBN-13 978-3-426-41580-1 / 9783426415801
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 612 KB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Psychothriller

von Sebastian Fitzek

eBook Download (2022)
Verlagsgruppe Droemer Knaur
9,99
Krimi

von Jens Waschke

eBook Download (2023)
Lehmanns Media (Verlag)
9,99
Psychothriller | SPIEGEL Bestseller | Der musikalische Psychothriller …

von Sebastian Fitzek

eBook Download (2021)
Verlagsgruppe Droemer Knaur
9,99