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Lug und Trug (eBook)

Drei exemplarische Erzählungen
eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
265 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-401743-3 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
8,99 inkl. MwSt
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Ein Sohn und seine missglückte Abrechnung mit der Mutter, zwei Paare, die sich von einer gemeinsamen Reise, das eine Paar nach Kanada, das andere nach Indonesien, viel versprechen... Robert Gernhardt entwirft in diesen Geschichten ein Tableau vom Täuschen und Getäuscht werden, erzählt meisterhaft von Lebenslügen und verpassten Chancen.

Robert Gernhardt (1937-2006) lebte als Dichter und Schriftsteller, Maler und Zeichner in Frankfurt am Main und in der Toskana. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Heinrich-Heine-Preis und den Wilhelm-Busch-Preis. Sein umfangreiches Werk erscheint bei S. Fischer, zuletzt »Toscana mia« (2011), »Hinter der Kurve« (2012) und »Der kleine Gernhardt« (2017).

Robert Gernhardt (1937–2006) lebte als Dichter und Schriftsteller, Maler und Zeichner in Frankfurt am Main und in der Toskana. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Heinrich-Heine-Preis und den Wilhelm-Busch-Preis. Sein umfangreiches Werk erscheint bei S. Fischer, zuletzt »Toscana mia« (2011), »Hinter der Kurve« (2012) und »Der kleine Gernhardt« (2017).

Blanket Creek
oder
verwilderte Wünsche


Rita war gerade dabei, in den Museumspark einzubiegen, als ein fremdländisch aussehendes Kind auf sie zutrat, das ihr ein abgegriffenes, mit großen, kaum leserlichen Buchstaben bedecktes Pappschild entgegenhielt. Zugleich blickte es derart flehentlich, daß Rita wieder einmal so verfuhr wie bei vorangehenden Fällen dieser sich in letzter Zeit häufenden Art von Bettelei: Ohne auch nur ein Wort von der vermutlich niederziehenden Leidensgeschichte zu lesen, griff sie anstandslos zu ihrem Portemonnaie, um sich möglichst rasch freizukaufen. Diesmal freilich verzögerte sich dieser Vorgang, da sie ihre Börse nicht an der gewohnten Stelle fand, und während ihre Hand in der Umhängetasche kramte, blickte Rita erst in die großen, dunklen Augen des Kindes, dann, als sie dessen erwartungsvolles Starren nicht mehr aushielt, gedankenverloren auf das Stück Pappe. Da, sie hatte das wohlbekannte Ledertäschchen endlich an ganz ungewohnter Stelle ertastet, geöffnet und suchte gerade nach kleinerer Münze, wurde ihr plötzlich bewußt, daß ihr Blick auf das Gekrakel nicht folgenlos geblieben sein konnte, zu deutlich sah sie Teile des Geschriebenen vor sich, Buchstabenfolgen, die sich unversehens zu ganzen Wörtern formten und sich wie U HELFEN U HUNGE U SCHAISHUNGE U SCHAISASCHSCHAIS ausnahmen. Ob diese Lesart zutraf, war freilich nicht mehr festzustellen. Das Kind hatte das Pappschild bereits sinken lassen, nun griff es rasch nach der Münze, und Rita wagte es nicht, auf nochmaliger Lektüre zu bestehen. Als sie kurz darauf den Park betrat, kam ihr der Vorgang bereits unglaubwürdig vor, als sie auf das Museumscafé zuging, schien es ihr ganz und gar unglaublich.

Da sie sich etwas verspätet hatte, erwartete sie, bereits beide Freundinnen anzutreffen, doch lediglich saß Carla an einem der Tische im Halbschatten der Pergola, ein Glas Weißwein vor sich und den Blick auf etwas gesenkt, das sie in der Hand hielt. Rita vermeinte, Wehmut, ja Kummer im Gesicht der Freundin wahrzunehmen, und zögerte, näher zu treten. Bis zu diesem Augenblick hatte sie geglaubt, sich auf einen etwas allzu faktenreichen Bericht über hochexemplarische Ferien- und Wildnisabenteuer einstellen, ja sich gegen sie wappnen zu müssen, unvermutet schwante ihr, sie könnte hier auch als Trösterin benötigt und gefordert werden. Doch sogleich meldeten sich Zweifel. Solange sie Carla kannte, seit fünfzehn Jahren mittlerweile, hatte die zwar stets ein Publikum, nie aber Trost gebraucht. Wie zum Beweis begann Carla unvermittelt zu lächeln, ja zu lachen. Noch immer blickte sie auf den Tisch, doch als Rita sich räuspernd näher trat, sah sie den Grund: Vor der Freundin lag ein Stapel Fotos.

»Oh! Rita!«

»Bleib sitzen, Carla!«

Ihre Umarmung verhedderte sich ein wenig, da Rita es nicht dulden wollte, daß Carla aufstand, Carla aber zugleich darum bemüht war, einen der Plastikstühle für Rita freizuräumen; vorausschauend hatte sie Tasche und Kleidungsstücke auf alles verteilt, was den Tisch umstand. Dann, immer noch lachend und so unvermittelt, als sei dies kein Wiedersehn nach Monaten, sondern lediglich die Fortsetzung eines bereits länger geführten Gesprächs, hielt Carla ein Foto hoch: »Und was siehst du hier drauf?«

»Eine Art Autobahn«, erwiderte Rita, »und Wald. Und Berge.«

»Und was noch?« fragte Carla.

»Hinten ein haltendes Auto. Vorn einen Mann von hinten, der die Straße entlangblickt. Ist das Kanada?«

»Rita! Das ist doch Gerd!« sagte Carla. »Und was sieht Gerd?«

»Das Auto?« fragte Rita zögernd.

»Die Schneeziegen!« korrigierte Carla mit gespielter Strenge. »Siehst, Rita, du die Schneeziegen nicht?« Mit hämmerndem Zeigefinger wies sie auf zwei weiße Fleckchen vor dem dunklen Saum der Nadelbäume, zwei bei näherem Hinsehen tierähnliche Umrisse, die augenscheinlich dabei waren, die Straße zu überqueren. »Rita! Du mußt doch die Schneeziegen sehen! Gerd hat sie gesehen, ich habe sie gesehen, vor allem aber Gerd. Jetzt sag du bitte nicht, daß du sie nicht sehen kannst. Schließlich ist das hier ein absoluter Qualitätsschnappschuß nach allen Regeln der Fotokunst. ›Hast du Tele, hast du Tele?‹ waren Gerds ständige Worte, und natürlich hatte ich immer Tele. Das Ergebnis: ein gestochen scharfes Schneeziegenbild. Oder etwa nicht, Rita? Du bist die erste, der ich diese Frage stelle, da ich selber diese Bilddokumente erst vor einer halben Stunde vom Entwickeln abgeholt habe. Um so wichtiger ist dein Urteil: Schneeziegen ja oder nein? Rita! Laß mich jetzt nicht im Stich! Du siehst doch Schneeziegen?«

Halbherzig nickte die Angesprochene, fast bereitwillig schickte sie sich in ihr Los, diesmal als Trösterin fungieren zu müssen, doch vorerst kam es anders. Mitten in Carlas besorgniserregend monotone Schneeziegenlitanei nämlich war Vera getreten, hatte sich unter Hinweis auf eine komplizierte Ausstellungsvorbereitung dafür entschuldigt, daß sie erst jetzt komme, hatte sodann nach einem Blick auf das Foto festgestellt »Dick ist er geworden, dein Gerd« und schließlich zwischen Carla und Rita Platz genommen, die Arme um die Schultern der beiden Freundinnen gelegt und mit einer Art demonstrativer Inbrunst die Worte ausgestoßen: »Nun ist sie also wieder mal komplett vertreten, die Trias.«

Die Freundinnen lachten, und Rita spürte, wie all ihre Vorbehalte gegen dieses Treffen von schierer Sympathie weggeschwemmt wurden. Hatte sie noch auf dem Weg zum Café Zweifel daran gehabt, ob die bereits fast zum Ritual gewordene Fortsetzung einer zu Universitätszeiten begonnenen und auf gemeinsame Studien gegründeten Freundschaft überhaupt sinnvoll sei, so belegte die Bewegung, die Veras Worte in ihr auslösten, wieviel ihr diese Treffen immer noch bedeuteten. Dabei hatten ursprünglich nicht Gefühle, sondern Interessen die drei zusammengeführt. Alle nämlich waren Studentinnen der Kunstgeschichte gewesen, Seminare, Exkursionen und Projekte hatten sie zuerst sporadisch, dann immer häufiger und schließlich ständig zusammenarbeiten lassen, wobei diese fortschreitende Verbindung der drei ihren Niederschlag auch in einem Gruppennamen gefunden hatte. Der, von Vera aufgebracht und von den beiden anderen mit Beifall akzeptiert, verband die unspektakuläre Tatsache einer Dreiergruppe auf elegante Weise mit dem nicht alltäglichen Faktum, daß die Namen aller drei Gruppenmitglieder auf A auslauteten – eine schlagende Benennung, die auch für Außenstehende zum Begriff geworden war. »Heute trifft sich die Trias«, hatte Rita ihrem Mann beim Frühstück mitgeteilt.

»Na, dann viel Spaß, und grüß die beiden anderen«, war seine Antwort gewesen.

Es hatte nicht lange gedauert, und die Trias war für die drei Studentinnen mehr als nur eine Arbeitsgemeinschaft geworden. Bald fungierte sie als Schutz- und Trutzbündnis in einer feindlichen Welt, wobei Vera die Freundinnen davon überzeugt hatte, daß es vor allem gelte, die, wie sie mit kaum merkbarer Ironie sagte, »Feindin in den eigenen Brüsten« zu bekämpfen, die frauliche Opferbereitschaft und das weibliche Anlehnungsbedürfnis, welche unweigerlich Identitätskrisen, Ichverlust und, als Tiefpunkt, Schuldzuweisungen an die Adresse der Männer zur Folge hätten. »Frauen gemeinsam sind schwach«, lautete einer ihrer Lieblingssätze. Der hatte es natürlich auf Widerspruch abgesehen, beispielsweise den, wieso sie dann fast unausgesetzt mit zwei anderen Frauen zusammen sei. Darauf pflegte sie zu antworten: »Charakter ist nur Eigensinn, es lebe die Zigeunerin!«

Dabei war sie es gewesen, die der Gruppe nicht nur Ziele vorgeschrieben, sondern auch Regeln verordnet hatte. Eine Zeitlang war unter den dreien jedwedes Sichbeklagen derart verpönt, daß bereits der Ansatz eines Lamentos über männlichen Wankelmut oder weibliche Unzulänglichkeit mit einer Buße von einer Mark bestraft wurde, zahlbar sofort in die Jammerkasse. Davon wiederum wurde der Prosecco bezahlt, der die abendlichen Studien erleichterte, ehrgeizige und arbeitsreiche Sitzungen mit eigener Themenstellung, speziellen Literaturlisten und individuell ausgearbeiteten Kurzreferaten, alles Belege eines Fortbildungseifers, welcher der Trias unter Kommilitonen dieser nicht gerade arbeitswütigen Epoche deutschen Universitätslebens die Bezeichnung »Drei Aas« eingetragen hatte. Und auch dadurch brachen Rita, Carla und Vera mit den Gepflogenheiten jener Jahre, daß sie weder zusammenlebten noch jemals erwogen, zusammenzuziehen. Wieder war es Vera gewesen, die diese Normabweichung auf eine Formel gebracht hatte: »Aus den Augen, in den Sinn.«

Bei solch arbeitsorientierter Lebensweise hatte es nicht ausbleiben können, daß die Trias Klausuren und Magisterarbeiten mit einiger Bravour bewältigte, dann freilich hatten die drei Frauen unterschiedliche Karrieren eingeschlagen, wobei die Ritas ohne Zweifel die glanzloseste gewesen war. Noch bevor ihre halbherzigen Pläne, den Doktor zu machen, Kontur annehmen konnten, hatte sie geheiratet und in rascher Folge zwei Kindern das Leben geschenkt, seither gab sie ihren Beruf mit »Hausfrau« an.

Da war aus Carla schon mehr geworden, eine Oberstudienrätin, ebenfalls verheiratet, jedoch kinderlos, die allerdings auch nicht bis zum Doktorexamen durchgehalten hatte. Das war allein Vera gelungen, ohne daß die freilich den Freundinnen einen Vorwurf daraus gemacht hätte, nicht bei der Stange geblieben zu sein. »Erstes Gebot: Du sollst dir keine Gebote machen«, lautete einer ihrer Merksätze, und als Rita ihr fast verschämt gestanden hatte, daß sie ihr Studium abbrechen werde, da sie schwanger sei, war Vera jeder weiteren Peinlichkeit mit den Worten zuvorgekommen: »Aber Rita, wie herrlich! Du weißt doch: Wo wir sind, ist vorn,...

Erscheint lt. Verlag 26.9.2012
Reihe/Serie Fischer Klassik Plus
Fischer Klassik Plus
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Erzählungen • Humor • Indonesien • Kanada • Lebenslüge • Neue Frankfurter Schule • Satire • Täuschung • Titanic • Trug
ISBN-10 3-10-401743-3 / 3104017433
ISBN-13 978-3-10-401743-3 / 9783104017433
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