Kindersucher (eBook)

Kriminalroman

(Autor)

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2012 | 2. Auflage
445 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-0470-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kindersucher - Paul Grossman
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Kinder des Zorns.

Willi Kraus ist der beste Ermittler in Berlin. Als Jude jedoch wird er von seinen Vorgesetzten schikaniert. Als in Berlin immer mehr Kinder verschwinden und an dunklen Orten seltsame Knochen auftauchen, beginnt Kraus zu ermitteln. Buchstäblich im Untergrund der Stadt findet er eine heiße Spur. Dann aber entzieht man ihm den Fall und protegiert einen anderen Polizisten, der sich als Anhänger einer neuen, angeblich patriotischen Partei erweist. Für Kraus wird die Luft im Präsidium immer dünner. Juden gelten plötzlich wieder als Vaterlandsverräter. Doch dann wird der Mordfall immer monströser - und seinen Vorgesetzten bleibt nichts anderes übrig, als Kraus zurückzuholen ...

Ein Blick in die Abgründe Berlins zum Ende der 1920er Jahre - ein unglaublicher Kriminalfall im Berlin der Wirtschaftskrise.



Paul Grossmann ist Journalist und arbeitete für Magazine wie »Vanity Fair«. Außerdem hat er erfolgreiche Theaterstücke geschrieben, u. a. über Hannah Arendt sowie den Eichmann-Prozess.Im Aufbau Taschenbuch Verlag liegen seine Kriminalromane mit dem Ermittler Kraus vor: 'Schlafwandler', 'Kindersucher' und 'Schattenmann'.

Zwei


Sie rissen den Alex auf. Nach zwei Jahrhunderten unkontrollierten Wachstums wurde in das Gewirr von Straßen, die den alten, kommerziellen Mittelpunkt etwas östlich vom Stadtzentrum bildeten, Ordnung gebracht. Der Alexanderplatz mit seinen Hotels und Kaufhäusern, berühmten Restaurants und dem albtraumhaften Verkehr sollte ein »architektonisch kohärenter« Platz werden, mit ungehindert fließendem Verkehr auf verschiedenen Ebenen und hellen, modernen Gebäuden. Bis es allerdings so weit war, herrschte blankes Chaos. Presslufthammer. Bagger. Pfahlrammen, die unablässig krachten. Kraus musste sich die Ohren zuhalten. Die Fußgänger wurden gezwungen, über schmale, provisorische Bretterwege zu gehen, und hatten Mühe, dem Verkehr von Fahrrädern, Autos und Lastwagen auszuweichen, der ebenfalls über verstopfte Umleitungen geführt wurde. Der Weg zum Paradies führte eindeutig durchs Fegefeuer. Selbst am Samstagmorgen.

Als er das Ende der Königsstraße erreichte, schien die Luft unter der Wucht der Abrissbirnen zu erzittern. Vom Grandhotel, in dem sein Großvater 1911 seinen achtzigsten Geburtstag gefeiert hatte, standen nur noch die letzten Grundmauern. Das Haus »Zum Hirschen«, dessen Speisesaal neunundneunzig Hirschschädel geschmückt hatten, war bereits dem Erdboden gleichgemacht. Dort hatte sein Cousin Kurt sein Hochzeitsdinner veranstaltet. Ein legendäres Gestern wurde für ein durchgeplantes Morgen pulverisiert. Als sich Kraus durch die Massen von frühen Einkaufsbummlern den Weg bahnte, bedauerte er nur, dass das Polizeipräsidium nicht ebenfalls auf der Abrissliste gestanden hatte. Dessen abweisende Fassade und hässliche Kuppeln überragten die ganze südöstliche Seite des Alex wie ein gestrandeter Wal. Sechs Stockwerke, 605 Räume; das nach dem Königspalast und dem Reichstag drittgrößte Gebäude in Berlin, dessen ursprünglich blutrote Farbe unter dem jahrzehntealten Ruß kaum noch zu erkennen war. Als er das schwere, schmiedeeiserne Tor von Eingang Sechs erreichte, war er jedoch dankbar, dass er es soweit gebracht hatte. Viele Beamte schafften es niemals, nicht einmal die besten. Selbst nach unzähligen Dienstjahren.

Kraus fuhr mit dem Aufzug, einem Gitterkäfig aus Messing, hinauf, zusammengepfercht mit einem Dutzend anderer Beamten, die zur Achtuhr-Schicht antraten. Kraus räumte ein, dass er wahrlich nicht der aussichtsreichste Kandidat für die Berliner Polizei gewesen war. Seine Eltern, mochten sie in Frieden ruhen, hätten sich das ganz gewiss niemals träumen lassen. Ein jüdischer Kriminalbeamter? Wer hatte denn so etwas je gehört? Seit Jahrhunderten fanden sich die Juden stets am falschen Ende eines Gummiknüppels wieder. Aber diese Tage waren vorbei, davon war Kraus überzeugt. Und er liebte seine Arbeit wirklich. Er glaubte an die Justiz und das Gesetz. Was zutiefst jüdisch war, soweit er das begriff. Auch wenn es keinen großen Unterschied machte.

Selbstverständlich schämte er sich seiner Herkunft nicht, aber er betrachtete sie auch nicht unbedingt als den Grundpfeiler seiner Identität. Er feierte liebend gern die traditionellen Feiertage mit den Kindern, entzündete zum Beispiel Kerzen zu Hanukkah. Das Seder, das Essen zum Passahfest, auch wenn sie es recht liberal gestalteten. Er liebte es, Bücher über die ungeheuren Errungenschaften seines Volkes zu lesen und seinen langen, tränenreichen Weg. Aber im alltäglichen Leben des modernen Berlin bedeutete sein Judentum für ihn kaum etwas.

Die Mordkommission befand sich im obersten Stockwerk. Kraus’ Schreibtisch stand direkt an einem Fenster. Von seinem Stuhl aus konnte er den halben Alexanderplatz überblicken. Sogar den ganzen, wenn er aufstand. Dann begriff er auch den Gesamtplan. Die neue U-Bahn-Station, die mit dem höher gelegenen Bahnhof verbunden sein würde, unter der neuen Verkehrsinsel, von der aus sich der Verkehrsfluss auf fünf große Straßen verteilte.

»Guten Morgen, Herr Kriminalsekretär.«

Frau Garber, die Sekretärin der Abteilung, war mit ihrem hölzernen Wägelchen aufgetaucht. Sie war eine schlanke, begehrenswerte Großmutter in den Vierzigern und eine der wenigen Leute auf diesem Stockwerk, die ihm nicht die kalte Schulter zeigte. Mehr als zwei Jahre nach Kraus’ Beförderung von Wache 157 in Wilmersdorf zur Mordkommission war er immer noch der Aussätzige der Abteilung. Und seine Kollegen machten ihm auf alle möglichen Arten klar, dass er genau das auch bleiben würde.

»Übrigens hat Dr. Hoffnung angerufen.« Sie schenkte ihm Kaffee aus einer dampfenden Kanne ein und lächelte. »Er lässt Ihnen ausrichten, er wäre dann so weit.« Sie hielt ihm eine Tasse Kaffee hin, genauso wie er ihn mochte, schwarz mit einem Hauch von Zucker. »Das sind neue Bohnen, aus Brasilien.«

»Ihr Kaffee ist einfach der beste, Frau Garber.«

»Mittlerweile ist es Ihnen wohl gestattet, mich Ruta zu nennen, Herr Kriminalsekretär.«

Dr. Hoffnung war einer der kompetentesten Spezialisten, denen Kraus im Präsidium begegnet war. Der Rechtsmediziner war unverblümt und vollkommen gelassen, normalerweise jedenfalls. An diesem Morgen jedoch wirkte der Doktor verstört, das sah Kraus sofort.

»Das ist einer der sonderbarsten und, wie ich mich nicht scheue zu sagen, grauenvollsten Fälle, die mir in meinen zwanzig Jahren untergekommen sind.« Hoffnung schob sich eine schwarze Pfeife zwischen die Zähne. Er knurrte und riss ein Laken zurück. Kraus schnürte sich die Kehle zu. In einer Reihe lagen auf dem Edelstahltisch der Jutesack und die unterschiedlichen Knochen.

»Es macht mir wirklich keine Freude, berichten zu können, dass meine ursprüngliche Einschätzung korrekt war.« Die Pfeife des Doktors hing herunter, während er mit finsterem Blick die sauberen weißen Überreste fixierte. »Es sind die Knochen von Jungen. Insgesamt fünf Jungen im Alter zwischen neun bis vierzehn. Es ist unmöglich, den genauen Todeszeitpunkt festzulegen. Aber«, er streifte sich Baumwollhandschuhe über, »es gibt ein höchst aufschlussreiches Detail.« Vorsichtig öffnete er die ruinierte Bibel und deutete mit seinem Pfeifenstiel auf das immer noch entzifferbare Veröffentlichungsdatum. Berlin. 1929. »Also muss diese ›Bestattung‹«, er zuckte mit den Schultern, »wenn man das so bezeichnen kann, innerhalb der letzten neun Monate stattgefunden haben. Der Sack wurde von der Firma Schnitzler und Sohn hergestellt. Die Fasern enthalten immer noch Reste von Tierfutter. Wahrscheinlich waren die Knochen für Rinder bestimmt, möglicherweise auch für Ziegen oder Schweine, das kann ich nicht sagen. Ich bin kein Bauer. Es sieht jedenfalls so aus.« Hoffnung nahm eine Pinzette und hob ein Korn hoch, damit Kraus es inspizieren konnte. Kraus war ebenfalls kein Bauer.

»Und womit genau waren die Knochen nun zusammengebunden?«

»Es sind Sehnen, schon richtig.« Hoffnung zog einen ledernen Beutel aus seinem Laborkittel. »Aber sie stammen ... nicht von Tieren. Sondern es sind, vermute ich jedenfalls«, er seufzte, schob die Pfeife in den Beutel und füllte den Kopf bedächtig mit Tabak, »Sehnen, die einmal an diesen Knochen befestigt waren. Sie wurden getrocknet und mit der Hand gesponnen, wie ein Strick. Wer auch immer das gemacht hat, ist ein ausgezeichneter Handwerker.«

Kraus überkam ein Frösteln. Menschliche Sehnen zu Fäden gesponnen?

»Das ist noch nicht alles.« Hoffnung klopfte eifrig seine Taschen ab. »Diese Knochen wurden, ein besseres Wort fällt mir nicht ein«, Erleichterung zuckte über sein Gesicht, als er seine Streichhölzer fand, »gekocht.«

Kraus schnürte sich die Kehle zusammen. Wie damals, während des Krieges, wenn die Gasgranaten fielen.

»Ich konnte nicht auch nur ein mikroskopisch kleines Stückchen Gewebe an ihnen finden.« Die Flamme des Streichholzes zitterte, als der Doktor seine Pfeife entzündete. »Und es gibt nur eine Möglichkeit, Knochen so sauber zu bekommen, Herr Kriminalsekretär.« Hoffnungs Augen wurden dunkler, als er an der Pfeife paffte. »Man muss sie kochen.« Sein Gesicht verschwand hinter einer Rauchwolke. »Und zwar etliche Stunden.«

Die Pfahlramme hämmerte Balken in den schlammigen Berliner Untergrund. Kraus hatte das Gefühl, sie würden ihm in den Schädel gerammt. Von seinem Schreibtisch aus sah er die offene Grube auf der anderen Straßenseite, wo die Haltestelle der Untergrundbahn allmählich Gestalt annahm. Irgendwann würden alle Schichten des Verkehrs auf dem Alexanderplatz so raffiniert organisiert sein, dass keine einzige Linie die andere auf derselben Ebene kreuzte. Wie komplex war wohl der Verstand einer Person, die das Fleisch von Kinderknochen kochte?

Er kippte mit dem Stuhl nach hinten, eine nicht ungefährliche Kindheitsmarotte.

Man hatte nicht nur das Fleisch gekocht, sondern die Sehnen getrocknet und sie mit der Hand zu »Fäden« gesponnen. Und mit diesen Fäden hatte man die Knochen zu einem Arrangement gebunden. Diese Arrangements wurden dann in einen Jutesack gestopft ... zusammen mit einer Bibel. Was bewegte jemanden zu einem solchen Verhalten? Was für ein Mensch dachte sich so etwas aus? Konnte man so jemanden überhaupt einen Menschen nennen?

Er richtete sich auf und legte seine Hand auf den schwarzen Telefonhörer. Er hatte gerade mit Schnitzler & Sohn telefoniert. Die Spur war kalt. Man hatte ihm gesagt, dass man Futter für alle möglichen Tiere in ihre Säcke füllen könnte. Und sie hatten Kunden in ganz Norddeutschland.

Er schrak zusammen, als seine Gegensprechanlage summte. »Vergessen Sie das Mittagessen nicht, Herr Kriminalsekretär«, erinnerte ihn Frau Garber – Ruta. »Um...

Erscheint lt. Verlag 13.9.2012
Reihe/Serie Kommissar Kraus ermittelt
Übersetzer Wolfgang Thon
Sprache deutsch
Original-Titel Children of Wrath
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte 1920er • 20er Jahre • Antisemitismus • Babylon Berlin • Berlin • Berlin Babylon • Deutschland • Entführung • Ermittler • Ermittlung • Geschichte • Historischer Kriminalroman • Judentum • Kindesentführung • Krimi • Kriminalroman • Mord • Polizei • Roman • Verschwörung • Volker Kutscher • Willi Kraus
ISBN-10 3-8412-0470-8 / 3841204708
ISBN-13 978-3-8412-0470-7 / 9783841204707
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