Ästhetik des Performativen (eBook)

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2012 | 1. Auflage
378 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-78540-9 (ISBN)

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Ästhetik des Performativen -  Erika Fischer-Lichte
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Spätestens seit den 60er Jahren lassen sich zeitgenössische Kunstwerke nicht mehr in den Begriffen herkömmlicher Ästhetiken erfassen. Anstatt 'Werke' zu schaffen, bringen die Künstler zunehmend Ereignisse hervor, die in ihrem Vollzug die alten ästhetischen Relationen von Subjekt und Objekt, von Material- und Zeichenstatus außer Kraft setzen. Um diese Entwicklung nachvollziehbar zu machen, entwickelt Erika Fischer-Lichte in ihrer grundlegenden Studie eine Ästhetik des Performativen, die den Begriff der Aufführung in den Mittelpunkt stellt. Dieser umfaßt die Eigenschaften der leiblichen Kopräsenz von Akteuren und Zuschauern, der performativen Hervorbringung von Materialität sowie der Emergenz von Bedeutung und mündet in eine Bestimmung der Aufführung als Ereignis. Die Aufhebung der Trennung von Kunst und Leben, welche die neueren Ausdrucksformen anstreben, wird hier ästhetisch auf den Begriff gebracht.

<p>Erika Fischer-Lichte, geboren 1943 in Hamburg, ist eine Theaterwissenschaftlerin, deren Forschungsschwerpunkte auf &Auml;sthetik und Kunsttheorie, Theorie und Geschichte des Theaters, &Auml;sthetik des Gegenwartstheaters sowie Verflechtungen von Theaterkulturen liegen. Seit 1996 ist sie Professorin am Institut f&uuml;r Theaterwissenschaft der Freien Universit&auml;t Berlin. Erika Fischer-Lichte wurde mehrfach ausgezeichnet, so mit der Ehrendoktorw&uuml;rde der Universit&auml;t Kopenhagen (2006), mit dem Berliner Wissenschaftspreis (2010). Au&szlig;erdem ist sie seit 2018 Mitglied der American Academy of Arts and Sciences.</p>

Cover 1
Informationen zum Buch/Inhalt 2
Impressum 4
Inhalt 5
Erstes Kapitel: Begründung für eine Ästhetik des Performativen 9
Zweites Kapitel: Begriffsklärungen 31
1. Der Begriff des Performativen 31
2. Der Begriff der Aufführung 42
Drittes Kapitel: Die leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern 58
1. Rollenwechsel 63
2. Gemeinschaft 82
3. Berührung 101
4. »Liveness« 114
Viertes Kapitel: Zur performativen Hervorbringung von Materialität 127
1. Körperlichkeit 129
– Verkörperung/embodiment 130
– Präsenz 160
– Tier-Körper 176
2. Räumlichkeit 187
– Performative Räume 188
– Atmosphären 200
3. Lautlichkeit 209
– Hör-Räume 214
– Stimmen 219
4. Zeitlichkeit 227
– Time brackets 228
– Rhythmus 232
Fünftes Kapitel: Emergenz von Bedeutung 240
1. Materialität, Signifikant, Signifikat 243
2. »Präsenz« und »Repräsentation« 255
3. Bedeutung und Wirkung 262
4. Lassen sich Aufführungen verstehen? 270
Sechstes Kapitel: Die Aufführung als Ereignis 281
1. Autopoiesis und Emergenz 284
2. Einstürzende Gegensätze 294
3. Liminalität und Transformation 305
Siebtes Kapitel: Die Wiederverzauberung der Welt 315
1. »Inszenierung« 318
2. »Ästhetische Erfahrung« 332
3. Kunst und Leben 350
Zitierte Literatur 363
Ton- und Filmdokumente 378

Zweites Kapitel
Begriffsklärungen


1. Der Begriff des Performativen


Der Begriff »performativ« wurde von John L. Austin geprägt. Er führte ihn in den Vorlesungen, die er 1955 an der Harvard Universität unter dem Titel How to do things with Words hielt, in die Sprachphilosophie ein. Die Prägung des Begriffs fällt also ungefähr in dieselbe Zeit, in der ich die performative Wende in den Künsten lokalisiert habe. Während Austin in früheren Arbeiten versuchsweise den Terminus »performatorisch (performatory)« verwendet hatte, entschied er sich nun für den Ausdruck »performativ«, weil er »kürzer, nicht so häßlich, leichter zu handhaben und traditioneller gebildet ist.«1 In seinem ein Jahr später entstandenen Aufsatz »Performative Äußerungen« schreibt er über seine Neuschöpfung: »Es ist durchaus verzeihlich, nicht zu wissen, was das Wort performativ bedeutet. Es ist ein neues Wort und ein garstiges Wort, und vielleicht hat es auch keine sonderlich großartige Bedeutung. Eines spricht jedenfalls für dieses Wort, nämlich daß es nicht tief klingt.«2 Er leitete den Ausdruck vom Verb »to perform«, »vollziehen« ab: »man ›vollzieht‹ Handlungen«.3

Austin bedurfte seines Neologismus, weil er eine für die Sprachphilosophie revolutionäre Entdeckung gemacht hatte – die Entdeckung, daß sprachliche Äußerungen nicht nur dem Zweck dienen, einen Sachverhalt zu beschreiben oder eine Tatsache zu behaupten, sondern daß mit ihnen auch Handlungen vollzogen werden, daß es also außer konstativen auch performative Äußerungen gibt. Die Eigenart dieser zweiten Art von Äußerungen erläutert er unter Bezug auf die sogenannten ursprünglichen Performativa. Wenn jemand beim Wurf der Flasche gegen einen Schiffsrumpf den Satz äußert: »Ich taufe dieses Schiff auf den Namen ›Queen Elizabeth‹« oder der Standesbeamte nach der Bekundung beider Partner, daß sie miteinander die Ehe eingehen wollen, den Satz spricht: »Hiermit erkläre ich Sie zu Mann und Frau«, so ist mit diesen Sätzen nicht ein bereits bestehender Sachverhalt beschrieben – weswegen sie auch nicht als »wahr/richtig« oder als »falsch« klassifiziert werden können. Vielmehr wird mit diesen Äußerungen ein neuer Sachverhalt geschaffen: Das Schiff trägt von nun an den Namen ›Queen Elizabeth‹, und Frau X und Herr Y sind von nun an ein Ehepaar. Das Aussprechen dieser Sätze hat die Welt verändert. Denn die Sätze sagen nicht nur etwas, sondern sie vollziehen genau die Handlung, von der sie sprechen. Das heißt, sie sind selbstreferentiell, insofern sie das bedeuten, was sie tun, und sie sind wirklichkeitskonstituierend, indem sie die soziale Wirklichkeit herstellen, von der sie sprechen. Es sind diese beiden Merkmale, die performative Äußerungen charakterisieren. Was Sprecher von Sprachen intuitiv immer schon gewußt und praktiziert haben, wurde hier für die Sprachphilosophie zum ersten Mal formuliert: daß Sprechen eine weltverändernde Kraft entbinden und Transformationen bewirken kann.

Zwar handelt es sich in den zitierten Fällen um formelhaftes Sprechen. Aber allein die Anwendung der richtigen Formel garantiert noch nicht das Gelingen der Äußerung als einer performativen. Dazu müssen eine Reihe anderer, nicht sprachlicher Bedingungen erfüllt sein; andernfalls mißglückt sie und bleibt leeres Gerede. Wenn zum Beispiel der Satz »Ich erkläre Sie zu Mann und Frau« weder von einem Standesbeamten noch von einem Priester noch von einer anderen hierzu ausdrücklich autorisierten Person – wie dem Kapitän auf hoher See – ausgesprochen oder in einer Gemeinschaft geäußert wird, die ein anderes Verfahren für die Eheschließung vorsieht, so ist er außerstande, eine Ehe zu stiften.

Bei den Gelingensbedingungen, die erfüllt sein müssen, handelt es sich entsprechend nicht nur um sprachliche, sondern vor allem um institutionelle, um soziale Bedingungen. Die performative Äußerung richtet sich immer an eine Gemeinschaft, die durch die jeweils Anwesenden vertreten wird. Sie bedeutet in diesem Sinne die Aufführung eines sozialen Aktes. Mit ihr wird die Eheschließung nicht nur ausgeführt (vollzogen), sondern zugleich auch aufgeführt.

Im weiteren Verlauf seiner Vorlesungen läßt Austin allerdings den einleitend aufgebauten Gegensatz von Konstativa und Performativa kollabieren und schlägt statt dessen eine Dreiteilung in lokutionäre, illokutionäre und perlokutionäre Akte vor. Damit will er den Nachweis führen, daß Sprechen immer Handeln ist – weswegen auch Feststellungen glücken oder mißglücken und performative Äußerungen wahr oder falsch sein können.4 So läßt Austin die von ihm getroffene Unterscheidung zwischen performativ und konstativ mißglücken. Wie Sibylle Krämer gezeigt hat, kann die Inszenierung dieses Scheiterns durch Austin als ein Exempel begriffen werden, mit dem »die Anfälligkeit aller Kriterien und das Ausgesetztsein aller definitiven Begriffe für die Unentscheidbarkeiten, die Unwägbarkeiten und Vieldeutigkeiten, die mit dem wirklichen Leben verbunden sind«,5 demonstriert wird. Damit lenkt Austin den Blick darauf, daß es gerade das Performative ist, welches eine Dynamik in Gang setzt, »die dazu führt, das dichotomische begriffliche Schema als ganzes zu destabilisieren«.6

Dieser Aspekt ist für eine Ästhetik des Performativen von besonderem Interesse. Denn wie sich an den einleitend angeführten Performances, Aktionen und anderen Aufführungen gezeigt hat, sind es gerade dichotomische Begriffspaare wie Subjekt/Objekt oder Signifikant/Signifikat, die hier ihre Polarität und Trennschärfe verlieren, in Bewegung geraten und zu oszillieren beginnen. Auch wenn Austin – aus guten Gründen – das dichotomische Begriffspaar konstativ/performativ zum Scheitern bringt, läßt dies doch keineswegs die Definition fragwürdig werden, die er unter Bezug auf die ursprünglichen Performativa vom Begriff des Performativen gegeben hat: nämlich daß dieser (Sprech-)Handlungen meint, die selbstreferentiell und wirklichkeitskonstituierend sind und als solche aufgrund vor allem institutioneller und sozialer Bedingungen glücken oder mißglücken können (wobei ihr Scheitern für Austin offensichtlich den attraktiveren Fall darstellte, wie seine ausführlich und detailliert abgehandelte Lehre von den Unglücksfällen suggeriert). Als weiteres Merkmal könnte man daher die Fähigkeit des Performativen anführen, dichotomische Begriffsbildungen zu destabilisieren, ja zum Kollabieren zu bringen.

Austin verwendet den Begriff des Performativen ausschließlich im Zusammenhang mit Sprechhandlungen. Nun schließt seine Definition des Begriffs keineswegs aus, ihn auch auf körperliche Handlungen anzuwenden, wie sie in Lips of Thomas vollzogen wurden. Im Gegenteil, eine solche Anwendung drängt sich geradezu auf. Denn wie ich gezeigt habe, handelt es sich hier in der Tat um Handlungen, die selbstreferentiell sind und Wirklichkeit konstituieren (was Handlungen letztlich immer tun) und dadurch imstande sind, eine – wie auch immer geartete – Transformation der Künstlerin und der Zuschauer herbeizuführen. Aber wie verhält es sich hier mit dem Kriterium des Glückens oder Scheiterns? Ganz offensichtlich hat die Künstlerin wirklich zu viel Honig und Wein zu sich genommen, sich mit Rasierklinge und Peitsche tatsächlich verletzt. Ebenso offensichtlich setzten die Zuschauer Abramovi?s Qual ein Ende, als sie die Performerin von dem Kreuz aus Eisblöcken herunterholten. Aber war damit die Performance gelungen oder gescheitert? Was sind die institutionellen Bedingungen, deren Erfüllung oder Nichterfüllung uns berechtigt, die Aufführung als »geglückt« oder als »mißlungen« zu bewerten?

Da es sich hier um eine künstlerische Performance handelt, läßt sich zunächst an die Bedingungen denken, welche die Institution Kunst setzt. Der Ort der Aufführung, eine Kunstgalerie, weist ausdrücklich auf die Institution Kunst hin, die hier als Rahmen fungiert, innerhalb dessen die Aufführung von allen Beteiligten vollzogen wird. Aber was folgt daraus? Was sind zu Beginn der siebziger Jahre die mit der Institution Kunst gesetzten Bedingungen – zu einem Zeitpunkt also, als eine Neubestimmung und Umstrukturierung der Institution Kunst intern ebenso wie von ihren Rändern her gerade eingesetzt hatte und nun mit Macht vorangetrieben wurde? Die institutionellen Bedingungen, mit denen wir es hier zu tun haben, sind offenkundig keineswegs so klar und unstrittig wie bei der Eheschließung oder der Taufe. Aus der Institution Kunst lassen sich jedenfalls kaum Kriterien ableiten, nach denen sich begründet entscheiden ließe, ob das Eingreifen einzelner Zuschauer als Gelingen oder als Scheitern der Performance zu bewerten ist.

Damit jedoch nicht genug. Denn die Performance fand nicht nur in einem von der Institution Kunst gesetzten Rahmen statt. Wie ich gezeigt habe, wies sie sowohl Züge eines Rituals als auch eines Spektakels auf. Es erhebt sich die Frage, wieweit damit auch eine Transformation der Rahmen »Ritual« und »Spektakel« in eine künstlerische Performance stattfand. In welcher Hinsicht sind diese miteinander sowie mit dem Rahmen »Kunst« kollidierenden Rahmen bei der Frage nach dem Gelingen oder Scheitern zu berücksichtigen?7

Jedenfalls ist evident, daß sich Austins Liste von Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eine performative Äußerung glükken kann,8 kaum auf eine Ästhetik des Performativen übertragen läßt. Denn wie Lips of Thomas erhellt, ist hier ein wichtiger Faktor gerade das Spiel mit den verschiedenen Rahmen und deren Kollision, dem für die Transformation der Beteiligten...

Erscheint lt. Verlag 17.9.2012
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
Schlagworte Ästhetik • edition suhrkamp 2373 • ES 2373 • ES2373 • Kulturwissenschaften • Performativität • Theater
ISBN-10 3-518-78540-0 / 3518785400
ISBN-13 978-3-518-78540-9 / 9783518785409
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