Die Masken über dem Nichts -

Die Masken über dem Nichts (eBook)

Schauermärchen und Gruselgeschichten zur Schwarzen Romantik

Dr. Felix Krämer (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
128 Seiten
Hatje Cantz Verlag
978-3-7757-3374-8 (ISBN)
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Seit dem späten 18. Jahrhundert begeisterten sich zahlreiche Künstler nicht nur für die Erhabenheit der Natur und die Reinheit des Gefühls, für Melancholie und Einsamkeit, sondern zeigten sich zugleich angezogen von den Abgründen der Conditio humana, wie sie sich in Zeiten von Krieg und Wirtschaftskrisen offenbaren. Ihre Werke erzählen von Leidenschaft und Tod, sie thematisieren das Geheimnisvolle, Unheimliche, Irrationale, Fantastische, Groteske und Böse und zeigen gesellschaftlich Ausgegrenzte - Wahnsinnige, Verbrecher, Bettler. 1930 prägte der Literaturwissenschaftler Mario Praz hierfür den Begriff der »Schwarzen Romantik«, doch eine kunsttheoretische Aufarbeitung steht bis heute aus. Die Publikation untersucht erstmals ausführlich die Bezüge zwischen romantischen, symbolistischen und surrealistischen Strömungen und präsentiert das Romantische als wiederkehrende Geisteshaltung, die ganz Europa erfasste und sich bis ins 20. Jahrhundert erstreckt.   Zur Ausstellung erscheint auch ein Katalog (deutsche Ausgabe ISBN 978-3-7757-3372-4; englische Ausgabe ISBN 978-3-7757-3373-1) und ein Band in der Reihe Kunst zum Lesen (deutsche Ausgabe ISBN 978-3-7757-3375-5) sowie ein Audioguide in der Reihe Kunst zum Hören (deutsche Ausgabe ISBN 978-3-7757-3376-2; englische Ausgabe ISBN 978-3-7757-3377-9).   Ausstellung: Städel Museum Frankfurt am Main 26.9.2012-20.1.2013

Cover
Impressum
Titel
Inhalt
Vorwort
Jean Paul | Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei
Heinrich von Kleist | Das Bettelweib von Locarno
Brüder Grimm | Von dem Machandelbaum
E. T. A. Hoffmann | Erzählung Cyprians
Edgar Allan Poe | Das verräterische Herz
Charles Baudelaire | Die Blumen des Bösen
Lautréamont | Die Gesänge des Maldoror (Auswahl)
Bram Stoker | Draculas Gast
Jean Lorrain | Die Masken über dem Nichts
H.P. Lovecraft | Stadt ohne Namen
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Brüder GrimmVon dem Machandelbaum

Das ist nun lange her, wohl an die zweitausend Jahre, da war einmal ein reicher Mann, der hatte eine schöne fromme Frau, und sie hatten sich beide sehr lieb, hatten aber keine Kinder. Sie wünschten sich aber sehr welche, und die Frau betete da­rum soviel Tag und Nacht; aber sie kriegten und kriegten keine. Vor ihrem Hause war ein Hof, darauf stand ein Machandelbaum. Unter dem stand die Frau einstmals im Winter und schälte sich einen Apfel, und als sie sich den Apfel so schälte, da schnitt sie sich in den Finger, und das Blut fiel in den Schnee. »Ach«, sagte die Frau und seufzte so recht tief auf, und sah das Blut vor sich an, und war so recht wehmütig: »Hätte ich doch ein Kind, so rot wie Blut und so weiß wie Schnee.« Und als sie das sagte, da wurde ihr so recht fröhlich zumute: Ihr war so recht, als sollte es etwas werden. Dann ging sie nach Hause, und es ging ein Monat hin, da verging der Schnee; und nach zwei Monaten, da wurde alles grün; nach drei Monaten, da kamen die Blumen aus der Erde; und nach vier Monaten, da schossen alle Bäume ins Holz, und die grünen Zweige ­waren alle miteinander verwachsen. Da sangen die Vöglein, dass der ganze Wald erschallte, und die Blüten fielen von den Bäumen, da war der fünfte Monat vergangen, und sie stand immer unter dem Machandelbaum, der roch so schön. Da sprang ihr das Herz vor Freude, und sie fiel auf die Knie und konnte sich gar nicht lassen. Und als der sechste Monat vorbei war, da wurden die Früchte dick und stark, und sie wurde ganz still. Und im siebenten Monat, da griff sie nach den Machandelbeeren und aß sie so begehrlich; und da wurde sie traurig und krank. Da ging der achte Monat hin, und sie rief ihren Mann und weinte und sagte: »Wenn ich sterbe, so begrabe mich unter dem Machandelbaum.« Da wurde sie ganz getrost und freute sich, bis der neunte Monat vorbei war: Da kriegte sie ein Kind so weiß wie der Schnee und so rot wie Blut, und als sie das sah, da freute sie sich so, dass sie starb.

Da begrub ihr Mann sie unter dem Machandelbaum, und er fing an, so sehr zu weinen; eine Zeitlang dauerte das, dann flossen die Tränen schon sachter, und als er noch etwas geweint hatte, da hörte er auf, und dann nahm er sich wieder eine Frau.

Mit der zweiten Frau hatte er eine Tochter; das Kind aber von der ersten Frau war ein kleiner Sohn, und war so rot wie Blut und so weiß wie Schnee. Wenn die Frau ihre Tochter so ansah, so hatte sie sie sehr lieb; aber dann sah sie den kleinen Jungen an, und das ging ihr so durchs Herz, und es dünkte sie, als stünde er ihr überall im Wege, und sie dachte dann immer, wie sie ihrer Tochter all das Vermögen zuwenden wollte, und der Böse gab es ihr ein, dass sie dem kleinen Jungen ganz gram wurde, und sie stieß ihn aus einer Ecke in die andere und puffte ihn hier und knuffte ihn dort, sodass das arme Kind immer in Angst war. Wenn er dann aus der Schule kam, so hatte er keinen Platz, wo man ihn in Ruhe gelassen hätte.

Einmal war die Frau in die Kammer hoch gegangen; da kam die kleine Tochter auch herauf und sagte: »Mutter, gib mir einen Apfel.« »Ja, mein Kind«, sagte die Frau und gab ihr einen schönen Apfel aus der Kiste; die Kiste aber hatte einen großen schweren Deckel mit einem großen scharfen eisernen Schloss. »Mutter«, sagte die kleine Tochter, »soll der Bruder nicht auch einen haben?« Das verdross die Frau, doch sagte sie: »Ja, wenn er aus der Schule kommt.« Und als sie ihn vom Fenster aus gewahr wurde, so war das gerade, als ob der Böse in sie gefahren wäre, und sie griff zu und nahm ihrer Tochter den Apfel wieder weg und sagte: »Du sollst ihn nicht eher haben als der Bruder.« Da warf sie den Apfel in die Kiste und machte die Kiste zu. Da kam der kleine Junge in die Tür; da gab ihr der Böse ein, dass sie freundlich zu ihm sagte: »Mein Sohn, willst du einen Apfel haben?« und sah ihn so jähzornig an. »Mutter«, sagte der kleine Junge, »was siehst du so grässlich aus! Ja, gib mir einen Apfel!« Da war ihr, als sollte sie ihm zureden. »Komm mit mir«, sagte sie und machte den Deckel auf, »hol dir einen Apfel heraus!« Und als der kleine Junge sich hineinbückte, da riet ihr der Böse; bratsch! schlug sie den ­Deckel zu, dass der Kopf flog und unter die roten Äpfel fiel. Da überlief sie die Angst, und sie dachte: »Könnt ich das von mir bringen!« Da ging sie hinunter in ihre Stube zu ihrer Kommode und holte aus der obersten Schublade ein weißes Tuch und setzt den Kopf wieder auf den Hals und band das Halstuch so um, dass man nichts sehen konnte und setzt ihn vor die Türe auf einen Stuhl und gab ihm den Apfel in die Hand.

Darnach kam Marlenchen zu ihrer Mutter in die Küche. Die stand beim Feuer und hatte einen Topf mit heißem Wasser vor sich, den rührte sie immer um. »Mutter«, sagte Marlenchen, »der Bruder sitzt vor der Türe und sieht ganz weiß aus und hat einen Apfel in der Hand. Ich hab ihn gebeten, er soll mir den Apfel geben, aber er antwortet mir nicht; das war mir ganz unheimlich.« »Geh noch einmal hin«, sagte die Mutter, »und wenn er dir nicht antwortet, dann gib ihm eins hinter die Ohren.« Da ging Marlenchen hin und sagte: »Bruder, gib mir den Apfel!« Aber er schwieg still; da gab sie ihm eins hinter die Ohren. Da fiel der Kopf herunter; darüber erschrak sie und fing an zu weinen und zu schreien und lief zu ihrer Mutter und sagte: »Ach, Mutter, ich hab meinem Bruder den Kopf abgeschlagen«, und weinte und weinte und wollte sich nicht zufrieden geben. »Marlenchen«, sagte die Mutter, »was hast du getan! Aber schweig nur still, dass es kein Mensch merkt; das ist nun doch nicht zu ändern, wir wollen ihn in Sauer kochen.« Da nahm die Mutter den kleinen Jungen und hackte ihn in Stücke, tat sie in den Topf und kochte ihn in Sauer. Marlenchen aber stand dabei und weinte und weinte, und die Tränen fielen alle in den Topf, und sie brauchten kein Salz.

Da kam der Vater nach Hause und setzte sich zu Tisch und sagte: »Wo ist denn mein Sohn?« Da trug die Mutter eine große, große Schüssel mit Schwarzsauer auf, und Marlenchen weinte und konnte sich nicht halten. Da sagte der Vater wieder: »Wo ist denn mein Sohn?« »Ach«, sagte die Mutter, »er ist über Land gegangen, zu den Verwandten seiner Mutter; er wollte dort eine Weile bleiben.« »Was tut er denn dort? Er hat mir nicht mal Lebewohl gesagt!« »Oh, er wollte so gern hin und bat mich, ob er dort wohl sechs Wochen bleiben könnte; er ist ja gut aufgehoben dort.« »Ach«, sagte der Mann, »mir ist so recht traurig zumute; das ist doch nicht recht, er hätte mir doch Lebewohl sagen können.« Damit fing er an zu essen und sagte: »Marlenchen, warum weinst du? Der Bruder wird schon wiederkommen.« »Ach Frau«, sagte er dann, »was schmeckt mir das Essen schön! Gib mir mehr!« Und je mehr er aß, um so mehr wollte er haben und sagte: »Gebt mir mehr, ihr sollt nichts davon aufheben, das ist, als ob das alles mein wäre.« Und er aß und aß, und die Knochen warf er alle unter den Tisch, bis er mit allem fertig war. Marlenchen aber ging hin zu ihrer Kommode und nahm aus der untersten Schublade ihr bestes seidenes Tuch und holte all die Beinchen und Knochen unter dem Tisch hervor und band sie in das seidene Tuch und trug sie vor die Tür und weinte blutige Tränen. Dort legte sie sie unter den Machandelbaum in das grüne Gras, und als sie sie dahin gelegt hatte, da war ihr auf einmal ganz leicht, und sie weinte nicht mehr. Da fing der Machandelbaum an, sich zu bewegen, und die Zweige gingen immer so voneinander und zueinander, so recht, wie wenn sich einer von Herzen freut und die Hände zusammenschlägt. Dabei ging ein Nebel von dem Baum aus, und mitten in dem Nebel, da brannte es wie Feuer, und aus dem Feuer flog so ein schöner Vogel heraus, der sang so herrlich und flog hoch in die Luft, und als er weg war, da war der Machandelbaum, wie er vorher gewesen war, und das Tuch mit den Knochen war weg. Marlenchen aber war so recht leicht und vergnügt zumute, so recht, als wenn ihr ­Bruder noch lebte. Da ging sie wieder ganz lustig nach Hause, setzte sich zu Tisch und ass. Der Vogel aber flog weg und setzte sich auf eines Goldschmieds Haus und fing an zu singen: »Mein Mutter der mich schlacht, mein Vater der mich aß, mein Schwes­ter der Marlenichen sucht alle meine Benichen, bindt sie in ein seiden Tuch, legt’s unter den Machandelbaum. Kiwitt, kiwitt, wat vör’n schöön Vagel bün ik!«

Der Goldschmied saß in seiner Werkstatt und machte eine goldene Kette; da hörte er den Vogel, der auf seinem Dach saß und sang, und das dünkte ihn so schön. Da stand er auf, und als er über die Türschwelle ging, da verlor er einen Pantoffel. Er ging aber so recht mitten auf die Straße hin, mit nur einem Pantoffel und einer Socke; sein Schurzfell hatte er vor, und in der einen Hand hatte er die goldene Kette und in der anderen die Zange; und die Sonne schien so hell auf die Straße. Da stellte er sich nun hin und sah den Vogel an. »Vogel«, sagte er da, »wie schön kannst du singen! Sing mir das Stück noch mal!« »Nein«, sagte der Vogel, »zweimal sing ich nicht umsonst. Gib mir die goldene Kette, so will ich es dir noch einmal singen.« »Da«, sagte der Goldschmied, »hast du die goldene Kette; nun sing mir das noch einmal!« Da kam der Vogel und nahm die goldene Kette in die rechte Kralle, setzte sich vor den Goldschmied hin und sang: »Mein Mutter der mich schlacht, mein Vater der mich aß, mein Schwester der Marlenichen, sucht alle meine Benichen, bindt sie in ein seiden Tuch, legt’s unter den Machandelbaum. Kiwitt, kiwitt, wat vör’n schöön Vagel bün ik!«

Da flog der Vogel fort zu einem Schuster, und setzt sich auf sein Dach und sang: »Mein Mutter der mich schlacht, mein...

Erscheint lt. Verlag 5.9.2012
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Literatur Fantasy / Science Fiction Science Fiction
Literatur Romane / Erzählungen
Kunst / Musik / Theater Malerei / Plastik
Schlagworte Kunst • Lesen • Romantik • ZUM
ISBN-10 3-7757-3374-4 / 3775733744
ISBN-13 978-3-7757-3374-8 / 9783775733748
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