Stalins Kühe (eBook)
496 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30621-7 (ISBN)
Sofi Oksanen, geboren 1977, Tochter einer estnischen Mutter und eines finnischen Vaters, studierte Dramaturgie an der Theaterakademie von Helsinki. Ihr dritter Roman, »Fegefeuer«, war monatelang Nummer eins der finnischen Bestsellerliste und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. dem Finlandia-Preis, dem Literaturpreis des Nordischen Rates und dem Prix Femina. Der Roman erschien in über vierzig Ländern und machte die Autorin auch in Deutschland zu einer der wichtigsten Vertreterinnen der internationalen Gegenwartsliteratur. Sofi Oksanen lebt in Helsinki.
Sofi Oksanen, geboren 1977, Tochter einer estnischen Mutter und eines finnischen Vaters, studierte Dramaturgie an der Theaterakademie von Helsinki. Ihr dritter Roman, »Fegefeuer«, war monatelang Nummer eins der finnischen Bestsellerliste und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. dem Finlandia-Preis, dem Literaturpreis des Nordischen Rates und dem Prix Femina. Der Roman erschien in über vierzig Ländern und machte die Autorin auch in Deutschland zu einer der wichtigsten Vertreterinnen der internationalen Gegenwartsliteratur. Sofi Oksanen lebt in Helsinki. Angela Plöger hat in Berlin, Budapest, Helsinki und Hamburg Finno-Ugristik und Slawistik studiert. Sie lebt als freiberufliche Übersetzerin vor allem finnischer Literatur und Dramatik in Hamburg. 2016 wurde sie für ihre herausragende Übersetzungsarbeit mit dem "Ritterkreuz des Orden des Löwen von Finnland" ausgezeichnet.
Jeden Sommer, wenn wir längere Zeit bei Mutters Mutter verbrachten, futterte Mutter sich mehrere Kilo an. Auf Arbeits- und Dolmetscherreisen bestand dafür keine Möglichkeit, vor lauter Sprechen und Dolmetschen schaffte sie es niemals, ihren Teller leer zu essen, aber auf anderen Reisen, auf kurzen und längeren, bekleidete Mutter sich reichlich mit Essen und legte es, nach Finnland zurückgekehrt, Kilo für Kilo wieder ab, bis sie fünfzig Kilo wog so wie zuvor und so wie ich jetzt.
Wir sind genau gleich groß, Mutter und ich, wir haben dieselbe Statur, dieselbe Kleidergröße, dieselben schmalen Schultern, dieselben Vogelhandgelenke und dieselbe Schuhgröße vierzig. Dieselbe Körbchengröße und denselben Kopfumfang. Vierzehn Jahre lang habe ich mich um die fünfzig Kilo herum bewegt, und ich kehre immer wieder dahin zurück, ich kehre dahin zurück, obwohl ich es nicht möchte, ich kehre dahin zurück, auch wenn ich mich gar nicht darum bemühe, mein Gewicht kehrt immer auf dasselbe Niveau zurück. Vor vierzehn Jahren war ich zu meiner vollen Größe herangewachsen, und Mutter und ich hätten dieselben Kleider tragen können, wenn unser Geschmack nicht so gegensätzlich gewesen wäre. Wir aßen nicht dasselbe Essen; auch wenn Mutter lernte, finnische Gerichte zu essen, hat sie mich niemals dazu gezwungen. Ich war mit dem Essen auch sonst so wählerisch, dass Mutter nach meinen Wünschen kochte. Immer schob sie mir Desserts und Schokoladentafeln zu, in Finnland deshalb, weil es so wenig davon gab, in Estland aus demselben Grund, aber auch, weil ich für den typisch finnischen Winter auf Vorrat schlemmen sollte. Den finnischen Kakao lehnte ich ab, und deshalb schickte Großmutter aus Estland Kakao und Schokoladenpralinen in einem Paket, das in braunes Packpapier gewickelt war.
Aus finanziellen Gründen konnte Mutter mir in Finnland nicht so viel Schokolade und Runebergtorte kaufen, wie mein endlos nach Süßem verlangender Magen gefasst hätte, aber dort, wo sie es konnte, wollte sie mir alles geben. Außerdem litt Mutter nicht an chronischem Hunger nach Süßem, sondern aß lieber etwas Salziges und anderes Estnisches, das sie in ihrem Körper für Finnland einlagerte. Ich bekam alles Süße, einfach alles. Ganze Pralinenpackungen … für mich … ganze Bleche voll von diesem und jenem … für mich … kiloweise Bonbons Kekspackungen Torten Baisers für mich, ganz allein für mich; wie hätte ich da irgendein Maßhalten lernen sollen?
Ich habe wohl kein einziges Mal eine einzelne Banane oder Apfelsine gekauft. Es musste immer mindestens ein Kilo sein. Der Inhalt meines Einkaufswagens sieht auch heute aus wie der Wochenendbedarf einer Großfamilie. Oder so, als wollte ich mit meiner Familie für eine Woche ins Sommerhaus auf eine Insel fahren und niemand wollte während dieser Woche die Insel auch nur ein einziges Mal verlassen. Ich bin außerstande, eine Handvoll Salmiakpastillen zu kaufen, es muss ein Sackvoll sein. Oder gar nichts. Ich koche zwei Liter Sauerkrautsuppe für einen Tag und esse sie auch bestimmt im Verlauf des Tages auf. Ebenso Tomatensuppe. Ich kann diese zwei Liter nicht auf zwei, drei Tage verteilen und nicht einmal auf mehrere Mahlzeiten an einem Tag, sondern ich muss sie auf ein Mal aufessen. Oder ich esse gar nichts. Ich kann nicht nur Wimperntusche auftragen, ich muss mir die Augen vollständig schminken. Ich kann nicht nur eine einzige Zigarette paffen, sondern will Kette rauchen. Ich kann mich nicht mit der angemessenen Menge Parfum besprühen, sondern es muss so viel sein, dass es bis in den Hausflur zu riechen ist. Ich kann nicht einmal eine Viertelstunde telefonieren, sondern es müssen fünf Stunden oder fünf Sekunden sein.
Ich bringe es nicht fertig, mit Fett zu knausern; der Tropfen tötet, und im Eimer ertrinkt man. Wenn man ein Fass aufmacht, dann richtig. Brot natürlich, Käse vom Fettesten, Orangenmarmelade, Haferkekse, Schokoladenkekse, Schokoladentafeln, Pizzas, karelische Piroggen, Ambrosia-Torte, eingefrorene Franzbrötchen, Mango-Melone-Eis … Den Backofen an, Kaffee in den Filter, die Butter auf den Tisch, damit sie nicht zu hart ist … Butter muss es sein, richtige, bei den Fressflashs immer nur richtige Butter … Musik an, Telefone aus, und die Orgie kann beginnen. Am liebsten beginne ich mit Eis. Ich hab schon gelernt, dass man nicht mit Brot anfangen kann, wenn man zu viele Tage nichts gegessen hat. Nach dem Fasten bekommt man das Brot nämlich nicht heraus, selbst wenn man sich die ganze Faust in den Hals steckt. Eis ist das beste Gleitmittel, es lässt den Speisebrei perfekt aus dem Magen herausflutschen, und dann ist alles nur noch ein Tanz. Außerdem eignet sich Eis auch für saubere schnelle Fressflashs – frisch erbrochenes Eis schmeckt und duftet immer noch nach demselben Eis. Ein andermal geht es nach dem Eis mit Brot und Butter weiter, ohne Getränk, weil das Trinken zusammen mit dem Brot das Erbrechen erschwert, obwohl man meinen würde, dass es genau umgekehrt ist … tralalalalala … padapampampaa … wunderbar … eins zwei drei Brot, eins zwei drei Käse … die Pizzas sind schon im Ofen bereit … also die Pizza und eins zwei drei – in den Mund und in den Mund und in den Mund und die Hefeteilchen in den Ofen …
Wie also hätte ich jemals irgendein Maß in meinen menschlichen Beziehungen erreichen können, in meinem Verhältnis zu Hukka, in der Nähe, im Bett, anderswo. Ich kann ins Bett gehen, ohne zu lieben, und lieben, ohne ins Bett zu gehen, aber nicht lieben und ins Bett gehen. Und auch mögen kann ich nur zu sehr, daran ist nichts Aufregendes oder Romantisches, und darum wohl habe ich es gewählt, damit kein Gefühl aufkommt, damit kein einziges Gefühl die Oberfläche verletzt und damit vor allem ich selbst bestimme, ob ich jetzt sofort zwei Liter Sauerkrautsuppe esse, denn das hat nichts mit Hunger zu tun oder damit, wann ich zuletzt gegessen habe, ich weiß ja nicht einmal, wann ich Hunger habe und wann nicht. Ich bestimme, ob ich zwei Kilo Schokolade jetzt oder nie erbreche, ob ich mich mit diesem Typ jetzt oder nie heftig küsse. Aber ich weiß nicht, ob ich küssen will oder nicht, ich habe niemals einen verdorbenen Magen mit unbeherrschbarer Neigung zum Erbrechen gehabt – das ist immer meine eigene Entscheidung gewesen. Wenn ich beschließe zu küssen, dann küsse ich. Wenn ich beschließe zu essen, dann esse ich. Wenn ich beschließe zu erbrechen, dann erbreche ich.
Bei einem Fressflash vertilge ich auch die Speisen, die auf Hukka warten. Manchmal kann die Orgie mit ihnen beginnen; wenn ich mit Hukka Streit habe, räche ich mich, indem ich die für Hukka bestimmten Speisen aufesse und sie erbreche. Hukka findet das lustig, weil es so verdreht ist, aber für mich ist nichts richtiger, nichts unvermeidlicher. Ich räche mich an Hukka auf dem Umweg über das, was Hukka das Teuerste ist, also über mich. Ganz einfach. Ich habe zum Beispiel die Geburtstagstorte erbrochen, die ich für Hukka gemacht und die ich schon zu Hukka gebracht und dort in den Kühlschrank gestellt hatte. Aber dann hatten wir kleine Meinungsverschiedenheiten, und als Hukka ins Badezimmer ging, machte ich mich mit der Torte aus dem Staub und ging nach Hause. Eine Stunde später erschienen die Gäste, denen Hukka die Torte einer Meisterbäckerin wie mir schon angekündigt hatte. Ich weiß nicht, was Hukka sich als Erklärung hat einfallen lassen.
Wenn Hukka mich kränkt, braucht Hukka meine Torte nicht. Wenn Hukka meine Torte kränkt, braucht Hukka mich nicht. Entweder will Hukka uns alle beide, oder Hukka bekommt keines von beiden, und das würde Hukka doppelt ärgern, denn die besten Torten mache ich für Hukka. Und meine Mutter machte die besten für mich, für ihr Wichtigstes. Und ihre Mutter für sie. Damit Mutter von ihrer Mutter zubereitete Speisen bekam, mussten wir natürlich nach Estland fahren, und dort bei Großmutter kam dann vom Herd und aus dem Ofen in regelmäßigen Abständen alles nur mögliche Gute auf den Tisch. Großmutter war so krank, dass sie nicht nach Tallinn fahren konnte, um uns zu treffen, obwohl unsere Einladung ausschließlich für Tallinn galt und für keinen anderen Ort. Wir mussten uns heimlich aus den Grenzen Tallinns davonstehlen, aufs Land. Im Ausland ansässige Personen konnten damals – abgesehen von Touristenreisen, die nur ein paar Tage dauerten und vor allem Moskau, Leningrad, Riga und Tallinn sowie Wyborg zum Ziel hatten – nur mit Einladung in die Sowjetunion kommen. Dann war auch ein längerer Aufenthalt möglich. Ob ein Antrag auf Einladung zu einem Besuch positiv beschieden würde, war unsicher und von vielerlei Einzelheiten abhängig, die den Antragstellern unbekannt waren. Außerdem durften nur nahe Verwandte den Antrag stellen, und als solche galten Geschwister, Eltern und Kinder. Die Einladungspraxis betraf also im Ausland lebende Blutsverwandte. Später wurde das Reisen leichter, und auch Bekannte wurden in den Kreis der potenziellen Empfänger eines Auslandsvisums aufgenommen.
Aufregend waren die Reisen immer. Am besten erinnere ich mich an die Jahre, als wir zuerst in Tallinn bei Juuli, einer alten Bekannten von Mutter, übernachteten. Nach dem Wecken ging Mutter zum Taxistand und stellte sich in die Schlange. Dort konnte wer weiß wie viel Zeit vergehen, die Taxischlangen kamen einem immer endlos vor. Endlich ertönte das Hupen des Taxis auf dem Hof, und dann machten wir uns daran, die Taschen ins Auto zu tragen. Wenn der Taxifahrer begriff, dass es sich um eine lohnende Tour handelte, half er uns beim Tragen in der Hoffnung auf ein Trinkgeld und auf ausländische Kontakte. Das war die Ausnahme....
Erscheint lt. Verlag | 16.8.2012 |
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Übersetzer | Angela Plöger |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Als die Tauben verschwanden • Atalinin Lehmät • Besatzung • Bulimie • Estland • Familiengeschichte • Familien-Geschichte • Finnland • Herkunft • Identität • Identitätsfindung • Russische Besatzung • Russland • Sofi Oksanen |
ISBN-10 | 3-462-30621-9 / 3462306219 |
ISBN-13 | 978-3-462-30621-7 / 9783462306217 |
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