Lucian (eBook)
560 Seiten
Arena Verlag
978-3-401-80005-9 (ISBN)
Isabel Abedi, 1967 geboren, arbeitete 13 Jahre lang als Werbetexterin. Abends, am eigenen Schreibtisch, schrieb sie Kinder- und Bilderbuchgeschichten und träumte davon, eines Tages davon leben zu können. Dieser Traum hat sich längst erfüllt: Isabel Abedi hat inzwischen zahlreiche sehr erfolgreiche Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht, von denen manche bereits ausgezeichnet und in andere Sprachen übersetzt wurden. Sie lebt und schreibt in Hamburg. www.isabel-abedi.de Foto: © Sarah Schüddekopf
Isabel Abedi, 1967 geboren, arbeitete 13 Jahre lang als Werbetexterin. Abends, am eigenen Schreibtisch, schrieb sie Kinder- und Bilderbuchgeschichten und träumte davon, eines Tages davon leben zu können. Dieser Traum hat sich längst erfüllt: Isabel Abedi hat inzwischen zahlreiche sehr erfolgreiche Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht, von denen manche bereits ausgezeichnet und in andere Sprachen übersetzt wurden. Sie lebt und schreibt in Hamburg. www.isabel-abedi.de Foto: © Sarah Schüddekopf
EINS
Der Mittwochabend gehörte uns, Janne, Spatz und mir.
Seit ich ein kleines Mädchen war, verbrachten wir drei diesen Abend in der Woche gemeinsam und abgesehen von den Ferien auch immer am selben Ort: zu Hause, in der Hamburger Rainvilleterrasse 9.
Die Idee kam von Spatz, Jannes Lebensgefährtin. Kurz nachdem sie bei uns einzog, ernannte Spatz den Mittwochabend zur Ladys Night in und besorgte für diesen Anlass sogar eine Krone. Es war eine Plastikkrone mit bunten Strasssteinchen aus der Spielzeugabteilung des Kaufhauses, in dem Spatz damals jobbte.
Spatz war es auch, die die Regeln für unsere Ladys Nights festlegte: Immer der Reihe nach durfte eine von uns die Mittwochskrone tragen und bestimmen, wie wir den Abend verbringen würden. Die einzigen Bedingungen waren: Es musste etwas sein, was wir zusammen machten, und es durfte nichts kosten.
Ich war vier Jahre alt, als wir unsere erste Ladys Night in veranstalteten und ich auch als Erste die Krone aufsetzen durfte. Ich fühlte mich tatsächlich wie eine Königin und ernannte Spatz und Janne zu meinen Zofen. Janne musste mein Lieblingsessen, Crêpes mit heißer Schokoladensauce, zubereiten. Spatz wies ich an, Fabeltiere zu zeichnen, Drachen, Einhörner und Greifen, die wir anschließend gemeinsam ausmalten.
Irgendwann kam die Krone abhanden oder wurde einfach nicht mehr aufgesetzt. Aber die Ladys Night blieb und wurde mit den Jahren zu einem Ritual, auf das wir nur verzichteten, wenn etwas Ernsthaftes dazwischenkam.
Inzwischen war ich sechzehn und diesen Mittwoch war meine Mutter Janne an der Reihe, über die Ladys Night zu bestimmen. Das Motto des Abends lautete: ausmisten.
Zuerst hatten Spatz und ich laut aufgestöhnt, als Janne den riesigen Schrank auf unserem Dachboden öffnete, aber Janne hatte auf ihre imaginäre Krone getippt und verkündet: »Ein bisschen Vergangenheit loswerden kann nie schaden. Also keine Widerrede, Ladys! Ran an die Klamotten.«
Draußen tobte ein Herbststurm. Wie mit Eisfingern trommelte er an die Scheiben, doch hier oben unter dem Dach war es warm und mittlerweile saugemütlich. Janne hatte Kerzen angezündet, aus den Lautsprechern ertönte die Mondscheinsonate von Beethoven, Jannes Lieblingskomponisten, und der Duft von frischem Apfelstrudel zog aus der Küche bis zu uns hinauf.
Der Dachboden nahm die gesamte obere Hälfte unserer Wohnung ein, eine geschwungene Wendeltreppe trennte ihn von den unteren Zimmern. Die alten Holzdielen hatte Dad damals noch abgeschliffen.
Wir alle liebten diesen Raum. Er war unser Familienzimmer, das offizielle Wohnzimmer nutzten wir eigentlich nur, wenn Besuch kam. Hier oben steckte etwas von jedem von uns. Ich hatte mir das große Tagesbett mit den vielen Kissen gewünscht, auf dem wir schon unzählige Mittwochabende mit unseren Lieblingsfilmen verbracht hatten. Die Zimmerlinde, die mittlerweile bis zur Dachschräge hochgewachsen war, hatte Janne bei meiner Geburt als winziges Pflänzchen gekauft und die große Glasvase vor dem Fenster bestückte sie jede Woche neu mit Blumen. Von Spatz waren der alte Plattenspieler und das Regal mit der riesigen Plattensammlung. Unsere Möbel, die zum großen Teil von Antikflohmärkten stammten, hatten Spatz und Janne gemeinsam aufgestöbert, wobei Janne das Herunterhandeln der Preise und Spatz die anschließende Aufarbeitung übernahm.
Das einzige Erbstück war der Sekretär von meiner Urgroßmutter Moma, an dem Janne früher ihre Gutachten geschrieben hatte.
Neben dem Sekretär hing ein Vogelbauer an einer schweren Messingkette herab. Hier wohnten John Boy und Jim Bob. Meine Mutter hatte die beiden Wellensittiche von einem ehemaligen Klienten geschenkt bekommen. Mit ihren dreizehn Jahren waren sie mittlerweile reife Herren und Janne sorgte rührend für sie. Spatz dagegen hasste es, wenn Tiere hinter Gittern eingesperrt wurden. Sie nannte unsere Vögel deshalb die Knastbrüder, was ihr jedes Mal einen bösen Seitenblick von meiner Mutter bescherte.
Jim Bob hatte seinen Schnabel unter den Flügel gesteckt und die Federn aufgeplustert, während John Boy neugierig auf uns herabsah, wie wir vor dem Berg aus altem Kram hockten und uns darum stritten, was wir entbehren – oder besser gesagt nicht entbehren – konnten.
»Nicht!«, kreischte Spatz aus vollem Hals. Sie machte einen Hechtsprung und versuchte, Janne einen grinsenden Gummizwerg mit einer blauen Mütze aus der Hand zu reißen, den meine Mutter gerade in der Kiste mit der Aufschrift »Goodbye Ladys« versenken wollte.
»Wieso nicht?« Janne starrte verblüfft von Spatz auf den Gummizwerg.
»Weil der nimmersatte Anton das Glück meiner Kindheit war«, rief Spatz empört. »Nur über meine Leiche kommt der auf den Flohmarkt.« Sie packte Janne am Handgelenk und fing an, sie durchzukitzeln, bis meine Mutter lachend aufgab und den Plastikzwerg fallen ließ.
»Komm her, Anton.« Spatz hob ihn auf und nahm ihn schützend in den Arm. »Weg von der kaltherzigen Mittwochskönigin. Ab heute . . .«, sie grinste den Zwerg an, » . . . thronst du auf unserem Fernseher.«
»Auf dem Fernseher? Was soll das Teil denn auf dem Fernseher?«, fragte ich entgeistert.
»Das Teil?« Spatz pustete sich eine Staubflocke von der Nase und funkelte mich an, als hätte ich mich gerade selbst in einen Gummizwerg verwandelt, und zwar in einen bösen. »Was deine Mutter auf dem Flohmarkt verschachern will, ist kein Teil, sondern ein Meilenstein der deutschen Fernsehgeschichte!«
Sie hielt mir den Gummizwerg vor die Nase. »Darf ich bekannt machen?«, fragte sie und ließ den Zwergenkopf hin- und herwackeln. »Rebecca, das ist der nimmersatte Anton, Genosse der Mainzelmännchen und Star des Werbefernsehens aus den Siebzigerjahren. Anton, das ist Rebecca, Ersttochter von Janne und Zweittochter von mir. Sag Guten Abend.«
»Gut’n Aaaaaaaaaaaabend«, quiekte der Gummizwerg mit Spatz’ verstellter Stimme und ich musste lachen.
Janne strich sich stöhnend das blonde Haar aus der Stirn. Ein schwarzer Streifen zog sich quer über ihr Gesicht und passte so gar nicht zu ihr. Meine schöne Mutter mit dem Körper einer Marathonläuferin konnte man morgens um drei Uhr aus dem Tiefschlaf wecken und sie sah immer noch perfekt aus.
»Also gut. Solange Antons Genossen nicht irgendwo im Hinterhalt lauern, kann er bleiben«, sagte sie und beugte sich wieder über ihre Kiste. »Was ist hiermit?«
Janne hielt eine rote Plastiktrompete hoch und ich kreischte: »Ohhh, die hat Daddy mir geschenkt, weißt du noch? Nach dem Kindergartenfest, wo mir Sören seine halbe Bratwurst aufs Kleid gekotzt hat. Ich hab gestunken wie Sau und mich total geschämt und abends hat Dad mir zum Trost die Trompete mitgebracht. Soll ich euch was vorspielen?«
»Törööö«, machte Spatz und zwinkerte mir zu.
»Leute, so kommen wir nie weiter«, nörgelte Janne. »Die Aktion des Abends heißt nicht Spielen, sondern Ausmisten. Also, weg damit oder nicht?«
»Nicht.« Ich legte die Trompete zur Seite und öffnete die große Bücherkiste. Zwischen Jannes Fachbüchern, Spatz’ Kunstbänden und ein paar speckigen Kochbüchern fischte ich einige alte Bilderbücher heraus.
Meine Mutter rutschte zu mir herüber und schlug Wo die wilden Kerle wohnen von Maurice Sendak auf. »Das war dein Lieblingsbuch«, sagte sie. »Du hast dich wahnsinnig vor den Monstern gefürchtet, die Max in seiner Traumreise besuchte. Aber du wolltest die Geschichte immer wieder hören.« Janne lächelte mich an. »Du hast die Augen geschlossen und bist in deiner Fantasie mit Max auf dem Segelschiff davongereist. Ich sollte dir die wilden Kerle vormachen. Du wolltest ihr fürchterliches Brüllen hören und sehen, wie sie ihre fürchterlichen Zähne fletschten, ihre fürchterlichen Augen rollten und ihre fürchterlichen Krallen zeigten – bis Max Seid still sagte und sie mit seinem Zaubertrick zähmte. Weißt du noch, Wölfchen? Du kanntest den Text auswendig.«
Ich legte meinen Kopf auf Jannes Schulter und sah auf das Segelschiff, in dem der kleine Max mit seinem Wolfspelz saß. Das Papier war schon ganz vergilbt und strömte diesen undefinierbaren Geruch alter Bücher aus.
»Ja, das weiß ich noch«, sagte ich und warf Spatz einen Blick zu. »Und du hast mir ein Bild von dem Schiff gemalt. Aber es stand nicht Max, sondern Rebecca darauf.«
Und so ging es weiter. Jedes Teil, das wir aus den Kisten zogen, brachte eine Geschichte mit sich. Da war das Mörderdirndl mit der roten Schürze, das meine Großmutter mir zur Einschulung aus München mitgebracht hatte. Im Stoff, direkt über dem linken Schulterblatt, steckte eine vergessene Sicherheitsnadel. Das erste und einzige Mal, dass ich...
Erscheint lt. Verlag | 1.6.2012 |
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Verlagsort | Würzburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur |
Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre | |
Schlagworte | Beziehung • Freundschaft • https://c.wgr.de/f/shopbilder/1600/978-3-401-80005-9.jpg • Liebe |
ISBN-10 | 3-401-80005-1 / 3401800051 |
ISBN-13 | 978-3-401-80005-9 / 9783401800059 |
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