Die Fliege und die Ewigkeit (eBook)

Roman
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2012 | 1. Auflage
416 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-09044-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Fliege und die Ewigkeit -  Håkan Nesser
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Das Spiel und Leben und Tod - ungewöhnlich packend, mörderisch philosophisch
Ein seltsames Testament und ein längst gesühntes Verbrechen: Jahrelang saß der 54-jährige Bibliotheksangestellte Maertens wegen Mordes an seinem Professor im Gefängnis. Inzwischen wieder in Freiheit, lebt er völlig zurückgezogen. Doch plötzlich gerät sein sorgsam ausgetüfteltes Dasein aus dem Gleichgewicht: Sein einstmals bester Freund Tomas ist gestorben und hat ihm ein ungewöhnliches Erbe hinterlassen. Als Maertens es antritt, wird ihm allmählich klar, dass sein Freund ihn vor Jahren brutal hintergangen hat ...

Håkan Nesser, geboren 1950, ist einer der beliebtesten Schriftsteller Schwedens. Für seine Kriminalromane erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, sie sind in über zwanzig Sprachen übersetzt und mehrmals erfolgreich verfilmt worden. Håkan Nesser lebt abwechselnd in Stockholm und auf Gotland.

2


Der nächste Tag ist ganz normal.

Normal und aufdringlich wie die Steife in den Schultern und das Warten auf das, was nie kommt. Er wacht auf, ohne geschlafen, ohne geträumt zu haben. Im Aquarium treibt das Regenbogenmännchen mit dem Bauch nach oben im Wasser. Zumindest ist anzunehmen, dass es das Männchen ist. Die Kenntnisse, die er über seine Nächsten und Liebsten hat, sind ziemlich dürftig. Draußen auf der Straße hupt Bernard bereits. An Frühstück ist nicht zu denken, es ist halt einer dieser Morgen.

Auf dem Treppenabsatz schlägt ihm ein kalter Wind entgegen. Er schlägt den Mantelkragen hoch und bleibt eine Sekunde in simuliertem Zögern stehen. Wenn der Tod käme oder eine andere unbekannte Größe und böte ihm in so einem Moment die Hand, würde er dann nicht ...?

Doch nichts geschieht. Nun gut, also geht er hinaus in die Welt. Aus dem Autoradio strömt eine diffuse Klaviersonate. Bernard sieht unrasiert und grau verfroren aus, dennoch hat er sein Morgengrinsen aufgesetzt, bevor Maertens es noch schafft, die Tür wieder zu schließen.

»Freitag!«, ruft er mit infamer Munterkeit aus. »Trost und Belohnung aller Schiffbrüchigen!«

Dann fängt er an zu husten. Seine Stimmbänder haben sich noch nicht an einen neuen, fremden Tag gewöhnt. Maertens wird ihm wegen dieses Lächelns irgendwann noch einmal eins in die Fresse hauen. Dieses Morgengrinsen. Das ist ihm schon seit langem klar, verdammt klar. Eines Tages werden alle Gedanken zwangsläufig in Handlungen übergehen und eine höhere Stufe erklimmen. Irgendwann einmal, aber nicht an diesem Morgen.

Bernard redet sich warm.

»Du brauchst dir nur die ersten fünfzehn Minuten anzugucken, oder vielleicht die ersten siebzehn, wenn wir ganz genau sein wollen, mit Rügers beiden Toren und Mussets hohem Kopfball an die Latte, das lässt mich schlicht und einfach an ein Sonett denken. Ein Sonett!«

Maertens sagt nichts.

»Genauso wie Andersson gegen Portisch sechsundsiebzig mich an verlorene Eier erinnert hat. Es ist irgendwie dasselbe. Verstehst du? Verstehst du?«

»In Brest?«, fragt Maertens. Gähnt. Es knackt in den Gelenken.

»In Brest. Wo sonst?«

So geht es weiter. Maertens reagiert, hört aber nicht wirklich zu. Er registriert nichts, findet keinen Anlass dafür. Bernard redet im Kreis. In dem Bereich, in dem er etwas zu sagen hat, wiederholt sich alles immer wieder, Maertens hat das im Laufe der Jahre gelernt. Analogien verändern sich, werden ausgetauscht und ausgeschmückt – aber das Muster, das möglicherweise gewollte, ist immer zu greifen. Es kommt stets in seiner bleichen Dürftigkeit an die Oberfläche.

Zumindest stellt er es sich so vor, und wenn es denn anders sein sollte, könnte er doch nichts daran ändern. Bernard spinnt seinen Wortkokon weiter, beharrlich und unermüdlich, in gewisser Weise eisenhart, eine Schicht wird über die andere gelegt, tagein, tagaus. Über Essen und Fußball spricht er. Über Schach. Über alte Radchampions. Über Frauen.

»Weißt du, Maertens, mit den Frauen, das ist doch etwas Besonderes!«

Etwas Besonderes? Maertens zündet sich die erste Zigarette des Tages an und denkt an Straßenbahnen. Wie es wäre, stattdessen mit der Straßenbahn zur Arbeit zu fahren. Das ist ein geliebter, angenehmer Zwangsgedanke, der sich jeden Morgen auf den dreihundert Metern zwischen den Bahngleisen und dem Fluss in ihm festsetzt. Kein großer Gedanke, aber praktisch wie ein Topflappen oder eine Lebenslüge, und nach einer Weile lässt er ihn wieder fallen, und im gleichen Moment, im gleichen alten, üblichen Moment, ist der neue Tag über ihn hereingebrochen. Dieses unklare, traumhafte Gefühl, das diesen speziellen Tag aus der langen Reihe vergangener und zukünftiger Tage heraussiebt. Die Diktatur des Jetzt, das hat er irgendwo gelesen, ihre Anwesenheit ist stark und überraschend, er bietet ein paar Sekunden lang Widerstand, resigniert dann aber und holt tief Luft. Wirft einen Blick zu Bernard hinüber. Könnte es sein, dass dieses genau die Gebrauchsanweisung zurückhält, die Maertens braucht? Dieser Bernard. Ja, ist es denn nicht so? So ist es um die Welt bestellt! Auf diese Art und Weise verhält es sich mit Dingen und Sachen! Es ist etwas Besonderes mit den Frauen.

Und er braucht nicht einmal zuzuhören. Nie eine eigene Meinung auszudrücken, vielleicht ist das ein Privileg.

»Du solltest die Scheiben kratzen«, sagt er schließlich an diesem Morgen, weil er nicht hinaussehen kann.

»Quatsch«, erwidert Bernard. »Das wird klar, wenn die Heizung in Gang kommt. Außerdem findet sie den Weg von allein.«

Sie biegen ab auf den Alexanderviadukt. Im Laufe der vielen Jahre, die sie zusammen fahren, ist es noch nie vorgekommen, dass die Heizung in Gange gekommen wäre. Und das Pronomen sie bezieht sich auf das Fahrzeug selbst, die Fortbewegungsmaschine, wenn man so will. Sie hat eine dunkle Geschichte, aber sicher verhält es sich so, wie Bernard sagt: Sicher ist sie früher einmal eine Schönheit gewesen mit durchgehend weiblichen Vorzeichen. Eine junge, himmelblaue Vidette. Inzwischen ist sie in die Jahre gekommen, immer noch auffallend und an einzelnen Punkten zwar schick, an anderen, und deren Zahl überwiegt, aber umso ramponierter. Sie bewegt sich ziemlich unbeholfen, macht außerdem ziemlich viel Lärm, und eines schönen Tages wird es wohl passieren, dass sie ein für alle Mal stehen bleibt. Wer weiß?

Er drückt seine Zigarette in dem überquellenden Aschenbecher aus. Schließt die Augen, um nicht abgelenkt zu werden. Lehnt den Kopf gegen die Nackenstütze, die es nicht gibt, und konzentriert sich. Zuerst aufs Schachspiel, dann auf das andere. Das Schweigen.

»Dann spielen wir also heute Abend bei Freddy’s eine Partie?«

Maertens schaut auf. Bernard hat seine Brille abgenommen, er sitzt da und reibt sie mit seinem Schal sauber. Die Scheiben sind immer noch vereist. Der Morgenverkehr dort draußen dröhnt dicht und herausfordernd. Maertens nickt. Freitagabend ... Freddy’s, natürlich. Was sonst? Welche anderen Wege würden überhaupt offen stehen? Welche?

Birthe natürlich, aber der Samstag ist ja schon ausgemacht.

Schreiben?

An der Ampel auf der Hohenzoller Allé kommt die Frage nach der Arbeit. Immer genau in der Sekunde, bevor sie auf Grün umspringt, es ist ein verdammtes Rätsel, wie er das wissen kann ... »Der Job, Maertens! Wie ist die Woche gewesen? Hamsterrad oder Mühlstein? Hat sie das Wohlbefinden und den Wohlstand befördert? Antworte mir, Maertens, was ist mit dir an diesem schönen Morgen nur los?«

Mühlstein? Nein, er hat nichts anzumerken. Sein Los ist nicht schlechter als das anderer. Insbesondere nicht mehr, seitdem die Aufmerksamkeit auf das staatliche Kulturhaus verlagert wurde, das in ihrer Stadt wie in so vielen anderen errichtet wurde. In Maertens’ und Bernards Stadt. Er denkt eine Weile darüber nach. Fragt sich, warum. Kein Mensch scheint sagen zu können, wozu so ein Gebäude eigentlich gut sein soll. Aber vielleicht haben seine Väter und Erbauer einfach nur etwas zu Stande bringen wollen, vielleicht verhält es sich so. Eine Art Andenken, ein Monument für sich selbst und die Zeit, in der man lebt. Vielleicht.

»So ist es mit Denkmälern, so kommen sie zu Stande«, hat Bernard einmal festgestellt, an einem anderen Morgen, als Maertens sich in den für heute erledigten Überlegungen zu verlieren schien. »Wer bist du, dass du meinst, klagen zu dürfen«, will Bernard heute wissen. »Kipp nicht das Kind und noch so einiges mit dem Bade aus. Eine neue Bibliothek und rückenfreundliche Stühle, was willst du mehr?«

»Ich kann nicht klagen.«

»Das ist gut, mein Freund, ich will ja nichts Unmögliches von dir verlangen. Gut, schon gut.«

Die Tomasbrücke ist wieder verstopft. Wie üblich.

Maertens reibt mit dem Mantelärmel ein Guckloch auf der Scheibe frei. Er betrachtet den Fluss und die Schiffe, die für den Winter verankert am Kai liegen, ein einsamer Schlepper steuert durch den Nebel, die Sonne steht niedrig und wirft keinen einzigen Lichtstreifen übers Wasser. Dunkel und wie aus einem Guss sieht es aus. Die Enten und ein hübsches, kaum voneinander unterscheidbares Schwanenpaar liegen noch in verfrorenem Nachtschlaf auf Karlsöns Strand. Bernard spricht jetzt von Majakowski, von der Hyperbel als Stil- und Wirkungsmittel, und von einer Frau, die er schon lange kennt. Frida. Frida Arschel. Seine Worte werden von einem Nachrichtensprecher und einer Straßenbahn, die vorbeischeppert, übertönt. Was wird aus all deinen Worten, Bernard? Wohin gehen sie?

Erneut widmet er einige Gedanken dem Telefongespräch, aber es ist schwer, sich in dieser Morgenkakophonie den Begriff Schweigen vorzustellen. Und ganz besonders so ein Schweigen.

Er wird am Zeitungskiosk am Markt herausgelassen. Als er vier Schritte gegangen ist, ruft Bernard durch das heruntergekurbelte Seitenfenster:

»Vergiss nicht, Fräulein Kemp von mir zu grüßen!«

Darauf pfeift er La donna è mobile, peitscht den Motor hoch und fährt weiter. Seit geraumer Zeit ist Bernard in Maertens Chefin, Marie-Louise Kemp, verliebt. Das ist eine Eigentümlichkeit, die sie bereits verschiedene Male diskutiert haben. Maertens hat auch schon beim Werben Beistand geleistet. Aber das Ergebnis ist bis heute ziemlich dürftig, kaum der Rede wert. Fräulein Kemp ist keine Frau, der man sich ohne weiteres nähert, ganz und gar nicht. Überhaupt ist das Ganze eine düstere Geschichte, und das Einzige, was Bernard als Begründung anführt, ist sein Alter.

»Wenn man die Fünfzig überschritten hat«, sagt er, »dann muss man sich ein neues Frauenideal...

Erscheint lt. Verlag 31.5.2012
Übersetzer Christel Hildebrandt
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Flugan och evigheten
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Betrug • eBooks • Erbe • Geschenkausgabe • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Roman • Spannung • Strafe • Täuschung • Testament • Unschuld • Verbrechen
ISBN-10 3-641-09044-X / 364109044X
ISBN-13 978-3-641-09044-9 / 9783641090449
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