Untreu - Ein Beziehungsroman (eBook)
194 Seiten
periplaneta (Verlag)
978-3-943876-30-7 (ISBN)
I. Haus
Ehe sie sich’s versah, war Christine zu all dem geworden, was sie bisher immer bekämpft hatte, erfolgreich, wie sie meinte.
Haut wird nun mal älter. Um die Augen herum vor allem. Oder die Mundpartie. Durch das viele Lächeln.
War soviel Lächeln dabei gewesen, bisher, in ihrem Leben? Ja, auf jeden Fall, früher. „Früher“, dieses Wort konnte sie nun seit etwa sieben Jahren gebrauchen. Mit zwanzig kann man noch nicht „früher“ sagen. Mit fünfundzwanzig auch nicht. Aber ab dreißig, einunddreißig geht’s los.
Ja, während ihrer Schulzeit! Da war sie Lachmöwe genannt worden, von ihren vielen Freundinnen, von denen jetzt vielleicht noch zwei, drei übrig waren. Die zwei, drei – wie lange hatte sie selbst die nun schon nicht mehr gesehen! Die eine lebte noch in ihrer Stadt, während die anderen beiden weggezogen waren, weg aus Tannenhausen. Ja, mit denen hatte sie wirklich sehr viel gelacht.
„Etwas zu viel“, denkt sie, als sie kurz innehält, während sie die Tür des Schlafzimmers schließt und dann über die geschwungene Treppe hinuntergeht. Sie betritt den lichtdurchfluteten Wohnbereich. Ihr Blick schweift über die exklusive aber nun bereits ältere Sofagarnitur, die aus fünf verstellbaren Elementen besteht und damals schon ganz und gar nicht billig gewesen war.
Der Möbelverkäufer – Christine erinnert sich als sei es gestern gewesen – hatte von einem Kunstwerk gesprochen, in „Farbvariationen von Nachtblau“. Als er dann den wohlklingenden italienischen Namen des Designers aussprach, hatte es bei Christine Klick gemacht: Markus musste das Sofa kaufen. Und in der Tat, die fünf Elemente komponierten jedes Mal ein stilsicheres Ambiente, das bisher jedem Besucher eine Bemerkung wert gewesen war. Unpassend konnte man sie gar nicht positionieren.
Christine geht weiter bis in die Küche und setzt sich kurz, nicht um zu verschnaufen, sondern weil sie noch einem Gedanken folgen muss, den sie vom Schlafzimmer mit heruntergebracht hat, und der Christine nun irgendwie dazu drängt, Platz zu nehmen.
Im Spiegel des Schlafzimmers hatte sie vorhin einen Blick auf ihr Gesicht erhascht – ein kurzer unerwarteter Blickwechsel – und nun musste sie darüber nachdenken, ob wirklich nur ihre Haut um die Augen herum so gealtert war, oder viel mehr. Aber alles andere war noch dasselbe wie immer, oder? Eigentlich schon. Doch! Es hatte sich nichts geändert in den letzten paar Jahren.
Ihr Mann war zum Geschäftsführer der Firma Börer aufgestiegen, einer in Tannenhausen ansässigen GmbH, die für die halbe Welt Bauschalungen anfertigte. Und die nun auch in ihrem neuen Sektor „Fertigbauten“ die Marktführung in Süddeutschland zu übernehmen begann – seitdem Markus diese Sparte leitete. Ihr Mann war bereits kurze Zeit nach seinem Einstieg in das Unternehmen zur rechten Hand des Senior-Chefs avanciert. Und der letzte Schritt, die Ernennung zum Geschäftsführer, war nur noch eine Frage des guten Benehmens - von Seiten Markus’ und schließlich auch von Seiten seines Chefs, Alfons Börer. Nein, großartig war nichts geschehen seitdem Laura, die jüngere ihrer beiden Töchter, den Übertritt in die nächste Klasse des Gymnasiums schließlich doch geschafft hatte. Und ihre ältere Tochter, bei der klappte sowieso immer alles auf Anhieb, wie bei ihrem Mann, im Grunde – sehr ähnlich.
Und schon ist Christine wieder aufgestanden, von ihrem Küchenhocker, ohne eine Antwort auf ihre Frage gefunden zu haben. Aber sie hat sie auch längst vergessen und verliert sich, während sie den Abwasch macht, wieder in alltäglichen Gedanken. Den Abwasch erledigt sie immer noch mit der Hand, obwohl ihr Mann das überflüssig findet. „Es ist doch eine erstklassige Spülmaschine vorhanden,“ sagt er immer. „Die hättest du dir sparen können“, erwidert sie dann. Und so wie sie es sagt, klingt es beinahe wie ein sanftes Lob – wie gutes Zureden.
Das warme Wasser, das jetzt ihre Hände umgibt, auf dem sich gerade eine Schaumkrone bildet und immer höher wächst, in die Christine das Geschirr hineingleiten lässt, unendlich sanft und vorsichtig; und wie es dort verschwindet, auf dem Grund des Spülbeckens aufkommt, und nun der Moment, in dem sie den Hahn abdreht – Stille. Diese Stille ist im Grunde das Schönste, das Schönste überhaupt – im Grunde.
Warum hatte sie es sich nur angewöhnt, die Straße, die vor dem Küchenfenster vorbeiführt, zu beobachten! Schon bei der kleinsten Regung, die sich dort ergab, musste sie hinausstieren; doch es ergab sich selten etwas wirklich Sehenswertes, eigentlich so gut wie nie. Doch das war es ja gerade, weswegen sie immer wieder einen Blick auf die Mozartstraße warf – auf diese fünf Meter, die sie durch das Küchenfenster einsehen konnte. Meistens sah Christine irgendwelche Autos, deren Farbe und Form sie problemlos den Nachbarn zuordnen konnte, oder Fahrräder, selten Fußgänger. Die waren dann natürlich am interessantesten und meist warfen sie einen kurzen schuldbewussten oder längeren messenden Blick auf ihr Haus. Mit diesem Blick konnte Christine rechnen. Fehlte er, wurde sie unruhig.
Einmal war da etwas Wirkliches passiert, auf diesen fünf Metern, etwas Tatsächliches, im Gegensatz zu dem ansonsten traumhaft erscheinenden Vorbeischweben der Außenwelt, in diesem Ausschnitt einer flüchtigen Wirklichkeit von fünf Metern, die sich irgendwo da draußen bestimmt aufregender gestaltete, wie Christine annahm. Ja, einmal war ein Wagen direkt vor ihrem Fenster mit einem anderen zusammengestoßen. Die beiden Fahrer blieben unverletzt. Sie stiegen aus ihren Wagen und regelten die ganze Angelegenheit mit ruhigen Gesten; ihre Worte konnte Christine nicht verstehen. Es war unmöglich, das Küchenfenster zu kippen – ein Manko, das drei Wochen nach diesem Vorfall von ihrer Schreinerei behoben wurde. Die Reparatur hatte freilich nichts mit dem Unfall zu tun, nur mit der Tatsache, dass Christine seit dem Zusammenstoß in der Mozartstraße immerzu an dieses Manko hatte denken müssen.
Christine verständigte also ihre Schreinerei, Schreinermeister Jehle, der Christine kannte, persönlich, und der sie gern hatte, wie eigentlich jeder, der sie kannte, und der, wie jeder, sofort zur Stelle war, wenn sie etwas wollte. Dass Christine nun mal so aussah wie sie aussah, mag ein Hauptgrund dafür gewesen sein, gefolgt jedoch von ihrer liebenswürdigen Art, die ein weiteres Argument war, sofort zu handeln, wenn sie einen anrief oder gar vorbeikam, in der Schreinerei, oder sonst wo. Sie kam am liebsten persönlich vorbei. Ihr Erscheinen war stets wirkungsvoller als jedes Gespräch. Wenn Christine so vor einem stand, war sie nun mal unheimlich nett – unheimlich.
„Gut, also gut“, denkt sie, immer noch in ihrer Küche stehend, an diesem Montag Vormittag, nachdem sie den Stöpsel des Spülbeckens gezogen, das Küchenfenster gekippt hatte und sich nun daran machte, die matte Edelstahloberfläche des Beckens mit einem Reinigungstuch zu wischen. Was sie nach jedem Spülen tut – und wenn es nur ein einziges Glas war, das sie abgewaschen hatte – der Edelstahl wurde stets in seiner Gesamtheit gereinigt. Christine meinte, Schmutz sehen zu können, selbst wenn er für andere unsichtbar war. Sie meinte ihn fühlen zu können, und vermutete ihn. Vermutete ihn überall, im Grunde.
„Gut, also gut“, sagt sie sich, und sie fühlt sich nun – sie sieht auf die Küchenuhr: zehn vor elf – absolut vollständig. Nur am Vormittag, um diese Uhrzeit, wenn alle aus dem Haus waren, kam diese Empfindung auf – vorausgesetzt sie hatte noch etwas zu Reinigen. Es war eine Vollständigkeit, die sich sonst nie einstellte. Nur wenn sie allein war. Christine fühlte sie hier und jetzt. Was sie auch getan hatte, es an anderen Orten, zusammen mit anderen Menschen oder mit ihrer Familie zu empfinden – sie fühlte es nur hier.
Das Spülbecken sieht jetzt sagenhaft aus! Dieses matte Glänzen sollte sich nun ausbreiten über den Rest der Küche.
Christine fährt mit dem feuchten Wischtuch über die robuste Arbeitsplatte aus Granit und Gneis. Die zahlreichen Materialien der Küche: gebürsteter Edelstahl, amerikanischer Nussbaum, satiniertes Glas, Kastanie, Aluminium, europäische Eiche... safrangelb, blaugrau, oliv, ocker.
In der Mitte der Küche thront ein hüfthoher titangrauer Inselblock, ein Küchenmöbel, das mit seinem Cerankochfeld das Herz der Küche bildet und jahrelang das Versteck ihrer beiden Töchter gewesen war. Als wäre hier der Mittelpunkt der kleinen Welt von Patricia und Laura gewesen – ihr Nest; zwischen dem Geruch der Reinigungsmittel, Zwiebel- und Fettdämpfen und der Hitze der Herdplatten. Wenn sich eine ihrer Töchter in der Einbuchtung des Inselblocks versteckt hatte, musste Christine so tun, als wäre nichts, so als koche und arbeite sie wie jeden Tag. Das tat Christine immer. Jedes Mal spielte sie mit und kochte, putzte und schnitt, als wäre gar nichts.
Aber sie tat es auch, wenn die beiden nicht Versteck spielten, wenn überhaupt kein Anlass gewesen wäre, so zu tun, als ob.
Daran muss sie denken, an die Zeit der Versteckspiele, während sie mit dem Wischtuch auf die schwarze glänzende Glasplatte des Cerankochfelds kommt. Jetzt haben die beiden gerade Mittagspause, in der...
Erscheint lt. Verlag | 1.5.2012 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur |
Schlagworte | Ehebruch • Familie • Leidenschaft • Midlifecrisis • Sehnsucht • Selbstaufgabe |
ISBN-10 | 3-943876-30-6 / 3943876306 |
ISBN-13 | 978-3-943876-30-7 / 9783943876307 |
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