Urkundenfälschung (eBook)
375 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76920-1 (ISBN)
<p>Paul Nizon, geboren 1929 in Bern, lebt in Paris. Der »Verzauberer, der zur Zeit größte Magier der deutschen Sprache« (Le Monde) erhielt für sein Werk, das in mehreren Sprachen übersetzt ist, zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen, u. a. 2010 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur.</p>
2000
4. Januar 2000, Charenton
Was die Leute (wie aus einigen Bemerkungen in den erstaunlich vielen Reaktionen zur Werkausgabe, der Presse insgesamt, jetzt hervorgeht) allmählich zu begreifen scheinen, ist das handschellengeeinte Zusammengehen von Leben und Schreiben in meinem Falle, in dem Sinne, daß das Leben ganz auf das Schreiben ausgerichtet und beinah wie ein Hund abgerichtet ist und das Schreiben ganz und vielleicht fast nahtlos aus dem Leben aufsteigt, nämlich aus der ständigen und inständigen Verschriftlichung desselben, ohne welche es nicht wäre, nicht nur nicht zur Ansicht käme, sondern bare Unwirklichkeit bliebe. Daß so leicht keiner heutigentags vergleichbar der Schreibschöpfung also wohl Dichtung hingegeben lebt (anachronistisch?), wird erkannt und erwähnt, weniger jedoch daß daraus mein Sprachmenschentum hervorgeht. Mein Schreibleben und Lebschreiben ist letztlich ein Sprachringen und ich ein Sprachmensch ganz und gar. Und am Anfang war das Wort.
24. Januar 2000, Paris
»Mein Herz«
Nur weg und hinaus, um die Umgebung zu erkunden? Um davonzulaufen. Nur nicht auspacken, nur nicht das Mitgebrachte verteilen, laß es liegen. Nur nicht das Mitgebrachte hervorzerren, es bestand nicht einfach aus Kleinkram, es bestand aus Kleinmut, es bestand hauptsächlich aus Panik, aus Angst.
(Es ging mir auf, daß die Falle, die die damalige Tantenwohnung an der Rue Simart bedeutete, die größte Bedrohung darstellte, nicht weil sie so schachtelklein und unansehnlich schien, sie war es im Verhältnis zu der mitgebrachten Angst, eine Zelle, die schiere Isolationshaft. Ich steckte in einer ausgewachsenen Krise, kein Fünkchen Hoffnung in Sicht, kein Geld, keine Arbeit. An Arbeit war nicht zu denken, weil das Schreiben und schon gar das Bücherschreiben, mein bisheriges Geschäft, mir nicht nur abgestorben, sondern unvorstellbar schien, ganz und gar unzumutbar, alle diesbezüglichen Gefäße verstopft. Ich bestand aus Unvermögen, aus Kleinmut, ein Jammerlappen. Auch alle Zugehörigkeit war weg, kein Mensch weit und breit, den ich anrufen oder zu Hilfe rufen könnte. Ich war mutterseelenallein. Allein in Paris. Ich befand mich im Zustand der Selbstauflösung, ich lief innerlich aus wie ein lecker Behälter, vermutlich hieß der Zustand die ernsthafteste Depression. Und in diesem Zustand sah alles, sah vor allem die Zukunft bedrohlich aus. Würde ich mich aufraffen und aus der Falle befreien können? Oder war das die Endstation und hieß die Perspektive entweder Wahnsinn, ein Fall für die Klinik. Oder hieß sie Sozialfall, Herunterkommen bis auf die Stufe eines Clochards? Beides schien möglich.
Vor diesem Hintergrund ist das erste fluchtartige Spazieren zu verstehen. Es ging nicht einfach um Erkundungsgänge, es ging – mit Hilfe von Ausläufen in einem beschränkten Radius – um ein Buchstabieren von Wirklichkeit und mir zugehöriger Weltwirklichkeit, es ging demnach um die schrittweise Erschaffung einer Welt und damit meiner Welt und damit meiner Person, gewissermaßen aus NICHTS, Creatio ex nihilo.
Und das Festmachen geschah nach dem kleinen Erfahrungs- und Augenfutter draußen mit Worten.
Eine verzweifelte Aufgabe. Eine Verzweiflungstat. Die Überwindung der Unwirklichkeit und deren Schrecken (oder Schreckensherrschaft). In diesem Sinne ist das Auslaufen ein Nach-Worten-Laufen.
Es ist Niedergeschlagenheit, die mich alles so schwarz sehen läßt, es ist der (niedergeschlagene) Blick der Mutlosigkeit, der Angst, der mir die Tantenwohnung wie eine üble zum Ersticken enge Arrestzelle vor Augen stellt. Das Bild der Trostlosigkeit ist nur der Reflex meines eigenen Zustands, es ist nicht die Wirklichkeit. Ich muß den Blick ändern. Ich muß die Wirklichkeit erfinden. Alles ist Einbildung. Oder ist es das aus allen Ritzen hervorkriechende Tantenleben, das mich bedrückt? Du weißt ja gar nichts von ihr, du solltest sie kennenlernen. Alles liegt offen zutage. Setz sie zusammen. Sie ist kein Grund der Bedrückung, die Bedrückung rührt von deinem kategorischen Desinteresse ihr gegenüber her.
Eine weitere Idee.
Ich kann die Tante gewissermaßen zum Leben erwecken, indem ich mir angewöhne, mit ihr zu sprechen und dann zu diskutieren, bis sie in dem Einsamkeitswahn wirklich wird und zu antworten beginnt so ähnlich wie in dem Film Mein Freund Harvey mit James Stewart, der immer mit dem für fremde Augen unsichtbaren Plüschhasen Harvey zusammen ist, seinem besten Freund aus Kindheitszeiten, dem einstigen Kuscheltier. Das könnte auch eine Note Humor einbringen in die ganze Schwarzmalerei.
Ich gehe von dem Bild des abgestellten Koffers in der Tantenwohnung aus, dem eigenen Packen. Ich bin versucht, ihn als »mein Herz« anzusehen. Das aus dem Leibe gerissene Herz? Nicht das Herz, ich bin aus meinen bisherigen Umständen und Sicherheiten, vor allem Geborgenheiten verstoßen worden. Insofern wäre das Gepäckstück oder der PACKEN eine Projektion meiner Angst.
Und da ist die Tantenwohnung, die ich von Besuchen kenne, nun aber als meine Bleibe zu betrachten habe. Alles atmet sie. Ich stehe da und wage mich nicht zu regen. Ein Dieb, ein Eindringling, der sich fremdes Gut, wenn nicht fremdes Leben anzueignen im Begriff steht. Welch eine Ungemütlichkeit.
Und nun sollte man Fuß fassen und leben.
In fremden Kleidern gehen?
Die kleine Exposition ist der Prototyp von Ausgestoßensein, aufgezwungenem Neuanfang, Befremden und Fremde. Es ist im Grunde die gleiche Situation, die Stolz bei seiner Ankunft im Glashüttenhof vorfindet und empfindet. In seinem Fall ein Ausgeworfensein, das zu keinem Fußfassen führt.
Im Unterschied zu damals ist der Pariser Ankömmling kein junger Lebensanwärter, sondern ein mittelalterlicher Mann, der zwei Ehen und allerlei Erfahrungen hinter sich hat und in der Tantenwohnung von neuem anfangen soll. Ein Flüchtling. Ich spreche von dem abgestellten Packen als »mein Herz«. Nun, mein Herz ist nicht einfach gebrochen – aufgrund der Scheidung, eines eklatanten Liebesmangels, einer Müdigkeit und Erschöpfung, einer tiefen Ungeschützt-, Ungeborgenheit, eines totalen Ausgesetztseins, von Weh und Angst … –, sondern angefochten. Doch ist da auch ein Weckerchen Mut und Lebensaussicht, ein Restchen HOFFNUNG, das in dem Packen pocht.
Die Tantenwohnung eine Falle wie der Glashüttenhof weiland. Doch jetzt heißt es auch: alles auf eine Karte setzen. Der AUSWANDERER. Ich will ja um alles nicht die alten Themen neu aufwärmen, sondern einen neuen Schwerpunkt einbringen. Der Gesichtspunkt DER AUSWANDERER oder MUT der Verzweiflung müßte einen neuen Akzent setzen. Wobei die Gefahr eines Derivats vom Jahr der Liebe besteht. Das darf es auch nicht werden. Wo könnte der neue Aufhänger stecken? Mit dem Hund ist ja das Leben als reine Imagination – »gib mir genügend Einbildung, zum Weitergehen« –, also, wie Pierre Lepape in Le Monde sagt, die Abnabelung vom Autobiographischen bereits erreicht; und Anklänge sowohl an Stolz wie an Das Jahr der Liebe würden hinter diese erreichte Position zurückfallen und nach Aufgewärmtem schmecken. Wo zum Teufel könnte der neue Aspekt, Ausblick, Akzent, Einfall liegen? Im Erfinderischen, im rein Fiktionalen?
7. Februar 2000, Paris
Zurück aus Rom
Gestern, Sonntagvormittag, mit Hans Christoph von Tavel, der bis dahin wegen Grippe nicht erreichbar war, zum Frühstücken an die Via Veneto gegangen und hinterher im Institut zu einem Abschiedsblick auf den Turm des Palazzo Maraini gestiegen und bei herrlich sonnigem Licht die Stadt eingeatmet wie damals vor vierzig Jahren. Sie lag ausgebreitet mit all den lagernden Leibern und Kuppeln in diesem Licht, Römerlicht, südlichen Licht, Meereslicht. Und in diesem Licht, in dieser lichten Bläue lag alles ausgebreitet in den ockrigen Tönen, in einer leichten Leibhaftigkeit, bröcklig leicht wie Tongefäß und ebenso inschriftlich klar, gleichzeitig ockrige Gravur und dreidimensionale Plastizität und keine Spur von Schummrigkeit, es war antikische Klarheit, Frühzeit und Vollendung, ganz Hiersein und ganz Entrückung, und es lag ein Hallen oder Klingen in dieser Leiberstadt, etwas vom offenen Markt des Lebens, das Licht bis zur Erde reichend, es war Form und nicht Impression. Ja, und wenn man darin ist, muß man den scharfen Schatten mitdenken wie auf einem Bild von de Chirico, einen harten Schlagschatten wie von der Sonnenuhr. Und mitdenken muß man die paar Palmen und anderen gestalthaften grünen Pflanzen zum Mauerstein und ein frühzeitliches Glücksgefühl. Natürlich scharte sich vor Kirchenportalen das Pilgervolk, aber gleichzeitig war das Christentum austauschbar mit Gladiatorenzirkus. Und ich stand neben von Tavel, mit dem mich die gemeinsame Studienzeit in Bern verbindet, auf dem Turm und diesem Licht und schaute – ja, wohin eigentlich? In mein Leben von damals? In dieses Anfangslicht? In jene brennend junge Lebenserwartung, der schon wie ein Schlagschatten auf der Sonnenuhr die Grenze gezogen war? In einen hellsichtigen Traum? Nun, von Paris kommend, kam mir vor, als sei ich mindestens so weit weg wie in Ägypten. Und wie schön und genau wie einst die Cafébar, wo man...
Erscheint lt. Verlag | 23.1.2012 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Briefe / Tagebücher |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Gert-Jonke-Preis 2017 • Journal • Literaturpreis des Kantons Bern 2012 • Nizon • Nizon Paul • Nizon, Paul • Paul • Schweizer Grand Prix Literatur 2014 • Tagebuch 2000-2010 |
ISBN-10 | 3-518-76920-0 / 3518769200 |
ISBN-13 | 978-3-518-76920-1 / 9783518769201 |
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