Der Mensch ohne Inhalt (eBook)

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2012 | 1. Auflage
160 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76850-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Mensch ohne Inhalt -  Giorgio Agamben
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In den späten sechziger Jahren nahm Giorgio Agamben an Martin Heideggers Seminaren im südfranzösischen Le Thor teil. Damals entstand auch sein erstes Buch L'uomo senza contenuto, das 1970 erstmals erschien. Selbstbewußt und radikal stürzt er sich auf klassische Positionen der Ästhetik, er konfrontiert Platon, Kant und Hegel mit Künstlern und Autoren der Klassischen Moderne. In einer Zeit, in der die Kunst nicht länger die Funktion hat, das Wesen der Wirklichkeit zur Erscheinung zu bringen, wird sie zu einer selbstzerstörerischen Kraft, der Künstler, so Agamben, zu einem »Menschen ohne Inhalt«. Agambens erstes Buch liegt nun endlich auch auf Deutsch vor. »Agamben hat die verwaiste Stelle des Meisterdenkers eingenommen.« Die Welt

<p>Giorgio Agamben wurde 1942 in Rom geboren. Er studierte Jura, nebenbei auch Literatur und Philosophie. Der entscheidende Impuls für die Philosophie kam allerdings erst nach Abschluß des Jura-Studiums über zwei Seminare mit Martin Heidegger im Sommer 1966 und 1968. Neben Heidegger waren seitdem Michel Foucault, Hannah Arendt und Walter Benjamin wichtige Bezugspersonen in Agambens Denken. <br /> Als Herausgeber der italienischen Ausgabe der Schriften Walter Benjamins fand Agamben eine Reihe von dessen verloren geglaubten Manuskripten wieder auf. Seit Ende der achtziger Jahre beschäftigt sich Agamben vor allem mit politischer Philosophie. Er lehrt zur Zeit Ästhetik und Philosophie an den Universitäten Venedig und Marcerata und hatte Gastprofessuren u.a. in Paris, Berkeley, Los Angeles, Irvine.</p> <p></p>

§ 1 Was das Unheimlichste ist

In seiner dritten Abhandlung Zur Genealogie der Moral unterzieht Nietzsche Kants Definition des Schönen als interesseloses Wohlgefallen einer radikalen Kritik. Kant, schreibt er,

 

»gedachte der Kunst eine Ehre zu erweisen, als er unter den Prädikaten des Schönen diejenigen bevorzugte und in den Vordergrund stellte, welche die Ehre der Erkenntnis ausmachen: Unpersönlichkeit und Allgemeingültigkeit. Ob dies nicht in der Hauptsache ein Fehlgriff war, ist hier nicht am Orte zu verhandeln; was ich allein unterstreichen will, ist, dass Kant, gleich allen Philosophen, statt von den Erfahrungen des Künstlers (des Schaffenden) aus das ästhetische Problem zu visiren, allein vom ›Zuschauer‹ aus über die Kunst und das Schöne nachgedacht und dabei unvermerkt den ›Zuschauer‹ selber in den Begriff ›schön‹ hinein bekommen hat. Wäre aber wenigstens nur dieser ›Zuschauer‹ den Philosophen des Schönen ausreichend bekannt gewesen! – nämlich als eine grosse   p e r s ö n l i c h e   Thatsache und Erfahrung, als eine Fülle eigenster starker Erlebnisse, Begierden, Überraschungen, Entzückungen auf dem Gebiete des Schönen! Aber das Gegentheil war, wie ich fürchte, immer der Fall: und so bekommen wir denn von ihnen gleich von Anfang an Definitionen, in denen, wie in jener berühmten Definition, die Kant vom Schönen giebt, der Mangel an feinerer Selbst-Erfahrung in Gestalt eines dicken Wurms von Grundirrthum sitzt. ›Schön ist, hat Kant gesagt, was   o h n e    I n t e r e s s e   gefällt.‹ Ohne Interesse! Man vergleiche mit dieser Definition jene andre, die ein wirklicher ›Zuschauer‹ und Artist gemacht hat – Stendhal, der das Schöne einmal une promesse de bonheur nennt. Hier ist jedenfalls gerade Das   a b g e l e h n t   und ausgestrichen, was Kant allein am ästhetischen Zustand hervorhebt: le désintéressement. Wer hat Recht, Kant oder Stendhal? – Wenn freilich unsere Aesthetiker nicht müde werden, zu Gunsten Kant’s in die Wagschale zu werfen, dass man unter dem Zauber der Schönheit   s o g a r   gewandlose weibliche Statuen ›ohne Interesse‹ anschauen könne, so darf man wohl ein wenig auf ihre Unkosten lachen: – die Erfahrungen der   K ü n s t l e r   sind in Bezug auf diesen heiklen Punkt ›interessanter‹, und Pygmalion war jedenfalls   n i c h t   nothwendig ein ›unästhetischer Mensch‹.«1

 

Die Erfahrung der Kunst, wie Nietzsche sie in diesen Worten beschreibt, hat nichts gemeinsam mit einer Ästhetik. Es geht in ihr vielmehr darum, den Begriff der »Schönheit« von der aisthēsis, der Sinnlichkeit des Betrachters, zu reinigen, um die Kunst aus dem Blickwinkel ihres Schöpfers zu betrachten. Diese Reinigung resultiert aus der Umkehrung dessen, was das Kunstwerk in der Perspektive der Tradition ist: An die Stelle der Dimension des Ästhetischen – der sinnlichen Aneignung des schönen Objekts durch den Betrachter – tritt die schöpferische Erfahrung des Künstlers, der im eigenen Werk une promesse de bonheur erkennt. Am äußersten Punkt ihres Schicksals – in der »Stunde des kürzesten Schattens« – verläßt die Kunst den neutralen Horizont der Ästhetik, um sich in der »goldenen Scheibe« des Willens zur Macht wiederzuerkennen. Pygmalion, jener Bildhauer, der der Liebe zu seiner eigenen Schöpfung derart verfallen ist, daß er wünscht, sie möge nicht mehr zur Sphäre der Kunst gehören, sondern zum Leben, ist das Symbol dieser Wendung im Bereich des Nenners der Kunst, des Übergangs von der Idee einer interesselosen Schönheit zu der des Glücks, der Idee einer unbeschränkten Ausdehnung und Steigerung der Werte des Lebens. Zugleich verlagert sich der Schwerpunkt der Reflexion über die Kunst fort vom interesselosen Betrachter hin zum – interessierten – Künstler.

Daß er diesen Wandel vorausgesehen hat, ist ein Zeugnis mehr für die Richtigkeit von Nietzsches Vorhersagen. Vergleicht man diese Stelle der dritten Abhandlung über die Genealogie der Moral mit den Ausdrücken, derer sich Antonin Artaud im Vorwort zu Das Theater und sein Double zur Beschreibung des Todeskampfs der westlichen Kultur bedient, fällt gerade in diesem Punkt eine überraschende Übereinstimmung auf. »Unsre abendländische Vorstellung von Kunst und der Gewinn, den wir aus ihr ziehen, sind schuld am Verlust unsrer Kultur«, schreibt Artaud: »Unsrer trägen, unbeteiligten Vorstellung von Kunst setzt eine authentische Kultur eine magische und ungestüm egoistische, das heißt beteiligte Vorstellung entgegen.«2 Die Ansicht, daß die Kunst keineswegs eine desinteressierte Erfahrung ist, war in anderen Zeiten offenbar allgemein geteiltes Wissen. Wenn Artaud in »Das Theater und die Pest« auf den Beschluß des Pontifex Maximus Scipio Nasica hinweist, alle Theater Roms dem Erdboden gleichzumachen, sowie auf die Attacken, in denen der heilige Augustinus seiner Wut gegen das Theater, das den Tod der Seele verursacht, freien Lauf läßt, so spricht sich in Artauds Worten die ganze Sehnsucht aus, die ein Geist, für den das Theater nur »in einer magischen, furchtbaren Verbindung mit der Wirklichkeit und mit der Gefahr«3 Bedeutung besaß, für eine Epoche empfinden mußte, die eine derart konkrete und interessierte Idee vom Theater besaß, daß sie es zum Heil der Seele und der Stadt für erforderlich hielt, die Bühnen zu zerstören. Daß man heute nach derartigen Ansichten vergeblich suchen würde – selbst bei Befürwortern der Zensur –, muß nicht erst eigens erläutert werden; daß dagegen da, wo es zum ersten Mal zu einer autonomen Betrachtung des ästhetischen Phänomens als solchem kommt – in der Gesellschaft des europäischen Mittelalters –, dies in Form einer Haßkampagne gegen die Kunst geschieht, liegt weniger auf der Hand. Und doch ist dies nachzulesen in bischöflichen Sendschreiben, welche die musikalischen Innovationen der ars nova, die Modulation des Gesangs und den Gebrauch der fractio vocis, aus der Messe verbannten, da sie mit ihrer Faszination die Gläubigen ablenkten. Im übrigen hätte Nietzsche unter den Zeugnissen, die für interessierte Kunst Stellung nehmen, auch einen Passus aus Platons Politeia zitieren können – einen Passus, der oft wiederholt wird, wenn von der Kunst die Rede ist, ohne daß die Haltung, die sich in ihm ausspricht, einem modernen Ohr deshalb weniger anstößig klänge. Platon sieht ja bekanntlich im Dichter eine Bedrohung des Gemeinwesens und eine mögliche Ursache seines Untergangs. »Einem Mann also«, schreibt er,

 

»[…] wenn uns der selbst in die Stadt käme und auch seine Dichtungen uns darstellen wollte, würden wir Verehrung bezeigen als einem heiligen und wunderbaren und anmutigen Mann, würden ihm aber sagen, daß ein solcher bei uns in der Stadt nicht sei und auch nicht hineinkommen dürfe, und würden ihn, das Haupt mit vieler Salbe begossen und mit Wolle bekränzt, in eine andere Stadt begleiten.«4

 

Und mit einer Wendung, die unsere Sensibilität nur in Schaudern versetzen kann, ergänzt Platon später, dies müsse geschehen, weil »in den Staat nur der Teil von der Dichtkunst aufzunehmen« sei, »der Gesänge an die Götter und Loblieder auf treffliche Männer hervorbringt«.5

Doch schon vor Platon stoßen wir im Zusammenhang mit der Kunst auf eine solche Verdammung oder wenigstens auf einen solchen Verdacht, und zwar in einem Dichterwort. Am Ende des ersten Stasimon der Antigone läßt Sophokles den Chor den Menschen, soweit er techné besitzt (in dem weiten Sinn, den die Griechen diesem Wort beilegten, bezeichnete es die Fähigkeit, ein Ding hervorzubringen, es vom Nichtsein zum Sein zu bringen), als »das Beängstigendste« charakterisieren. Diese Macht, erklärt der Chor weiter, könne zum Heil, doch ebenso auch zum Untergang führen, bevor er seine Sicht in einer Weissagung zusammenfaßt, die Platons Bann über die Dichter vorwegnimmt:

 

»Nie sei Gast meines Herdes,
Nie mein Gesinnungsfreund,
Wer solches beginnt.«6

 

Edgar Wind hat bemerkt, daß das für uns so erstaunliche Verdammungsurteil Platons damit zu tun hat, daß die Kunst auf uns nicht mehr den Einfluß ausübt, den sie auf Platon hatte.7 Die Kunst findet bei uns also nur deshalb eine so gnädige Aufnahme, weil sie aus der Sphäre des Interesses herausgetreten und in die des bloßen...

Erscheint lt. Verlag 12.3.2012
Übersetzer Anton Schütz
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel L'uomo senza contenuto
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte edition suhrkamp 2625 • ES 2625 • ES2625 • Menschenlehre • Philosophie • Philosophische Anthropologie
ISBN-10 3-518-76850-6 / 3518768506
ISBN-13 978-3-518-76850-1 / 9783518768501
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