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Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse (eBook)

Perspektiven einer kritischen Theorie der Politik

(Autor)

eBook Download: EPUB
2011 | 1. Auflage
240 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76740-5 (ISBN)
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Rainer Forst entwirft eine kritische Theorie, die unsere politische Wirklichkeit auf ihre Defizite und ihre Potenziale hin zu entschlüsseln vermag. Dazu bedarf es einer Perspektive, die sozialen und politischen Praktiken immanent ist und sie zugleich transzendiert. Forst betrachtet die Gesellschaft insgesamt als »Rechtfertigungsordnung«, die aus Komplexen verschiedener auf Institutionen bezogener Normen und entsprechender Rechtfertigungspraktiken besteht. Eine »Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse« hat somit die Aufgabe, Legitimationen in ihrer Geltung und Genese zu analysieren sowie die ungleiche Verteilung von »Rechtfertigungsmacht« zu thematisieren. Vom Begriff der Rechtfertigung als sozialer Grundpraxis ausgehend, entwickelt Forst eine Theorie radikaler Gerechtigkeit, der Menschenrechte und der Demokratie sowie der Macht und der Kritik selbst. Schließlich stellt er die Frage nach dem utopischen Horizont der Gesellschaftskritik.



Rainer Forst ist Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt und Direktor des Forschungszentrums »Normative Ordnungen«. Sein Werk wird international breit diskutiert. Im Jahr 2012 erhielt er den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Forst ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der British Academy.

Vorwort 10
Einleitung: Zur Idee einer Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse 14
I. Radikale Gerechtigkeit 28
1. Zwei Bilder der Gerechtigkeit 30
2. Die Rechtfertigung der Menschenrechte und das grundlegende Recht auf Rechtfertigung 54
3. Die normative Ordnung von Gerechtigkeit und Frieden 94
II. Rechtfertigung, Anerkennung und Kritik 118
4. Der Grund der Kritik 120
5. Das Wichtigste zuerst 135
6. »Dulden heißt beleidigen« 156
III. Jenseits der Gerechtigkeit 180
7. Die Ungerechtigkeit der Gerechtigkeit 182
8. Republikanismus der Furcht und der Rettung 197
9. Utopie und Ironie 210
Nachweise 224
Literatur 226
Namenregister 238

291. Zwei Bilder der Gerechtigkeit


1. Von der Gerechtigkeit haben sich die Menschen zu verschiedenen Zeiten Bilder gemacht. Sie erscheint als Göttin Dike oder Justitia, zumeist mit, zuweilen aber auch ohne Augenbinde, doch in der Regel mit dem Schwert und stets mit einem Zeichen der Ausgewogenheit und der Überparteilichkeit; man denke etwa an Lorenzettis »Allegorie der guten Regierung« im Palazzo Pubblico in Siena. Manchmal ist die personifizierte Gerechtigkeit schön und erhaben, zuweilen aber auch – so in den berühmten, im Krieg zerstörten Gemälden Klimts für die Wiener Universität – grausam und hart.

Solche Darstellungen zu untersuchen ist ein faszinierender Topos,?[1] doch das Verständnis von »Bild«, das ich meinen Ausführungen zugrunde lege, ist ein anderes, ein sprachliches. In seinen PhilosophischenUntersuchungen schreibt Ludwig Wittgenstein: »Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unsrer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen.«?[2] Ein Bild dieser Art prägt unsere Sprache auf eine Sache hin, bündelt die Verwendungsweisen eines Wortes und macht so seine »Grammatik« aus: wie wir ein Wort verstehen und gebrauchen. Aber solche Bilder können unser Verstehen einer Sache auch in eine falsche Richtung lenken, etwa so, wie man beim Betrachten des berühmten Vexierbildes von der Ente und dem Hasen vielleicht immer nur einen Aspekt gesehen hat.?[3] Oder so, wie unser Denken von spezifischen Beispielen bestimmt ist, die uns zu falschen Verallgemeinerungen führen.?[4]

So soll es im Folgenden um zwei unterschiedliche Weisen gehen, den Begriff der Gerechtigkeit zu verstehen, deren Existenz man historisch und systematisch erklären kann, von denen eine 30aber verkürzt und einseitig ist. Ich ziehe es vor, diese beiden konkurrierenden Verständnisse von Gerechtigkeit als »Bilder« im Sinne Wittgensteins anzusehen, denn in ihnen sammelt sich ein Reichtum an konkreteren Vorstellungen und Bildern, und zwar nicht nur von Gerechtigkeit, sondern auch und besonders von der Ungerechtigkeit. Sie scheint das plastischere, unmittelbare Phänomen zu sein, verbunden mit Bildern der Geknechteten und der Elenden, der Entwürdigten. Ein Begriff wie Gerechtigkeit ist nicht denkbar ohne die Ungerechtigkeit, die aus der Welt geschafft werden soll – und die Ungerechtigkeit wiederum haftet an dem, was ich »praktische Bilder« nenne: Bilder von sozialen Situationen, zumeist historisch oder ästhetisch geformt, die die Sache, um die es geht, in einem umfassenden, auch wertenden Sinne ausdrücken. Aber es ist nicht nur das Bildhafte und die »Dichte« der Beschreibung, die ich betonen möchte; wichtig ist auch zu sehen, dass ein »Bild« der Gerechtigkeit einerseits bestimmten philosophischen Konzeptionen der Gerechtigkeit zugrunde liegt, dabei aber andererseits einen wesentlich allgemeineren Charakter hat.

 

2. Ich werde mich in meinen Ausführungen auf das Thema der politischen und sozialen Gerechtigkeit beschränken, also auf die Qualität der »Grundstruktur« eines sozialen Kooperationszusammenhangs, wie Rawls dies ausdrückt.?[5] Von der »Gerechtigkeit der Rechtsanwendung«, der Jurisprudenz, sehe ich dabei zunächst ab. Und mit dem Terminus »Grundstruktur« soll auch nicht präjudiziert sein, was in der zeitgenössischen Gerechtigkeitsdebatte ein großes Thema ist, nämlich die Frage, was als gerechtigkeitsrelevanter Kontext anzusehen ist: Verhältnisse innerhalb eines Nationalstaates, solche zwischen Staaten oder solche auf einer transnationalen Ebene bzw. der Weltgesellschaft. Die folgende Diskussion verhält sich dazu weitgehend neutral.?[6]

Was ich mit den beiden Bildern der Gerechtigkeit meine, ist Folgendes. Das Denken über soziale bzw. distributive Gerechtigkeit wird meines Erachtens von einem Bild »gefangen« gehalten, das es verhindert, der Sache auf den Grund zu gehen. Es verdankt sich einer bestimmten Deutung des antiken, seit Platon für das 31Verständnis von Gerechtigkeit zentralen Grundsatzes »Jedem das Seine« (suum cuique), welcher so gedeutet wird, dass es an erster Stelle darauf ankommt, was Einzelnen im Sinne der Gerechtigkeit an Gütern zukommt – wer was »erhält«. Die Suche nach Antworten darauf führt entweder zu Vergleichen der Güterausstattung von Personen miteinander und legt relative Schlussfolgerungen nahe, oder die Frage wird so verstanden, ob die Individuen »genug« von den lebenswichtigen Gütern für ein gutes bzw. menschenwürdiges Leben haben, ungeachtet komparativer Überlegungen. Diese güter- und distributionszentrierten, empfängerorientierten Sichtweisen haben zwar ihre Berechtigung, denn natürlich geht es bei der Verteilungsgerechtigkeit um die Zuteilung von Gütern; dennoch führt dieses Bild dazu, dass wesentliche Aspekte der Gerechtigkeit verdeckt werden, so – erstens – die Frage, wie die zu verteilenden Güter »in die Welt« kommen, also die Dimension der Produktion und ihrer gerechten Organisation. Aber mehr noch, die politische Frage, wer auf welche Weise über Strukturen der Produktion und der Verteilung bestimmt, also die Frage der Macht, wird damit – zweitens – übergangen, als ob es eine große Verteilungsmaschine geben könnte, die man nur richtig programmieren müsste.?[7] Aber eine solche Maschine darf es nicht nur nicht geben, da so die Gerechtigkeit nicht mehr als Errungenschaft der Subjekte selbst verstanden würde, sondern diese zu passiven Empfängern machte; dieser Gedanke vernachlässigt – drittens – zudem, dass berechtigte Ansprüche auf Güter nicht einfach »vorhanden« sind, sondern selbst nur diskursiv in entsprechenden Rechtfertigungsverfahren ermittelt werden können, an denen – und das ist die grundlegende Forderung der Gerechtigkeit – alle als Freie und Gleiche beteiligt sind.

Schließlich blendet die güterfixierte Sichtweise – viertens – auch die Frage der Ungerechtigkeit weitgehend aus, denn sofern sie sich auf zu behebende Mängel an Gütern konzentriert, ist ihr derjenige, der als Folge einer Naturkatastrophe Mangel an Gütern und Ressourcen leidet, demjenigen gleich, der als Folge wirtschaftlicher oder politischer Ausbeutung denselben Mangel leidet. Recht besehen, ist zwar in beiden Fällen Hilfe angezeigt, aber – nach mei32nem Verständnis der Grammatik der Gerechtigkeit – einmal als Akt moralischer Solidarität, und einmal als Akt der Gerechtigkeit, differenziert nach dem jeweiligen Involviertsein in Verhältnisse der Ausbeutung und des Unrechts?[8] und differenziert nach der Art von Übel, um das es geht. Ignoriert man diese Differenz, kann es – quasi in einer Dialektik der Moral?[9] – dazu kommen, dass als Akt großzügiger »Hilfe« angesehen wird, was eigentlich eine Forderung der Gerechtigkeit wäre.

Aus den genannten Gründen ist es auch und gerade dann, wenn es um Fragen der distributiven Gerechtigkeit geht, notwendig, die politische Pointe der Gerechtigkeit zu sehen und sich von dem falschen Bild zu befreien, das allein Gütermengen in den Blick rückt (so wichtig diese auch sind). Die Gerechtigkeit muss demgegenüber einem zweiten, angemesseneren Bild zufolge auf intersubjektiveVerhältnisseund Strukturen zielen, nicht auf subjektive oder vermeintlich objektive Zustände der Güterversorgung. Nur so, durch die Berücksichtigung der ersten Frage der Gerechtigkeit – der Rechtfertigbarkeit sozialer Verhältnisse und entsprechend der Verteilung von »Rechtfertigungsmacht« in einem politischen Zusammenhang –, ist eine radikale, kritische Vorstellung der Gerechtigkeit möglich: eine, die an die Wurzeln ungerechter Verhältnisse rührt.

 

3. Diese in gebündelter Form vorausgeschickten Thesen seien im Folgenden weiter erklärt. Zunächst gilt es – vielleicht nicht mehr ganz im Sinne Wittgensteins, dem es um die Pluralität von Perspektiven bzw. Aspekten ging – zu fragen, was es rechtfertigt, von einem »falschen« gegenüber einem »angemesseneren« Bild der Gerechtigkeit zu sprechen, kann doch das güter- bzw. empfängerzentrierte Verständnis sich auf den altehrwürdigen Grundsatz des Suumcuique berufen. Gibt es eine demgegenüber ursprünglichere, tiefere Bedeutung von Gerechtigkeit? Dies ist meines Erachtens der Fall; der Begriff der Gerechtigkeit besitzt einen Bedeutungskern, 33der als wesentlichen Gegenbegriff den der Willkür?[10] hat: sei es die Willkürherrschaft Einzelner, sei es die eines Teils der Gemeinschaft (etwa einer Klasse), sei es die Hinnahme sozialer Kontingenzen, die zu asymmetrischen Positionen bzw. Verhältnissen der Beherrschung führen und als schicksalhaft und unveränderbar hingenommen werden, ohne es zu sein. Die Herrschaft der Willkür ist Herrschaft von Menschen über Menschen ohne legitimen Grund, und wo der Kampf gegen Ungerechtigkeit aufgenommen wird, richtet er sich gegen solche Formen der Beherrschung. Der Grundimpuls gegen die Ungerechtigkeit ist nicht primär der des Etwas- oder Mehr-haben-Wollens, sondern der, nicht mehr beherrscht, bedrängt oder übergangen werden zu wollen in seinem Anspruch und Grund-Recht auf Rechtfertigung: Dieser Anspruch enthält die Forderung, dass es keine politischen oder sozialen Verhältnisse geben soll, die gegenüber den Betroffenen nicht adäquat gerechtfertigt werden können. Darin liegt das zutiefst politische Wesen der Gerechtigkeit, das der Satz des suum cuique...

Erscheint lt. Verlag 27.9.2011
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Gerechtigkeit • Kritische Theorie • Politik • STW 1962 • STW1962 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1962
ISBN-10 3-518-76740-2 / 3518767402
ISBN-13 978-3-518-76740-5 / 9783518767405
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