Unerfüllte Moderne? (eBook)

Neue Perspektiven auf das Werk von Charles Taylor
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2011 | 1., Originalausgabe
874 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75490-0 (ISBN)

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Unerfüllte Moderne? -
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Charles Taylor gehört zu den international renommiertesten Philosophen der Gegenwart. Sein Werk vereint Sozial- und politische Philosophie zu einer umfassenden Gütertheorie der Moderne. Als Vordenker des Kommunitarismus verteidigt er die normative Unhintergehbarkeit des Guten bei der Bestimmung des Menschen; als Theoretiker der Moderne kritisiert er den »Artikulationsstau« säkularer Großerzählungen. Der vorliegende Band, der aus Anlaß des 80. Geburtstages von Charles Taylor erscheint, beschäftigt sich mit zentralen Aspekten seines philosophischen Denkens. Er umfaßt Beiträge von Philosophen, Theologen, Soziologen und Juristen, darunter Christoph Menke, Karl Kardinal Lehmann, Hans Joas und Hartmut Rosa, sowie eine Replik von Charles Taylor.

<p>Michael K&uuml;hnlein ist Lehrbeauftragter f&uuml;r Philosophie an der Goethe-Universit&auml;t Frankfurt am Main.</p>

Inhalt 6
Michael Kühnlein Matthias Lutz-Bachmann Einleitung: Philosophie als Selbstreflexion der Moderne 10
I. Resonanz, Exkarnation und Kapitalismus 14
Hartmut Rosa Is There Anybody Out There? 16
Hauke Brunkhorst Die große Geschichte der Exkarnation 45
Axel Honneth Markt und Moral 79
II. Liberalismus, Pragmatismus und Hermeneutik 106
Enno Rudolph Rousseau absconditus 108
Ludwig Nagl »The Jamesian open space« 118
Franz-Josef Bormann Zwischen partikularer Hermeneutik und universaler Objektivität 162
Michael Haus Charles Taylor und Michael Walzer 186
III. Authentizität, Freiheit und Moderne 216
Christoph Menke Was ist eine »Ethik der Authentizität«?* 218
Thomas Buchheim Negative und positive Freiheit 240
Ludwig Siep Hegels und Taylors Kritik der Moderne 262
Jean-Pierre Wils Wahl und Kontexte 295
IV. Christentum, Religion und Moral 326
Karl Kardinal Lehmann Entsteht aus dem verfälschten Christentum die Moderne? 328
Friedo Ricken Ethik des Glaubens 351
Matthias Lutz-Bachmann Religion in den Ambivalenzen der Moderne 372
Michael Kühnlein Religion als Auszug der Freiheit aus dem Gesetz? 389
Lino Klevesath und Walter Reese-Schäfer Eine moralische Überlastung von Religion 447
Christian Danz Religion als Selbstdeutung 476
Heinz Kleger Moderne Bürgerreligion 494
Claus Leggewie Religionsvielfalt als Problem? 530
V. Säkularisierung, Subtraktion und Transzendenz 546
Volker Gerhardt Säkularisierung: Eine historische Chance für den Glauben 548
Thomas Rentsch Wie ist Transzendenz zu denken? 574
Holmer Steinfath Subtraktionsgeschichten und Transzendenz 600
Jürgen Goldstein Säkularisierung als Vorsehung 624
Markus Knapp Gott in säkularer Gesellschaft 651
Udo Di Fabio Zur Aufklärung der säkularisierten Gesellschaft 682
Hans-Joachim Höhn Reflexive Säkularisierung 699
Hans Joas Wellen der Säkularisierung 717
VI. Gnade, Liebe und Wahrheit 732
Wolfgang Palaver Güterordnung und vermittelnde Gnade 734
Peter Strasser Bedingungslose Liebe 756
Micha Brumlik Das rabbinische Verständnis theologischer Wahrheit – ein Vorläufer pragmatistischer Wahrheitstheorien? 781
Martin Seel Glaube, Hoffnung, Liebe – und einige andere nicht allein christliche Tugenden 798
Charles Taylor Replik 822
Hinweise zu den Autoren 863
Namenregister 867

44Hauke Brunkhorst
Die große Geschichte der Exkarnation


»Wir arme Leut! Sehen Sie, Herr Hauptmann […]. Ich glaub’, wenn wir in den Himmel kämen, so müßten wir donnern helfen.«

(Georg Büchner, Wozzeck)

I


Die Wiederkehr der großen Erzählung bestimmt den Beginn des neuen Jahrtausends. Man kann sich streiten, ob sie je verschwunden war, ob sie überhaupt verschwinden konnte, denn allzu offensichtlich ist die Geschichte des Triumphs der vielen kleinen Geschichten über die für tot und totalitär erklärte Großerzählung auch nur eine große Geschichte vom Ende der großen Geschichten. In seinem Riesenwerk über das säkulare Zeitalter macht Taylor sich genau diesen Einwand, der die postmoderne Kritik des meta-, master oder grand narrative eines pragmatischen Selbstwiderspruchs überführt, zu eigen:

 

Es gibt eine trendige »Postmoderne«, die behauptet, das Zeitalter der großen Erzählung sei vorbei […]. Aber die Nachricht von ihrem Hinscheiden ist offensichtlich übertrieben, denn die postmodernen Autoren selbst bedienen sich der gleichen Redefigur, wenn sie die Herrschaft des Narrativen für beendet erklären: Früher liebten wir die großen Geschichten, doch jetzt haben wir ihre Gehaltlosigkeit erkannt und gehen zum nächsten Stadium über. Dieser Refrain klingt vertraut.[1]

Heute jedenfalls gibt es kaum noch einen Zweig der Sozial-, Geistes- und Humanwissenschaften, in dem die große Erzählung nicht erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wäre.

Das Masternarrativ der Evolutionstheorie findet weit über die Biologie und ihre Nachbardisziplinen hinaus immer mehr Beach45tung, und ihre jüngste Geschichte ist nicht nur ein eher abschreckendes Beispiel von Wissenschaftsimperialismus (neoliberale Soziobiologie, neurophysiologische Freiheitstheorien usw.), sondern zeigt auch eindrucksvoll, wie sie noch den letzten Rest einer heimlichen Teleologie des survival of the fittest abstößt, ohne als Großerzählung verschwinden oder gar den universellen Erklärungsanspruch preisgeben zu müssen.[2]

In den Geschichtswissenschaften ist die Welt- und Globalisierungsgeschichte zur dynamischsten Wachstumsbranche avanciert.[3] Dabei hat sie en passant den Eurozentrismus vollständiger dezentriert als jede andere Disziplin.[4] Der Grund liegt ganz einfach darin, dass Weltgeschichte am Beginn des 21. Jahrhunderts keine europäische Konstruktion europäischer Wissenschaftseliten mehr ist, wie noch im 19. Jahrhundert, sondern, spätestens seit die Welt zur politischen Schicksalsgemeinschaft geworden ist, handgreifliche Realität und unausweichlicher alltäglicher Erfahrungsraum – und damit auch ihre Geschichte die Geschichte einer jeden Weltbürgerin und eines jeden Weltbürgers.[5]

In der Soziologie treten der Begriff der Weltgesellschaft und die große Erzählung ihrer Evolution an die Stelle des abgewirtschafteten methodischen Nationalismus früherer Tage und nimmt dem 46okzidentalen Rationalismus (Weber) jede universalgeschichtliche Bedeutung.[6] Modernisierung: rationale Technik, Wirtschaft und Wissenschaft, Massenöffentlichkeit und Massenkultur, positives Recht, rationale Organisation, Gefängnis, Krankenhaus und öffentlich organisierte Erziehung (Kindergärten, Schulen, Universitäten), Verfassung und Demokratie sind, so wird erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts erkennbar, universelle evolutionäre Errungenschaften, die, einmal erfunden, sich auf ganz verschiedene Weisen überall zur Geltung bringen und sich längst von ihrem vermeintlichen Ursprung im Abendland emanzipiert haben. Ihre universelle Verwendbarkeit macht die Frage nach ihrem Ursprung oder ersten Erfinder (der Westen, Europa, Athen, Rom, Perikles usw.) so bedeutungslos wie die Frage, welche Spezies zuerst das Auge erfunden hat.[7] Die Globalisierung verwandelt auch »die christlichen Kirchen« aus »bloß westlichen« in »globale Körperschaften«, die sich nur noch deshalb auf einen lokalen Stifter und Ort beziehen können, weil sie die globale Erweiterung des Erdkreises und die universelle Gemeinschaft, zu der sie jetzt erst geworden sind, von vornherein antizipiert hatten.[8] Sie holen, mit dem Großerzähler Marx zu reden, ihre eigenen (normativen) Voraussetzungen ein.[9] Auch in der soziologischen Handlungstheorie hat die Makrophänomenologie die Mikrophänomenologie der vielen kleinen Geschichten und Kulturen zu einer Theorie der in sich differenzierten Weltkultur oder der entangled und multiple modernities integriert und damit den okzidentalen Rationalismus ebenso vollständig dezentriert wie der in Echtzeit ubiquitär präsente Papst.[10]

47In der Philosophie signalisiert nicht zuletzt Taylors Säkulares Zeitalter die mächtige Wiederkehr der grand narratives. Auch hier zeichnet sich ein Lernprozess ab, der nicht zur Preisgabe der großen Erzählung und ihres universellen Erklärungsanspruchs, sondern zu ihrer immanenten Selbstkorrektur führt. Anders als noch bei Jaspers, auf dessen genealogische Großerzählung von der eurasischen Achsenzeit Taylor zurückgreift, sind Ursprung und Ziel der Geschichte, deren Einheit Jaspers noch selbstverständlich vorausgesetzt hatte, in der Taylorschen Großerzählung entkoppelt.[11] Hatte Jaspers schon den »onto-theologischen« (Heidegger) Eurozentrismus des katholischen Dreiecks Athen – Rom – Jerusalem mit Sitz in Rom[12] ebenso dezentriert wie den neopaganen der Heideggerschen Seinsgeschichte, so nimmt Taylor das Ziel der Geschichte in die Immanenz einer Mehrzahl sozialer Vorstellungsschemata zurück, und der eine Ursprung der Geschichte weicht einer komplexen Konstellation von Ursprüngen, die sich in einem Zickzackkurs vor- und zurückbewegen, interferieren und voneinander abspalten. Taylor spricht gelegentlich von einer »Zickzackerklärung« und verwendet das Bild des »Nova-Effekts«, um die auseinanderstrebenden Richtungen in der spannungsreichen, brüchigen, in sich widersprüchlichen Einheit des Modernisierungskurses zu beschreiben.[13]

48Aber nicht nur in der Art und Weise, in der Taylor die große Geschichte der dreistufigen Evolution unserer sozialen Vorstellungsschemata – vom vorachsenzeitlichen zum achsenzeitlichen und vom vorsäkularen zum säkularen Zeitalter – noch einmal erzählt, spiegelt einen Lernprozess, bei dem sich Zwecke und Ursachen entkoppelt haben. Auch die Geschichte, die Taylor erzählt, stellt einen irreversiblen Lernprozess dar. Ein solcher Lernprozess ist nur um den Preis von Regression und Selbstzerstörung, der alle Hoffnung auf Rückkehr erst recht zunichtemacht, umkehrbar. Er ist, wie Taylor schreibt, einem Sperrklinkeneffekt (ratchet effect) vergleichbar.[14] Was darunter jeweils zu verstehen ist, ist strittig, nicht jedoch die Tatsache als solche. Unstrittig scheint mir auch zu sein, dass diese Geschichte keinem einfachen Kausalmechanismus folgt, bei dem jeder Säkularisierungs-, Entzauberungs- und Rationalisierungsschritt von der Religion einfach abgezogen wird, so dass am Ende nichts mehr von ihrem Rationalisierungspotential übrig bleibt, sondern allenfalls noch ihre »bloße«, vernunftlose »Existenz« (Hegel). Die Überwindung der »Subtraktionsgeschichte« (Taylor) ist selbst Teil jenes Lernprozesses, der die Entwicklungsgeschichte der grand narratives antreibt.[15]

II


Verursacht wird der Sperrklinkeneffekt durch einen langen und wechselreichen, immer wieder neu und anders ansetzenden Prozess fortschreitender und wiederholter Disziplinierung, Unterwerfung und Unterdrückung der Volksmassen durch aufgeklärte und intellektuell radikalisierte Eliten, der beherrschten durch die herrschenden Klassen, der ungebildeten und armen Bauern durch die gebildeten und reichen Bürger, Kleriker und Adligen, der Völker der Peripherie durch die Völker des jeweiligen Zentrums. »Coercion works.«[16] Zumal dann, wenn die Disziplinierung durch Arbeit und Zwang einen entsprechend machtunterworfenen Körper hervor49bringt, der seine Eigenmacht nur noch durch vorlaufende Unterwerfung reproduzieren kann. Herbert Marcuse hat das einmal den »psychischen Thermidor« genannt.[17] REFORM von oben.[18] Davon und von der »disciplinary revolution« (Gorski), dem »Prozess der Zivilisierung« (Elias) und den Praktiken der Strafandrohung und Sexualunterdrückung, die aus dem Innern der Kirchen und Weltreligionen (= nachachsenzeitliche Religionen und metaphysische Weltbilder) hervorgegangen sind und die Seele in ein Gefängnis des Körpers (Foucault) verwandelt haben, ist viel in dem Buch von Taylor die Rede.[19] Immer wieder wurde – mit offenbar wachsendem Erfolg – versucht, »den Unterschichten ein neues Gesicht zu geben. Man läßt sie nicht, wie sie sind, sondern man piesackt, schikaniert und bedrängt sie, hält ihnen Predigten, drillt und organisiert sie«, kurz: man begann – oft eher absichtslos – damit, »diese Menschen umzukrempeln, bis sie dem Ideal« des guten Christen, des gehorsamen Untertanen oder der Zivilisation »zur Gänze entsprachen«.[20] Abweichler (oder die, die man ihrer Natur nach als solche definierte[21]) wurden durch Indoktrination und 50»Stockhiebe« (Augustinus) zur Räson gebracht – oder...

Erscheint lt. Verlag 16.11.2011
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Charles • Die Moderne • Politische Philosophie • Sozialphilosophie • STW 2018 • STW2018 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2018 • Taylor • Taylor, Charles
ISBN-10 3-518-75490-4 / 3518754904
ISBN-13 978-3-518-75490-0 / 9783518754900
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