Mein Name sei Gantenbein (eBook)

Roman

(Autor)

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2011 | 1. Auflage
304 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74990-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mein Name sei Gantenbein -  Max Frisch
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Der Erzähler erfindet (»Ich stelle mir vor:«) mögliche Lebensgeschichten dreier Personen: Da ist Gantenbein, der einen Blinden spielt, um so genauer seine Umwelt beobachten zu können. Oder da ist Enderlin, der immer »ein fremder Herr« bleibt. Auch Svoboda muß die Erfahrung machen, daß Liebe und Ehe endlich sind. Übrig im Spiel der erdichteten Rollen bleibt: Gantenbein.

Max Frisch, geboren am 15. Mai 1911 in Z&uuml;rich, arbeitete zun&auml;chst als Journalist, sp&auml;ter als Architekt, bis ihm mit seinem Roman <em>Stiller</em> (1954) der Durchbruch als Schriftsteller gelang. Es folgten die Romane <em>Homo faber</em> (1957) und <em>Mein Name sei Gantenbein</em> (1964) sowie Erz&auml;hlungen, Tageb&uuml;cher, Theaterst&uuml;cke, H&ouml;rspiele und Essays. Frisch starb am 4. April 1991 in Z&uuml;rich.

Also gut, sagt er, B 2 × A 3!

Mein Partner hält mich wirklich für blind.

B 5 × A 1! bitte ich, und während mein Partner eigenhändig seinen Turm hinauswerfen muß, um meine Königin in seine König-Linie zu stellen – er schüttelt den Kopf, und für den Fall, daß Gantenbein nicht im Bild ist, sagt er es selbst: Schach! – sage ich zu Lila, sie soll uns jetzt nicht stören, aber zu spät; mein Partner legt seinen König auf den Bauch, was zu sehen mir nicht zukommt; ich warte, meine Pfeife saugend.

Matt! meldet er.

Wieso?

Matt! meldet er.

Ich werde ein Phänomen.

 

Jetzt ist es schon soweit, daß Lila sogar ihre Briefe herumliegen läßt, Briefe eines fremden Herrn, die unsre Ehe sprengen würden, wenn Gantenbein sie lesen würde. Er tut's nicht. Höchstens stellt er einen Aschenbecher oder ein Whisky-Glas drauf, damit kein Wind drin blättern kann.

 

Hoffentlich falle ich nie aus der Rolle. Was hilft Sehen! Es mag sein, daß Gantenbein, der Größe seiner Liebe nicht gewachsen, gelegentlich die Blindenbrille vom Gesicht reißt – um sofort die Hand vor seine Augen zu legen, als schmerzten sie ihn.

»Was hast du?«

»Nichts«, sage ich, »mein Liebes –«

»Kopfschmerzen?«

Wenn Lila wüßte, daß ich sehe, sie würde zweifeln an meiner Liebe, und es wäre die Hölle, ein Mann und ein Weib, aber kein Paar; erst das Geheimnis, das ein Mann und ein Weib voreinander hüten, macht sie zum Paar.

 

Ich bin glücklich wie noch nie mit einer Frau.

Wenn Lila, plötzlich wie aufgescheucht und gehetzt, weil offenbar verspätet, im Hinausgehen sagt, heute müsse sie zum Coiffeur gehen, sie habe Haare wie eine Hexe, und wenn Lila dann vom Coiffeur kommt, der dafür bekannt ist, daß er warten läßt, und dabei sehe ich auf den ersten Blick, daß ihr Haar nicht beim Coiffeur gewesen ist, und wenn Lila, ohne gerade zu betonen, daß sie es unter der Dauerwellenhaube gehört habe, von einem Stadtereignis berichtet, wie es etwa beim Coiffeur zu hören ist, sage ich nie: Lilalein, warum lügst du? Und wenn ich's noch so liebevoll sagen würde, sozusagen humorvoll, sie wäre gekränkt; sie würde Gantenbein fragen, woher er die unerhörte Behauptung nehme, sie sei nicht beim Coiffeur gewesen, Gantenbein, der ihr Haar ja nicht sehen kann. Ich sehe es, aber finde nicht, daß Lila wie eine Hexe aussieht. Also ich sage nichts, auch nichts Humorvolles. Muß ich denn wissen, wo Lila seit vier Uhr nachmittags gewesen ist? Höchstens sage ich, ohne ihr geliebtes Haar zu berühren, versteht sich, im Vorbeigehen: Herrlich siehst Du aus! und sie fragt dann nicht, wieso Gantenbein das behaupten könne; es beglückt sie, wer immer es sagt. Und ich meine es ja auch ehrlich; Lila sieht herrlich aus, gerade wenn sie nicht beim Coiffeur gewesen ist.

Auch Lila ist glücklich wie noch nie.

Von Blumen, die plötzlich in unsrer Wohnung stehen, spreche ich nur, wenn ich weiß, wer sie geschickt hat; wenn ich es durch Lila weiß. Dann kann ich ohne weiteres sagen: Diese Orchideen von deiner Direktion, glaube ich, kann man jetzt in den Eimer werfen. Und Lila ist einverstanden. Dann und wann gibt es aber auch Blumen, die ich besser nicht erwähne, Rosen, die Lila selbst nicht erwähnt, dreißig langstielige Rosen, und obschon ihr Duft unweigerlich die Wohnung füllt, sage ich nichts. Wenn ein Gast hereinplatzt: Herrlich diese Rosen! höre ich nichts, und es wäre nicht nötig, daß Lila jetzt sagt, wer sie geschickt habe. Wenn ich höre, wer sie geschickt habe, verstehe ich nicht, warum sie die Rosen, die ich seit drei Tagen sehe, bisher verschwiegen hat. Ein harmloser Verehrer ihrer Kunst. Lila ist dann um Namen nicht verlegen; es gibt viele Verehrer ihrer Kunst, die nicht nur Gantenbein bedauern, weil er, wie sie wissen, ihre Kunst nicht sieht, sondern sie bedauern auch Lila; sie bewundern diese Frau nicht nur um ihrer Kunst willen, sondern ebenso sehr auch mensch­lich, da sie einen Gatten liebt, der ihre Kunst nicht sieht. Drum die Rosen. Oder was immer es sei. Ich frage nie, wer ihr das lustige Armband geschenkt habe. Was ich sehe und was ich nicht sehe, ist eine Frage des Takts. Vielleicht ist die Ehe überhaupt nur eine Frage des Takts.

 

Manchmal hat Lila, wie jede Frau von Geist, ihre Zusammenbrüche. Es beginnt mit einer Verstimmung, die ich sofort sehe, und jeder Mann, der sich nicht blind stellt, würde nach einer Weile fragen, was denn los sei, zärtlich vorerst, dann wirsch, da sie schweigt und immer lauter schweigt, um nicht aus ihrer Verstimmung heraus zu kommen, und schließlich schuldbewußt, ohne sich einer genauen Schuld bewußt zu sein:

Habe ich dich gekränkt?

So rede schon!

Was ist denn los?

Usw.

All diese Fragen, zärtlich oder wirsch oder abermals zärtlich oder aufsässig, da sie nach marterndem Schweigen nur halblaut und schon dem Schluchzen nahe sagt, es sei nichts, führen zu keiner Entspannung, ich weiß, nur zu einer schlaflosen Nacht; schließlich nehme ich, um Lila, wie sie es wünscht, in Ruhe zu lassen, mein Kissen, wortlos, um im Wohnzimmer auf dem Boden zu schlafen, aber ich höre ihr lautes Schluchzen kurz darauf und nach einer halben Stunde kehre ich zu Lila zurück. Aber jetzt kann sie überhaupt nicht mehr sprechen; meine Aufforderung zur Vernunft überfordert mich selbst, ich schreie, was mich ins Unrecht setzt, bis der Morgen graut, und im Laufe des andern Tages werde ich um Verzeihung bitten, ohne den Grund ihrer Verstimmung zu erfahren, und Lila wird verzeihen –

All dies bleibt Gantenbein erspart.

Ich sehe sie einfach nicht, ihre Verstimmung, die jeden, der sieht, hilflos macht; sondern ich plaudere blindlings oder schweige blindlings über ihr jähes Verstummen hinweg – es sei denn, daß Lila, von meiner Blindnis genötigt, rundheraus meldet, was sie diesmal verstimmt hat; darüber aber kann man sprechen.

 

Eine Lebenslage, wo Gantenbein seine Blindenbrille abnimmt, ohne deswegen aus seiner Liebesrolle zu fallen: die Umarmung.

Ein Mann, ein Weib.

Sie kennt vermutlich viele Männer, solche und solche, auch Versager, weil sie sich zu etwas verpflichtet wähnen, was von der Frau nicht in erster Linie erwartet wird, Vergewaltiger nicht aus Rausch, sondern vom Willen her, Ehrgeizlinge, die vor Ehrgeiz versagen, langweilig, Tumblinge sind die Ausnahme, einmal vielleicht ein italienischer Fischer, meistens aber Männer von Geist, Neurotiker, störbar und schwierig, wenn sie die Augen von Lila sehen, sie küssen mit geschlossenen Augen, um blind zu sein vor Verzückung, aber sie sind nicht blind, haben Angst und sind taub, haben nicht die Hände eines Blinden, Hingabe, aber nicht bedingungslos, nicht unstörbar, Zärtlichkeit, aber nicht die Zärtlichkeit eines Blinden, die erlöst von allem, worüber man erschrickt, wenn man es vom andern auch gesehen weiß; ein Blinder kommt nicht von außen; ein Blinder, eins mit seinem Traum, vergleicht sie nicht mit andern Frauen, nicht einen Atemzug lang, er glaubt seiner Haut –

Ein Mann, ein Weib.

Erst am andern Morgen, wenn Lila noch schläft oder so tut, als schlafe sie, um ihn nicht aus seinem Traum zu wecken, nimmt Gantenbein schweigsam seine Brille wieder vom Nachttisch, um Lila vor jedem Zweifel zu schützen; erst das Geheimnis, das sie voreinander hüten, macht sie zum Paar.

 

Ich stelle mir vor:

Gantenbein steht in der Küche, Lila ist verzweifelt, sie kann es nicht sehen, daß Gantenbein, ihr Mann, immer in der Küche steht. Lila ist rührend. Sie kann es einfach nicht glauben, daß keine saubere Tasse mehr in der Welt ist, nicht eine einzige. Gehn wir aus! sagt sie, um den Heinzelmännchen eine Gelegenheit zu geben … Also man geht aus … Lila kann Schmutz nicht sehen, der Anblick von Schmutz vernichtet sie. Wenn du sehen könntest, sagt Lila, wie es in dieser Küche wieder aussieht! Manchmal geht Lila in die Küche, um ein Glas zu waschen oder zwei, einen Löffel oder zwei, während Gantenbein, besserwisserisch wie die meisten Männer, findet, in der Serie gehe es flinker. Eine Stunde in der Küche, pfeifend oder auch nicht, wäscht er sämtliche Löffel und sämtliche Tassen und sämtliche Gläser, um frei zu sein für einige Zeit. Er weiß, es wird immer wieder vorkommen, daß man einen Löffel braucht oder ein Glas, meistens ein Glas, wenn möglich eins, das nicht klebrig ist, und wenn Lila in die Küche geht, so ist Gantenbein auch nicht frei; er weiß, wie unpraktisch sie es macht. Und mehr als das; er weiß, man soll einer Frau keine praktischen Ratschläge erteilen, es verletzt sie bloß und ändert nichts. Was tun? Ein Mann, der bei einer Frau, die er liebt, eine gewisse Tüchtigkeit vermißt, wirkt immer lieblos; es gibt einen einzigen Ausweg: daß er darin ihren eigentlichen und besonderen Charme sieht, obschon das so besonders nicht ist. Aber was tun? Solang keine Haushälterin vom Himmel fällt, hilft es nichts, daß es Lila in der Seele kränkt, wenn sie sieht, wie Gantenbein in der Küche steht, eine Schürze umgebunden, und wie er täglich die Mülleimer holt, die leeren Flaschen entfernt und die verknitterten Zeitungen, die Drucksachen, die Paketschnüre, die ekligen Schalen einer Orange voller Lippenstiftzigarettenstummelchen –

Ich glaube, ich habe die Lösung!

Da Lila wirklich nicht will, daß Gantenbein, ihr Blinder, das Geschirr wäscht, nur weil es sich nicht selber wäscht, ja, es trägt sich nicht einmal selber in die Küche, und da Lila jedesmal, wenn in der Küche alles blitzblank ist wie in einem Küchenfachgeschäft, traurig wird wie über einen heimlichen Vorwurf, ist Gantenbein dazu übergegangen, nie wieder die ganze Küche zu putzen. In der Tat, ich geb's zu, ist meistens eine kleine...

Erscheint lt. Verlag 20.4.2011
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Blindheit • Gantenbein • Identität • Klassiker • Liebe • Lüge • Max Frisch • Phantasie • Realität • Roman • Schweiz • Soziale Rolle • ST 286 • ST286 • suhrkamp taschenbuch 286 • Täuschung • Verschiebung
ISBN-10 3-518-74990-0 / 3518749900
ISBN-13 978-3-518-74990-6 / 9783518749906
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