Freier Fall (eBook)

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2011 | 1. Auflage
399 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74780-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Freier Fall -  Nicolai Lilin
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Weil er widerspenstig ist und eine kriminelle Vergangenheit hat, wird der achtzehnjährige Kolima zu den »Saboteuren« eingezogen, einer Spezialeinheit der russischen Armee für Aufträge hinter den feindlichen Linien. Er wird zum Scharfschützen ausgebildet. Seine Fluchtversuche werden vereitelt. Es folgen zwei Jahre Einsatz in Tschetschenien. Nach der Entlassung irrt er durch seine Heimatstadt Bender, schlaflos, voller Haß und Unrast, nicht ohne eine perverse Sehnsucht nach den klaren Verhältnissen des schmutzigen Krieges. Schließlich fährt er nach Sibirien, in der Hoffnung auf Besänftigung durch Einsamkeit und Natur. Nicolai Lilins 'Freier Fall' ist eine detaillierte und grausame Kriegserzählung, der schonungslose Bericht eines Tschetschenien-Kämpfers, der einerseits zwangsrekrutiert wurde, das Regime und dessen Krieg haßt - andererseits aber professionell und erfolgreich mitgemacht hat.

<p>Nicolai Lilin, geboren 1980 in der Stadt Bender in Transnistrien, kam 2003 nach Italien, ins piemontesische Cuneo, wo er als Tattoo-Künstler lebt.</p> <br />

Freier Fall 6
Die Fledermaus der Fallschirmjäger 70
Fordern unsere Bombardierung an 100
Niemand wird es je erfahren ... 192
Verfassungsmäßige Ordnung 298
Der Atem der Finsternis 342
Inhalt 401

Als ich achtzehn wurde, hatte ich schon jede Menge Geschichte erlebt. So wie die Welt, nur dass ihre Geschichte viel komplexer war als meine. Mein Heimatland war dabei, sich in ein Reich des Absurden zu verwandeln. Der Kapitalismus, den alle so sehr herbeigesehnt hatten, ließ weiter auf sich warten. Es regierte die Mentalität der Diebe, jener, die auf schnelles Geld aus waren, die schlauer sein wollten als Gott. Wie mein Großvater sagte: »Ein jeder versuchte Gott den Bart abzureißen und ihn sich selbst anzupassen.«

In Transnistrien wurde über nichts anderes geredet als die westliche Gesellschaft. Die USA und Europa waren das lebende Beispiel für wirtschaftlichen und sozialen Wohlstand, alle wollten verwestlichen und glaubten, wenn sie Markenklamotten trügen, Fastfood äßen und ausländische Autos kauften, würde die Demokratie schon von allein kommen und sich in unserem schönen großen Vaterland etablieren. Es war wie eine ansteckende Krankheit, ein Fieber, dessen Ursprung und Natur sich niemand erklären konnte.

Die postsowjetische Gesellschaft hatte die Werte vernichtet, an die meine Eltern und Großeltern glaubten, jene Menschen, die mich erzogen hatten und die für mich die höchste Stufe menschlicher Weisheit verkörperten. Je mehr die West-Euphorie wuchs, desto unübersehbarer wurden unsere Tage vom Chaos beherrscht.

Und in diesen lustigen Zeiten wurde ich also, wie gesagt, achtzehn.

 

Eines Frühlingsmorgens, als ich das Haus verließ, fand ich im Briefkasten einen weißen Zettel mit einer roten Zeile, die schräg über das Blatt lief, von einer Ecke zur anderen. Darauf stand, dass die Russische Föderation mich auffordert, mitsamt Ausweis zur Musterung zu erscheinen. Dies sei die dritte und letzte Aufforderung, und wenn ich mich nicht innerhalb von drei Tagen einstelle, drohe mir eine Verurteilung wegen, so wörtlich, »Verweigerung der Pflichterfüllung gegenüber dem Vaterland in Form des Militärdienstes«.

Ich hielt den Wisch für lächerlich, eine reine Formalität, ohne Bedeutung. Ich ging nach Hause, nahm meinen Ausweis und machte mich, ohne mich auch nur umzuziehen, in Hauslatschen auf den Weg zu der angegebenen Adresse, am anderen Ende der Stadt, wo sich eine alte russische Militärbasis befand.

Am Eingang zeigte ich den Wachposten meinen Brief, und sie öffneten schweigend das Tor.

»Wohin muss ich gehen?«, fragte ich einen.

»Immer geradeaus, ist sowieso egal ...«, antwortete mir ein Soldat ohne große Begeisterung und sichtlich genervt.

Idiot, dachte ich noch und ging zu einem Büro mit dem Schild: »Abteilung Wehrdienst und Neuzugänge«.

In dem Büro war es stockfinster, man konnte fast nichts erkennen. Ganz hinten war ein kleines Fenster in der Wand, ein Schalter, durch den ein schwaches gelbes, deprimierendes Licht sickerte. Zu hören war nur das Klappern einer Schreibmaschine.

Als ich näher kam, sah ich eine junge Frau in Uniform, die an einem kleinen Tisch saß, mit einer Hand auf der Schreibmaschine tippte und in der anderen ein Teeglas hielt. Sie nippte an dem heißen Tee und pustete häufig in das Glas, damit er schneller abkühlte.

Ich lehnte mich über den Tresen und reckte den Kopf: Da sah ich, dass die Frau unter dem Tisch eine aufgeschlagene Zeitschrift auf den Knien hielt und in einem Artikel über russische Musikstars las, mit dem Foto einer Sängerin, die auf dem Kopf eine Krone mit Pfauenfedern trug. Das deprimierte mich noch mehr.

»Hallo, entschuldigen Sie bitte, ich habe das hier bekommen«, sagte ich und hielt ihr den Zettel hin.

Die Frau drehte sich zu mir um und sah mich einen Augenblick so verwirrt an, als wüsste sie gar nicht, wo sie sich befand und was hier vorging. Offensichtlich hatte ich sie aus ihren Gedanken und Träumereien herausgerissen. Rasch nahm sie die Zeitschrift und legte sie umgekehrt hinter die Schreibmaschine, so dass ich sie nicht sehen konnte. Dann stellte sie das Teeglas ab und nahm mir ohne aufzustehen schweigend das Blatt mit der roten Zeile aus der Hand. Einen Augenblick starrte sie darauf und fragte dann mit gespenstischer Stimme:

»Papiere?«

»Welche Papiere, meine?«, fragte ich plump und zog meinen Pass und den Rest aus der Hosentasche.

Sie sah mich genervt an und sagte gepresst:

»Na, meine wohl kaum.«

Sie nahm meine Papiere entgegen und legte sie in einen Tresor. Dann holte sie ein Formular aus einem Regal und begann es auszufüllen. Vorname, Familienname, Geburtsdatum und -ort, Wohnanschrift. Dann kamen persönlichere Fragen. Nachdem sie auch noch die Personalien meiner Eltern aufgenommen hatte, sagte sie:

»Schon einmal verhaftet worden, schon einmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten?«

»Also, ich bin noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten, aber das Gesetz offensichtlich schon mal mit mir ... Verhaftet wurde ich schon x-Mal, ich weiß nicht, wie oft. Und im Jugendgefängnis war ich zweimal.«

Bei diesen Worten ging eine Veränderung in ihr vor. Sie zerriss das Formular, das sie gerade ausfüllte, und nahm ein anderes, größeres, über das schräg eine rote Zeile lief, wie bei meinem Brief.

Wir fingen wieder von vorne an, noch einmal sämtliche Personalien, diesmal jedoch auch Details meiner Vorstrafen: Nummer des betreffenden Paragraphen und Datum des Urteils. Dann war der Gesundheitszustand dran: Krankheiten, Impfungen, ob ich Alkohol oder Drogen konsumierte, ob ich Zigaretten rauchte. Eine Stunde ging das so ... Da ich nicht mehr genau wusste, wann ich verurteilt worden war, erfand ich einfach irgendwelche Daten und bemühte mich, zumindest ungefähr den Monat zu treffen.

Als wir fertig waren, versuchte ich ihr zu erklären, dass es sich um einen Irrtum handeln müsse, ich hätte einen Antrag gestellt und sei für sechs Monate vom Wehrdienst befreit, weil ich eine Ausbildung abschließen und danach studieren wolle. Wenn alles nach Plan liefe, fügte ich hinzu, würde ich in meiner Heimatstadt Bender eine Sportschule eröffnen.

Sie hörte sich alles an, aber ohne mich anzusehen, und das machte mich irgendwie nervös. Dann gab sie mir ein Blatt: Darauf stand, dass ich von diesem Augenblick an Eigentum der russischen Regierung und mein Leben gesetzlich geschützt sei.

Ich verstand nicht, was das konkret bedeuten sollte.

»Das bedeutet Folgendes: Wenn du versuchst zu fliehen, dich selbst zu verletzen oder dich umzubringen, wirst du wegen Beschädigung von Regierungseigentum belangt«, sagte sie mit eisiger Stimme.

Plötzlich kam ich mir vor wie in einer Falle, alles um mich herum wirkte noch viel erdrückender und makabrer als vorher.

»Hör mal«, platzte ich heraus, »ich pfeife auf euer Gesetz, ich bin ein Krimineller und damit basta. Wenn ich in den Knast muss, meinetwegen. Aber die Waffen deiner Scheißregierung werde ich nie und nimmer anfassen ...«

Ich war wütend, und als ich anfing zu fluchen, fühlte ich mich sofort stark, stärker als diese absurde Situation. Ich war sicher, absolut sicher, dass ich den Mechanismus, der über mein Leben bestimmen sollte, aufhalten konnte.

»Wo zum Teufel ist hier ein General, oder wie bei euch die Verantwortlichen heißen? So einen will ich sprechen, du verstehst mich ja offenbar nicht!«, sagte ich drohend, aber sie sah mich nur mit dem gleichen teilnahmslosen Blick an wie vorher.

»Wenn du den Oberst meinst, der ist da, aber ich glaube nicht, dass du bei dem was erreichst ... Versuch lieber, die Sache nicht noch schlimmer zu machen, ich kann dir nur raten, dich ruhig zu verhalten.«

Ein guter Rat, wenn ich heute darüber nachdenke. Was sie da sagte, war wichtig, das weiß ich jetzt, sie wollte mir einen besseren Weg zeigen, aber damals war ich blind.

Mir ging’s beschissen. Das gibt’s doch nicht, dachte ich, heute Morgen war ich noch ein freier Mensch, hatte Pläne für den Tag, für meine Zukunft, für den Rest meines Lebens, und jetzt sollte ich durch einen blöden Wisch meine Freiheit verlieren. Am liebsten hätte ich aufgeschrien und irgendjemanden angebrüllt, um meine Wut rauszulassen. Das brauchte ich jetzt einfach. Deshalb unterbrach ich sie und schrie sie an:

»Herr Jesus Christus! Wenn ich mit einem sprechen will, dann mache ich das und basta! Wo zum Teufel ist der, der hier das Sagen hat, der General oder was auch immer?«

Sie stand auf, sagte, ich solle mich beruhigen, mich auf die Bank setzen und eine Viertelstunde warten. Aber da war gar keine Bank. Verdammt noch mal, wo bin ich hier bloß gelandet, sind hier alle verrückt geworden,...

Erscheint lt. Verlag 11.7.2011
Übersetzer Peter Klöss
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Caduta Libera
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1994-1996 • Erzählungen • Romane • ST 4260 • ST4260 • suhrkamp taschenbuch 4260 • Tschetschenienkrieg
ISBN-10 3-518-74780-0 / 3518747800
ISBN-13 978-3-518-74780-3 / 9783518747803
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