Paarbildung (eBook)
192 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74330-0 (ISBN)
<p>Urs Faes, 1947 geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. Seine Romane <em>Paarbildung</em> und <em>Halt auf Verlangen</em> standen auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis.</p>
2
Die heruntergekurbelten Lamellenstores sperrten das Sonnenlicht aus. Die Frühsommerhitze, schon im Mai, quälte und machte allen in der Abteilung schmerzlich bewußt, daß sie zu arbeiten hatten, auch an diesem Nachmittag.
Im künstlichen Dämmer schimmerten die weißen Ärzteschürzen seiner Kollegen, die Gesichter verschwammen, fahle Ovale, verwischte Konturen, auf denen kein Zucken, Stirnrunzeln oder Gähnen zu erkennen war, auch keine Betroffenheit. Dafür war Lüscher dankbar.
Das Patientenblatt wurde auf die linke Seite der weißen Wand projiziert, auf der rechten leuchteten die farbigen Schichtröntgenaufnahmen, die von Dr. Vegh analysiert wurden, in seinem ungarisch geprägten Hochdeutsch, dessen Melodie Lüscher bei jedem Wort an Mandelgebäck erinnerte. Er hörte Dr. Veghs Stimme wie von fern, er blickte auf das leicht schräg projizierte Patientenblatt. Die kargen Daten – Name, Adresse, Einweisungsdatum – hatte er längst gelesen, mehrmals, vorwärts und rückwärts. Dr. Vegh sprach von dem invasiv duktalen Karzinom rechts, bei zwei Uhr gelegen, mit In-situ-Komponenten, er beschrieb die bereits ausgeführte Tumorektomie und Nachresektion mit Axilladissektion und die anschließenden vier Zyklen Chemotherapie; er erwähnte die nach der Chemotherapie festgestellten beweglichen Knoten auf der linken Seite und die aufgetretene Rötung, ein Serom.
Lüscher starrte weiter auf das Blatt. Ein Name, ein Geburtsdatum, eine Diagnose.
Ziffern. Wörter. Begriffe.
Das mußte ein Irrtum sein.
Mit beiden Händen umklammerte er die Stuhllehne, blickte stur geradeaus auf die schmale Fläche weißer Wand zwischen dem Patientenblatt und den Schnittaufnahmen, versuchte den Namen zu ignorieren und las ihn doch immer wieder, während Dr. Vegh auf die Thoraxaufnahmen seitlich hinwies, die Lungenflügel als infiltratfrei bezeichnete. Er las, als könnte er in diesem Rapport irgendeine Einzelheit entdecken, die klären würde, die Patientin Etter, deren Karzinom hier analysiert wurde, wäre nicht Meret.
Nein!
Er hatte den unwillkürlichen, wenn auch leisen Ausruf nicht zurückhalten können.
Wie bitte?
Dr. Vegh zog irritiert die Brauen hoch.
Einwände? Kommentare?
Nein, nein.
Lüschers Kopfschütteln ließ ihn fortfahren. Er legte die Planung für die postoperative Radiotherapie dar, indem er die Bestrahlungsfelder, our treatment fields, nuschelte er, ausleuchtete.
Dr. Vegh sprach von einer Patientin, so versuchte Lüscher sich zu beruhigen – einfach von einer Patientin, die Etter hieß. Er wußte, es gab immer wieder Patienten, die Erinnerungen an Menschen wachriefen, die man einmal gekannt hatte.
Täglich war er, bevor er in die Allee eingebogen war, die zum Unterrichtsgebäude führte, an dem Sauerdornstrauch vorbeigekommen. Die Berberitze hatte in jenem Sommermonat gelbe Doldenblüten getragen, ausladend weit; er trat in ihren Duft wie in eine unsichtbare Säule. Sekundenlang stand er benommen, ging dann weiter, tief ein- und ausatmend.
Eines Morgens hatte da diese junge Frau neben dem Strauch gestanden, wartend, in einem weißen Kleid, in weißen Strümpfen, die weißen Leinenbänder der Sommerschuhe fest um die schmalen Knöchel geschlungen. Die Erscheinung leuchtete, trotz des dunklen Haars, das das Gesicht umrahmte und locker in den Nacken fiel. Er konnte den Blick nicht abwenden, sah auf diese Frau, die siebzehn, achtzehn Jahre alt sein mochte.
Sie schaute auf, ein Lächeln huschte über ihr Gesicht; sie neigte den Oberkörper leicht nach vorn, wie um eine Verbeugung anzudeuten. Da war diese Überfülle von Weiß, da waren diese großen dunklen Augen. Sie standen sich für Augenblicke schweigend gegenüber. Dann kamen ihre Freundinnen, begrüßten sie und zogen sie mit sich fort. Er war stehengeblieben, hatte ihnen wie gebannt nachgeschaut. Sie drehte sich, ganz kurz, von ihren Freundinnen nicht bemerkt, noch einmal um, winkte. Er hatte ihren Namen gehört: Meret.
Unschlüssig zockelte er den Gehweg entlang auf das Gebäude zu, in dem die jungen Frauen verschwunden waren.
Die Stellvertretung für angewandte Psychologie, Philosophie und Ethik, die er als Student an dieser Mädchenschule angenommen hatte, obwohl er selbst erst im fünften Semester und also nur ein paar Jahre älter war als diese Schülerinnen, endete bald danach. Er entdeckte Meret noch zwei- oder dreimal, meist im Kreis ihrer Freundinnen, bemerkte ihr Gesicht mit den schmalen Lippen. Und er ahnte diesen Duft. Er erinnerte ihn an den Garten seiner Eltern, den Flieder und den Sauerdornstrauch, in deren Schatten er als Kind oft gelegen, in den Himmel geblickt, auf die Stimmen im Haus und auf der Straße gelauscht hatte; auf dem Sims der dampfende Milchreisbrei, den die Mutter mit den aufgekochten Weichselkirschen übergossen hatte. Und wie er Jahr für Jahr vom Sauerdorn die kleinen Früchte gepflückt hatte.
Ein weiteres Mal traf er mit Meret zusammen. Sie begleitete eine seiner Schülerinnen, die ihn um eine Literaturliste für ein Referat bat. Meret stand nah beim Schreibtisch, wartend, während er ihrer Freundin schnell einige Titel aufzählte, eine Liste versprach und einige Bücher, die er ihr borgen könnte. Unwillkürlich schaute er dabei Meret an, sekundenlang, in ihre weit geöffneten Augen, ein dunkles Braun. Rasch wandte er sich wieder dem andern Mädchen zu, das seine Hinweise notierte. Als die Freundin sich schon verabschieden wollte, fragte Meret unvermittelt: Haben Sie auch etwas für mich?
Sie suchte für einen Vortrag, über die Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts, etwas Ausgefallenes, Absonderliches, vielleicht etwas Dadaistisches. Gedichte von Ball habe sie einmal gelesen. Ob er ihr helfen könne?
Literatur sei nicht sein Hauptfach, wich er aus, eher eine Liebhaberei. Er erinnere sich an eine Anthologie des Abseitigen oder ähnlich, Randerscheinungen, Exzentriker und Morphinisten.
Er versprach, nachzuschauen und, falls er das Buch finde, es zu den Materialien für ihre Freundin zu legen. Sie nickte.
Schreiben Sie »für Meret« darauf, bat sie noch, dann gingen beide.
Für Sekunden war er versucht, Meret zurückzuhalten.
Noch am gleichen Abend suchte er nach dem Buch; er fand es, blätterte es durch, las ein paar Verse, nahm einen Zettel und schrieb: Für Meret.
Bald danach endete die Vertretung, und er kehrte an die Universität zurück, tauchte in die Arbeit ein, begleitet vom politischen Strudel jener Jahre, die später als die chaotisch-bewegten bezeichnet wurden, mit Krawallen, Straßenschlachten und viel Rockmusik. Er verbrachte die Zeit lesend und schreibend, wenn auch mit einem neugierig staunenden Blick auf das, was vor sich ging auf den Straßen und Plätzen, einer, der mit dem Gefühl, nicht dazuzugehören, hinschaute, sammelte und festhielt.
Manchmal stieg, mitten im Lärm der Stadt, der Duft einer Berberitze auf und mit ihm das Gesicht von Meret.
Für die Patientin Etter, legte Dr. Gabor Vegh dar, sei die postoperative Radiotherapie unabdingbar, nur so sei das Lokalrezidiv-Risiko zu senken, dazu eine Tamoxifenabgabe mit eventuellem Switch zu Arimidex. Der Plan sehe eine sechswöchige tägliche Bestrahlung vor, in dreißig Fraktionen mit einer Gesamtstrahlendosis von sechzig Gray. Er zuckte zusammen, hörte Dr. Camprianis Satz: Jede Dosis über fünfzig ist zuviel. Im Eintrittsgespräch von nächster Woche sei der Plan mit der Patientin zu besprechen, und dabei sei ausführlich auf mögliche Nebenwirkungen der Behandlung hinzuweisen.
Er schaute im Halbdunkel des Raums auf die Teilnehmer des Tumorboards. Sie saßen reglos auf ihren Stühlen, nur Dr. Campriani wippte leicht mit dem Fuß. Das tat sie immer, wenn wichtige Beschlüsse anstanden. Wollte sie um zehn Gray ein Streitgespräch beginnen? Er vermied jeden weiteren Blick auf das Patientenblatt: Die Nummer 235 89 41 gehörte zu einer Patientin, nicht zu einer Frau, die er kannte.
Das Eintrittsgespräch ist für den Dienstag vorgesehen, wandte sich Dr. Thoman an ihn, eine genaue Prognose ist schwer zu machen, das Serom könnte infiziert sein, der Resektionsabstand ist knapp. Wir wollen die Frau nicht entmutigen, und es gibt auch keine stringenten Gründe, ihr die Zuversicht zu nehmen. Wird nicht einfach sein.
Dr. Thoman liebte das Wort stringent.
Lüscher, ich möchte, daß Sie bei diesem Gespräch, das Dr. Funk führen wird, dabei sind; vielleicht können Sie helfen, ihr das Anstehende zu vermitteln, vielleicht können Sie die Patientin für begleitende Gespräche gewinnen. Reden kann helfen.
Die Kollegen verabschiedeten sich. Dr. Thoman fasste ihn im Vorbeigehen kurz am Arm.
Als er aufsah, war er allein im Zimmer. Die Aufnahmen lagen noch auf dem Tableau. Er nahm eine, hob sie ins Licht des Bildschirms: multizentrisches, invasiv duktales Karzinom.
Nein.
Rasch verließ er das Zimmer, das Spital, setzte sich in den Wagen und fuhr...
Erscheint lt. Verlag | 16.11.2010 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Anerkennungsbeitrag Literatur des Kantons Zürich 2014 • Belletristische Darstellung • Gesprächstherapeut • Klientin • Kulturelle Auszeichnung der Stadt Zürich 2017 • Kulturelle Auszeichnung der Stadt Zürich 2021 • Liebesbeziehung • Onkologie • ST 4308 • ST4308 • suhrkamp taschenbuch 4308 • Zürich |
ISBN-10 | 3-518-74330-9 / 3518743309 |
ISBN-13 | 978-3-518-74330-0 / 9783518743300 |
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