Die Zeitwaage (eBook)

Erzählungen | Georg-Büchner-Preis 2023

(Autor)

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2010 | 2. Auflage
284 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74020-0 (ISBN)

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Die Zeitwaage -  Lutz Seiler
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Lutz Seilers preisgekrönte Erzählungen

Der Vater, der Angst hat, seine Tochter zu verlieren. Das Kind vor der Schule bei seinem ersten Kuss. Das Palaver des Stotterers, wenn er allein ist. Die Liebe zu einer Schachmeisterin, die plötzlich mehr als vorbei ist. Und immer geht es in diesen Geschichten auch um seltsame Apparaturen und ihr Geräusch: das bestialische Jaulen einer Handsirene, Nacht für Nacht, das leise Knistern eines Geigerzählers unter dem Pullover oder den Ton, den die Zeitwaage macht - eine kleine, unscheinbare Maschine, die in den Gang der Uhren und Schicksale lauscht.

All diese Erzählungen, für die Lutz Seiler mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis (für Turksib) und dem Deutschen Erzählerpreis ausgezeichnet wurde, beschreiben prägende Wendepunkte, das Groteske im Leben und unser häufig vergebliches Ringen um einen anderen Verlauf.



Lutz Seiler (geboren 1963) wuchs in Ostth&uuml;ringen auf. Sein Heimatdorf Culmitzsch wurde 1968 f&uuml;r den Uranbergbau geschleift. In Gera schloss er eine Lehre als Baufacharbeiter ab und arbeitete als Zimmermann und Maurer. W&auml;hrend seiner Armeezeit begann er sich f&uuml;r Literatur zu interessieren und selbst zu schreiben. Bis Anfang 1990 studierte er Geschichte und Germanistik an der Martin-Luther-Universit&auml;t in Halle (Saale). 1990 ging Seiler nach Berlin, wo er einige Jahre als Kellner arbeitete. L&auml;ngere Auslandsaufenthalte in Rom, Los Angeles und Paris. Seit 1997 leitet er das literarische Programm im Peter-Huchel-Haus bei Potsdam. Seiler lebt als freier Schriftsteller mit seiner Frau in Wilhelmshorst und Stockholm.<br /> Von 1993 bis 1998 war Seiler Mitbegr&uuml;nder und Mitherausgeber der Literaturzeitschrift <em>moosbrand</em>. Er schrieb zun&auml;chst vor allem Gedichte (f&uuml;nf Gedichtsammlungen sind erschienen) und Essays, sp&auml;ter auch Erz&auml;hlungen und Romane. F&uuml;r die Erz&auml;hlung <em>Turksib</em> wurde Seiler 2007 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. F&uuml;r sein Romandeb&uuml;t <em>Kruso</em> erhielt er 2014 den Deutschen Buchpreis. Der Roman wurde in 25 Sprachen &uuml;bersetzt, mehrfach f&uuml;r das Theater adaptiert und von der UFA verfilmt. Sein zweiter Roman<em> Stern 111</em> wurde 2020 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Im August 2021 erschien der Gedichtband <em>schrift f&uuml;r blinde riesen</em>. 2023 wird Lutz Seiler mit dem Georg-B&uuml;chner-Preis ausgezeichnet.

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Frank


»Around, around, flew each sweet sound ...«

S. T. Coleridge

Ihr letzter Abend. Das Mädchen am Stehtisch vor dem Eingang trug die blau-gelbe Uniform des Restaurants, einen kurzen Faltenrock und eine Art Bluse mit Schulterstücken und goldenen Knöpfen. Wollte man warten, war es üblich, ihr einen Vornamen zu nennen, den sie aufrief, sobald ein Tisch frei wurde. Färber hatte in den Wochen zuvor die Erfahrung gemacht, daß sein Vorname zu kompliziert war für die Türsteher der Restaurants; er hatte sich einen einfachen Namen zugelegt. Unangenehm war, daß er ihn jetzt wiederholen mußte, das Mädchen hatte Hank statt Frank verstanden. Ich hätte es bei Hank belassen können, dachte er, aber er hatte sich an Frank gewöhnt, Frank.

Ein Teil des frischen, von der Hitze aufgeweichten Asphalts war zwischen die Ufersteine gekrochen. Oder man hat ihn benutzt, um die Steine besser gegen den Wellengang zu befestigen – er blieb an solchen sinnlosen Fragen hängen.

Eine Weile standen Teresa und er an dem beleuchteten Strand unterhalb des Restaurants. Der Sand blendete im Halogenlicht, und die Gischt war strahlend weiß oder phosphoreszierte. Ein paar übergewichtige Möwen taumelten ihnen entgegen und drehten mühsam wieder ab. Färber hätte gern etwas gesagt, aber er mußte vorsichtig sein, er mußte sich konzentrieren, daß es, wie Teresa sich ausdrückte, nicht schon wieder etwas Negatives war, etwas, womit er, wie sie meinte, nur seine andauernde Unzufriedenheit abzustoßen versuchte.

Er wollte hinunter ans Wasser, aber Teresa setzte sich auf einen der Steine. Ihre Arme und Beine waren gebräunt, ihr schwarzes Haar lag in einem lose geflochtenen Zopf zwischen den Schulterblättern. Als Teresa bemerkte, daß Färber sie ansah, schob sie ihre Füße in den Sand. An ihrem zweitkleinsten Zeh trug sie einen neuen, silbernen Ring.

Der Parkplatz füllte sich, und immer mehr Gäste kamen die Einfahrt herauf. Färber verstand ihre Bewegungen nicht, die ausladenden Gesten, das Zeigen mit ausgestreckten Armen, mal in Richtung der Canyons, mal aufs Meer, dazu ihre ausgesprochen gerade, fast nach hinten gebogene Art zu gehen, während auf ihren Gesichtern ein Ausdruck unablässiger Vorfreude lag. Daß ich nichts Besonderes fühle, wenn ich den Pazifik sehe, ist das schlechteste Zeichen, dachte Färber.

Er wollte Teresa auf eine Möwe aufmerksam machen, die sich bei ihrem Beutezug in einer der Adopt-a-beach-Mülltonnen (alle Mülltonnen am Meer trugen diesen Schriftzug) verhakt haben mußte – ein Flügel ragte heraus und schlug auf den Tonnenrand, eine Art indianisches Getrommel, das gut zu hören war, wenn der Wind vom Wasser her stärker wurde und die Musik aus dem Restaurant über ihren Köpfen davonschwappte; für einen Moment sah Färber ein paar Obdachlose um die Tonne stampfen, rhythmisch stießen sie ihre Fäuste in die Luft.

Die ganze Zeit über hatte er Teresa nicht angefaßt. In der Blockhütte auf dem Tiogra-Paß war er ihr sehr nah gekommen; aber sie hatte tatsächlich geschlafen. Zuerst war sie erschrocken und wütend gewesen, doch sie mußten leise sein, Luzie schlief auf einem Beistellbett an der Wand gegenüber, ihr Kuschelkissen unter dem Arm.

»Faß mich nicht an!«

Später wurde ihm übel. Ein Sonnenstich – obwohl er nur für ein paar Minuten außerhalb des Wagens gewesen war. Warum setzt du auch nie etwas auf deinen Kopf – manchmal hörte er seine Mutter, und Färber murmelte etwas zur Antwort, ihm war schwindlig, und plötzlich hatte er Tränen in den Augen: Faß mich nicht! Laß mich ... faß, faß! Irgendwann mußte Teresa wieder eingeschlafen sein, die Bettdecke fest um ihre Schultern gezurrt und die Füße in den Bettbezug gestemmt – so, wie er sie kannte.

Sie hatten gemeinsam Ausflüge gemacht, normale Dinge, das, was alle Touristen taten, die Wüste, Sierra Nevada, San Francisco und zurück auf dem Highway Nr. 1, die Küste entlang, Richtung Süden. Er wußte, daß die Leute in ihrem Quartier über die Deutschen lachten, weil sie immer ins Death Valley wollten, alle Schweizer und alle Deutschen wollen in die Wüste, dort, wo sie am heißesten ist, warum bloß, hatte ihn Randy gefragt und gelacht. Randy war ihr Vermieter. Bei Luzie hatte er es zu Uncle Randy gebracht, an diesem Abend war sie bei ihm geblieben.



Anders als seine gefräßigen Artgenossen, die mit aufgerissenen Schnäbeln über dem Ufer kreisten und Katzen- oder Babyschreie ausstießen, blieb der Vogel in der Tonne vollkommen stumm. Stumm hämmerte er seinen Flügel auf den Tonnenrand, wie eine Arbeit, die jetzt erledigt werden mußte.

Die Westküste war immer Teresas Traum gewesen. Erst unerfüllbar, dann schwierig, wegen Luzie. Zwei von Teresas Freundinnen führten in Los Angeles ein Restaurant mit thüringischen Spezialitäten. Dort, im Holy Elizabeth, hatten sie ihren besten Abend gehabt. Färber hatte Köstritzer getrunken und Krautrouladen gegessen. Die beiden Freundinnen erzählten von ihren berühmten Gästen, von Clint und David und Betty, auf deren Party sie gewesen waren, der gesamte Garten mit Teppichen bedeckt, kostbar wahrscheinlich, und eine Sammlung von vierhundert Lenin-Büsten, das halbe Haus voll – sie lachten, und auch Färber hatte gelacht, erleichtert, und einen Arm um Teresas Schulter gelegt. In den Augen der anderen waren Teresa und er noch immer ein beneidenswertes Paar, jedenfalls glaubte er das.

Unterwegs hatte Teresa ununterbrochen Fotos geschossen, vom Auto aus. Wenn sie nicht fotografierte, legte sie ein Bein auf das Armaturenbrett; sie stemmte den beringten Fuß gegen die Frontscheibe, und manchmal klickte der Ring ein wenig am Glas. Färber hatte nicht nach dem Ring gefragt. Schmuck stammte in der Regel von Teresas Vater, zu jedem Anlaß beschenkte er seine Tochter, kostbare Ketten und immer wieder feingliedrige, silberne Colliers – ein Schmuck, der für den besonderen Anlaß gemacht war, für Kleider mit großem Dekolleté. Vor Färber war ihr das meist etwas unangenehm, zugleich freute sie sich und sagte »Ist das nicht schön?« oder »Genau, was mir steht« und »Hat er nicht wirklich Geschmack in diesen Dingen?«.

Sie hatte ihren Sitz bis zum Anschlag zurückgeschoben, ihr Profil war aus seinem Blickfeld verschwunden. Der gebräunte Fuß, die leicht gespreizten Zehen, die hellen, fast quadratischen Fußnägel, dahinter die Landschaft ... Der große Zeh war nicht wirklich der große, verglich man ihn mit dem folgenden, und auch der mittlere war noch ein Stück länger. Färber war fast dankbar für den Fuß. Zugleich stellte der Fuß eine Art Verhöhnung dar: ein fremdes, beringtes Tier, von dem er nichts Sicheres wußte.

Dabei hatte er es immer genossen, mit Teresa unterwegs zu sein. Ohne Teresas Begeisterung, ohne ihre Energie und Fröhlichkeit blieb das meiste blaß, wie im Nebel, es existierte kaum. Allein fehlte ihm oft der Bezug, eine Art Vermittlung, die er brauchte, um zu sehen und zu hören. Als Teresa ihm einmal etwas in diese Richtung vorgehalten hatte, war er verstummt; es gab keine gute Antwort. Er hatte sich Teresa und Luzie anvertraut, gewissermaßen lebten sie für ihn mit, aber so hätte er es nicht gesagt. Ihre Anwesenheit war wie ein Gewand, etwas, das ihm erlaubte, auf der Welt zu sein. Eine Art Tarnkappe, die ihn verbarg und beschützte.



Der Wind frischte auf, und das Klopfen von der Abfalltonne wurde stärker. Vielleicht ist es auch irgendein anderes, größeres Tier, dachte Färber, ein Seerabe oder ein Albatros. Er hatte beobachtet, daß die Wellen sich vor dem Ufer wie in sich selbst zurückzogen, einrollten und kurz vor dem Aufschlag noch eine zweite, kleinere Welle ausspuckten, die dann wie eine Zunge über das Ufer schlappte und einen feinen, farbig schillernden Schaumrand zurückließ.

Färber lachte und wollte etwas sagen, was ihm als Einleitung für eine Bemerkung dienen sollte, er fühlte sich wie nach einem langen Kampf. Während er sein leises, falsches Lachen ausklingen ließ, wußte er noch nicht, in welche Richtung seine Bemerkung eigentlich gehen konnte, und vorsichtshalber setzte er noch einmal mit dem Lachen an, verhalten, ohne Überzeugung. In diesem Moment wurden sie gerufen. Das Mädchen benutzte ein Megaphon: Mister Frank please! Misses Teresa please! Two places please! Seit zehn Jahren waren sie verheiratet. Für die Trauung hatten sie alle Elemente des Rituals abgewählt: keine Musik, kein Einmarsch, keine Rede. »Und was ist mit dem Kuß?« hatte er gefragt, als es schon fast vorbei gewesen war. »Na, Sie wollen doch gar nichts«, hatte die Standesbeamtin gesagt.

Das Mädchen dehnte das a in Frank so lange wie möglich. Sie zelebrierte die Namen der Gäste, als kündigte sie ihr Erscheinen in einer Show oder für einen Boxkampf an. Dauerte es etwas länger, bis die Gerufenen vom Strand heraufgekommen waren, bekam ihr Rufen etwas Fragendes, dann etwas Flehendes, Stöhnendes (sie wußte, daß ihre Gäste sich darüber amüsieren konnten), am Ende aber etwas sehr Bestimmtes, fast Befehlendes, eine Art Urteil, wie es Färber aus dem hohlen, metallischen Ton des Megaphons herauszuhören glaubte.

Fra-a-ank, please, Fra-a-a-ank!...

Erscheint lt. Verlag 16.11.2010
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Deutscher Erzählerpreis • Erzählung • Georg-Büchner-Preis 2023 • Ingeborg-Bachmann-Preis • Nachwende • Preis der Leipziger Buchmesse • Roman • ST 4628 • ST4628 • suhrkamp taschenbuch 4628 • Turksib
ISBN-10 3-518-74020-2 / 3518740202
ISBN-13 978-3-518-74020-0 / 9783518740200
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