Nachts kommen die Füchse (eBook)
153 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73880-1 (ISBN)
<p>Cees Nooteboom wurde am 31. Juli 1933 in Den Haag geboren. 1955 erschien sein erster Roman <em>Philip en de anderen</em>, der drei Jahre später auch in Deutschland unter dem Titel <i>Das Paradies ist nebenan</i> veröffentlicht wurde (und 2003 in der Neuübersetzung von Helga van Beuningen unter dem Titel <i>Philip und die anderen</i> erneut eine große Lesergemeinde fand). Nooteboom berichtete 1956 als junger Autor über den Ungarn-Aufstand, 1963 über den SED-Parteitag, und fünf Jahre später über die Studentenunruhen in Paris (gesammelt in dem Band <i>Paris, Mai 1968</i>). Seine inzwischen in mehreren Bänden gesammelten Reiseberichte, die weniger Reportagen als vielmehr von genauer Beobachtung getragene, reflektierende Betrachtungen sind, festigten Nootebooms Ruf als Reiseschriftsteller. 1980 fand Nooteboom zurück zur fiktionalen Prosa und erzielte mit dem inzwischen auch verfilmten Roman <i>Rituale</i> (<em>Rituelen</em>) große Erfolge. Sein umfangreiches Werk, das in viele Sprachen übersetzt ist, umfasst Erzählungen, Berichte, Gedichte und vor allem große Romane wie <i>Allerseelen</i> (<em>Allerzielen</em>). Die elf Bände seiner <i>Gesammelten Werke </i>enthalten neben den bereits publizierten Büchern zahlreiche erstmals auf deutsch vorliegende Texte. Der Quarto-Band <em>Romane und Erzählungen</em> versammelt die gesamte fiktionale Prosa des Autors.<br /> Cees Nooteboom lebt in Amsterdam und auf Menorca.</p>
Gondeln
Gondeln sind atavistisch, er wußte nicht mehr, wo er das gelesen hatte, und wollte jetzt auch nicht darüber nachdenken, weil dann, so meinte er, etwas vom Pathos des Augenblicks verfliegen würde. Tiefstehende Sonne, die schwarze vogelartige Form einer Gondel im Nebel über der Lagune, die schweren Duckdalben wie eine vorrückende einsame Phalanx von Soldaten, die am unsichtbaren anderen Ufer verschwand zu einer Mission von Tod und Verderben, und er selbst hier an der Riva degli Schiavoni mit einem vergilbten, eingerissenen Foto in der Hand, wenn das kein Pathos war? Hier ungefähr hatte die Gondel angelegt, hier, an dieser Treppe oder der nächsten, noch dichter am halb im Wasser ruhenden Denkmal der standrechtlich erschossenen Partisanin, waren sie ausgestiegen. Es war ähnliches Wetter gewesen, das konnte man auf dem Foto noch erkennen. Sie hatten sich auf die Treppe gesetzt, und fast im gleichen Augenblick war ein junger Offizier gekommen, der ihnen sagte, diese Treppe habe frei zu bleiben für die Wasserschutzpolizei, und dabei auf ein Schild deutete. Dieses Schild mußte er jetzt also suchen, das konnte nicht schwer sein. Und wenn ich es finde, was dann? Dann stehe ich genau an derselben Stelle wie vor vierzig Jahren, und dann? Er zuckte mit den Achseln, als hätte jemand anders diese Frage gestellt. Dann also nichts, und genau darum, dachte er, ging es. Den Auftrag, etwas über die Ausstellung im Palazzo Grassi zu schreiben, hatte er angenommen, um diese eigenartige Pilgerfahrt anzutreten. Zu einem Schemen, nein, nicht einmal das, zu einer Abwesenheit. Die Treppe hatte er schnell gefunden, in ewigen Städten neigen die Dinge dazu, sich nicht zu verändern, nach wie vor legte die Wasserschutzpolizei hier an. Das Schild war noch da, an der Seitenmauer aus Backstein befestigt. Neu gepinselt, das denn doch. Er setzte sich auf die oberste Stufe. Der junge Offizier von damals mußte längst pensioniert sein, und auch wenn er in diesen vierzig Jahren nicht gealtert wäre, würde er den älteren Mann, der jetzt dort saß, nicht wiedererkennen. Das Foto war damals von einem Unbekannten gemacht worden, der sich ein Stück von ihnen entfernt, mit dem Rücken zur Lagune, an den Rand des Kais gestellt hatte. Ein Winkel von dreißig Grad, so daß der Dogenpalast in der Ferne noch drauf war. Er betrachtete das Foto und wunderte sich wie immer über das Trügerische daran. Nicht nur, daß ein Foto eine Tote abbilden konnte, es konnte einem auch eine ungültig gewordene Version der eigenen Person auftischen, einen nicht mehr erkennbaren Langhaarigen, der einst so perfekt ins damalige Bild gepaßt hatte, das diesem Foto das schal gewordene Aroma einer endgültig vergangenen Zeit gab. Daß man noch immer denselben Körper hatte, war das eigentliche Wunder. Aber natürlich war es nicht derselbe Körper. Sein Besitzer hatte noch immer denselben Namen, das war alles.
Was dieses Foto im Grunde sagen wollte, dachte er, mehr als Feststellung denn als Ausdruck von Tragik oder Selbstmitleid, war, daß auch für ihn allmählich die Zeit kam, daß auch er verschwinden mußte. Er hatte links von ihr gesessen, damals. Sie hatte den Kopf lachend zu dem unbekannten Fotografen erhoben, schnell noch das rote Haar etwas nach hinten geschoben und den Körper etwas zurückgebeugt, halb an die Seitenmauer der Treppe gelehnt, so daß das Schild nur zur Hälfte sichtbar war. Er blickte auf das sich leicht bewegende gräuliche Wasser am Fuße der Treppe. Wie erstaunlich, daß alles unverändert blieb! Das Wasser, die Form der Gondeln, die Marmorstufe, auf der er saß. Nur wir stehlen uns davon, dachte er, lassen die Kulisse unseres Lebens zurück. Er fuhr mit der Hand über die körnige steinerne Fläche neben sich, als wolle er ihre Abwesenheit fühlen. Daß alles, was man dabei denken konnte, ein Klischee war, wußte er selbst, nur hatte niemand diese Rätsel je gelöst. Unter Wirklichkeit und Vollkommenheit verstehe ich dasselbe, von wem dieser Satz stammte, wußte er ebenfalls. Ob Hegel die Situation, in der er sich befand, gemeint hatte, durfte bezweifelt werden, aber es schien doch zu stimmen. Er verspürte ein merkwürdiges Entzücken, weil die Dinge so waren, wie sie waren, weil man sie mit keinem einzigen Gedanken lösen konnte. Der Tod war etwas Natürliches, ging jedoch mit fast unzulässigen Formen von Kummer einher, die so groß waren, daß man am liebsten in ihnen verschwinden würde, um sich der vollkommenen Wirklichkeit des Rätsels hinzugeben.
Der Anfang war ganz einfach gewesen. Eine griechische Insel, das Haus von Freunden von Freunden, von ihnen arrangiert, weil es ihm nach seiner Scheidung schlechtging. Nicht gewöhnt, allein zu sein, ein Hunger nach allem, was weiblich war. Ein steinerner Spazierweg entlang dem Meer, auf dem all diese weiblichen Gestalten gingen oder schlenderten, die er gern angesprochen hätte, was er sich aber nicht traute, um nicht als Schwachkopf lachend abgewimmelt zu werden. Ankatzen nannte sein Freund Wintrop das. Das Wort war hübsch, aber er hatte es nie gekonnt. Wie lautete diese Gedichtzeile von Lucebert? Des Abends entlang weiblichen Schiffen ich schlendre. Das stimmte schon mal. Den Spazierweg hin und dann wieder zurück und dann noch einmal von vorn. Schlendern, bummeln, schauen. Hydra, Fischerboote, weiß in der sich verdunkelnden Nacht, sanft schaukelnd, beschienen vom Neonlicht der hohen Laternen am Kai. Schwalben, Zypressen, oder dachte er sich das jetzt aus? Gab es damals schon Neonlicht? Aber warum sollte seine Erinnerung stimmen müssen? Mach gelbes Lampenlicht daraus, hör eine Eule, sieh die dunklen Formen von Pinien. Das Meer bleibt das Meer und schwappt sanft an die Kaimauer. Alles andere ist austauschbar, das Arsenal, mit dem du die Erinnerung ausstaffierst.
Wie ein Schiff hatte sie nicht ausgesehen, als sie vorbeikam. Oder vielleicht doch, wie ein ganz leichtes mit nur einem kleinen Segel, das übers Wasser zu schweben scheint. Lächerlich mußte das gewesen sein, wie er plötzlich von der Kaimauer aufgestanden war und diese Handbewegung gemacht hatte wie ein Polizist, der den Verkehr stoppen will. Und genau das hatte er auch gesagt, STOP! Sogar jetzt empfand er noch Verlegenheit, obwohl sie später in Kalifornien, als alles lange vorbei gewesen war, oft darüber gelacht hatten. Sie war so erstaunt gewesen, daß sie sofort stehenblieb. Merkwürdigerweise wußte er nicht mehr, ob sie gleich an jenem ersten Abend mitgegangen war. Sie hatten lange in einer Kneipe im Hafen miteinander geredet. Amerikanerin, mit einem italienischen Namen. Sechzehn, achtzehn, er hatte es wissen wollen, aber nicht zu fragen gewagt. Schon da hatte er die Zeichen gesehen, mit denen sie Hände und Arme geschmückt hatte, Tierkreiszeichen, nicht tätowiert, wie man es heutzutage oft sah, sondern mit schwarzer Tinte auf diese braune Haut gemalt. Als er gefragt hatte, was das sei, hatte sie nur gesagt, oh, ich bin eine Hexe. Auch darüber hatten sie später gelacht, aber er besaß noch ihre Briefe aus jenen Tagen voller Geplapper über Zauberei und Verhexung, Schwärmerei, die, wie ihm schon bald klar wurde, nichts bedeutete, ihn aber doch erregt hatte. Es paßte zur Zeit, viel mehr aber noch zu diesem roten Haar, den schieferfarbenen Augen, der überraschend tiefen, ein wenig heiseren Stimme. In den Tagen danach hatte sie bei ihm in dem großen weißen Haus geschlafen. Bei ihm, aber nicht mit ihm. So lautete die Bedingung. Sie ließ sich mit abgewandtem Gesicht streicheln und sank dann auf beeindruckende Weise in Schlaf, mit der Abwesenheit eines Tiers, für das die Welt nicht mehr existiert. Er war sich ein wenig lächerlich und überflüssig vorgekommen, war aber gerührt gewesen über ihr Vertrauen. Lieber Gesellschaft als Liebe, etwas in der Art hatte er in sein Tagebuch geschrieben. Später hatte er dieses Tagebuch weggeworfen, was ihm jetzt leid tat – doch diesen Satz wußte er noch. Und ein paar Tage darauf war alles anders geworden. Vielleicht dachte er sich das jetzt aus, meinte sich jedoch zu erinnern, wie sie auf eines dieser merkwürdigen Zeichen deutete, die sie auch an anderen Stellen ihres Körpers trug, und etwas sagte wie: Der Augenblick ist jetzt gekommen. Etwas mit Planeten, alles, was er schon damals für Unsinn gehalten hatte. In der Liebe war sie gleichzeitig durchtrieben und kindlich gewesen, andere Wörter waren ihm dafür nicht eingefallen. Durchtrieben, das Wort hatte ihn nie befriedigt, es war das falsche, zielbewußt und berechnend vielleicht, aber auch das waren nicht die richtigen Wörter. Es hatte ihn erregt, weil sich durch das gewollt Kindliche etwas von einem verbotenen Spiel eingeschlichen hatte, als habe sie ihm im Grunde suggerieren wollen, er gehe mit einem Kind ins Bett, etwas, was er weder davor noch danach je so erlebt hatte.
Er ging zurück Richtung Stadt. Die Ausstellung von Piero della Francesca hatte ihn tief berührt. Weshalb er darin nun eine Parallele zu dieser Geschichte vor langer Zeit sehen mußte, wußte er selbst nicht, vielleicht einfach, weil sowohl der Maler wie die Erinnerung ihn jetzt beschäftigten, vielleicht auch, weil in diesen Gemälden etwas war, an das man nicht herankam, etwas, das mit diesen kurzen, gemeinsam verbrachten Wochen übereinstimmte. Man konnte nicht behaupten, daß sie geheimnisvoll war, diese Hexerei war purer Unsinn gewesen, doch die anwesende Abwesenheit von damals, neben ihm, ließ ihn jetzt an die hieratischen Gestalten in den Gemälden denken. Man stand davor, wollte mit aller Gewalt zu ihnen vordringen, aber es war eine Welt, zu der es keinen Zugang gab. Er hatte weder eine Ahnung, wie er seinen Essay schreiben, noch wie er...
Erscheint lt. Verlag | 16.11.2010 |
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Übersetzer | Helga van Beuningen |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | 's Nachts komen de vossen |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 21. Jahrhundert • Angst • Begehren • Cees Nooteboom • Dunkelheit • Erzählungen • Füchse • Geld • Gewitter • Goldene Büchereule • Gondel • Horst-Bienek-Preis für Lyrik 2018 • Innerer Monolog • Leidenschaft • Melancholie • Nacht • Niederlande • Paula • Preis • Prix Formentor 2020 • 's Nachts komen de vossen 2009 deutsch • 's Nachts komen de vossen deutsch • ST 4194 • ST4194 • Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW 2021 • suhrkamp taschenbuch 4194 • VPRO Bob den Uyl Prjis 2011 • Westeuropa |
ISBN-10 | 3-518-73880-1 / 3518738801 |
ISBN-13 | 978-3-518-73880-1 / 9783518738801 |
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