Torte mit Stäbchen (eBook)

Eine Jugend in Schanghai - Roman
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2012 | 2. Auflage
380 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-40924-7 (ISBN)

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Torte mit Stäbchen -  Susanne Hornfeck
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Die abenteuerliche Geschichte eines jungen Mädchens im Schanghai der 30er- und 40er-Jahre. Während der Reichspogromnacht 1938 wird auch die Konditorei des Ehepaars Finkelstein zerstört. Finkelsteins beschließen daraufhin, nach Schanghai und in eine ungewisse Zukunft zu fliehen. Was für ihre Eltern ein Schrecken ist, ist für ihre Tochter Inge das große Abenteuer: Während die Eltern ums Überleben kämpfen, erobert sie mit ihrem Freund Sanmao die Stadt, die Menschen und die Sprache.    

Susanne Hornfeck ist Germanistin und Sinologin, Autorin und Übersetzerin. Fünf Jahre lebte und lehrte sie in Taipei. 2007 wurde sie mit dem renommierten C.H. Beck Übersetzerpreis ausgezeichnet.  

Susanne Hornfeck ist Germanistin und Sinologin, Autorin und Übersetzerin. Fünf Jahre lebte und lehrte sie in Taipei. 2007 wurde sie mit dem renommierten C.H. Beck Übersetzerpreis ausgezeichnet.  

Muss i denn, muss i denn 


Genua, 1938 – Jahr des Tigers

Es war ein heiterer Tag mit weißen Schäfchenwolken, ungewöhnlich warm für die Jahreszeit. Zumindest wenn man aus dem Norden Deutschlands kam und einen dicken Wintermantel trug. Inge musste ihn anhaben, denn in den Koffer hatte er nicht mehr hineingepasst. Nun stand sie schwitzend zwischen Mutter und Vater an der Reling der »Conte Biancamano«. Graf Weiße Hand – ein passender Name. Das klang nach dem Märchenprinzen, der dich bei der Hand nimmt und vor allem Bösen rettet.

Ein weißer Märchenprinz war es auch gewesen, der sie nach der endlos langen Zugfahrt vor den Menschenmassen in der Wartehalle am Hafen gerettet hatte. Wieder waren sie mit Hunderten anderer Passagiere und Unmengen von Gepäck zusammengepfercht gewesen. Im erregten Stimmengewirr hörte man viel Deutsch, aber die Durchsagen waren alle auf Italienisch – keiner kannte sich aus. Dann war ein Mann von der Reederei erschienen, hatte ihre Karten inspiziert, und auf einmal war alles ganz anders. Eine Verbeugung andeutend, hatte er Inge und ihre Eltern freundlich angelächelt: »Schanghai?« Auf ihr verschüchtertes Nicken hin hatte er einen Kabinensteward herbeigewinkt. So war Paolo in Inges Leben getreten. Nach all den braunen und schwarzen Uniformen in ihrer Heimat war er ihr wie ein Engel in Weiß und Gold erschienen. Mit schwarzen Locken und spitzbübischen dunklen Augen. Inge fand ihn wunderbar, und auch er schien einen Narren an dem Mädchen mit den blonden Zöpfen gefressen zu haben.

»Ich bin Ihre Kabinesteward und werde während die Reise für Ihre Wohl sorgen«, hatte er sich in einem klangvollen Deutsch vorgestellt, das einsamen Konsonanten gern einen Vokal an die Seite gab.

»Das Ihre gesamte Gepäck?«

Inges Vater hatte nur stumm genickt.

Mit großer Geste griff er nach den Koffern und packte sie auf einen kleinen Gepäckwagen. Als er den letzten anhob, zog er hörbar die Luft ein, sagte aber nichts. Mutter und Tochter tauschten einen wissenden Blick.

»Bitte Sie mir folgen.«

Folgen war sonst nicht Inges Stärke, aber diesmal trabte sie ohne Zögern hinter ihrem Retter über die Gangway hinein in die weiße Innenwelt des riesigen Schiffs und über Treppen und Gänge immer weiter hinauf.

»Hier oben sind Kabinen erste Klasse. Ihre hat Numero 375. Außenkabine mit Blick auf Meer. Prego, Signora.«

Schwungvoll öffnete er die Tür. Inges Mutter war so verblüfft, dass sie im Türrahmen stehen blieb. Inge musste sie ein wenig zur Seite schieben, um auch etwas sehen zu können: ein richtiges kleines Wohnzimmer, aber statt des Fensters hatte es ein rundes Bullauge, durch das Hafen und Berge zu sehen waren; in der Mitte eine Sitzgruppe mit Sofa und Sesseln, auf dem Tisch eine Obstschale und eine Wasserkaraffe samt Gläsern, bedeckt mit einer gestärkten weißen Serviette. Es roch nach Möbelpolitur.

»Nebenan ist Schlafezimmer, und für Signorita haben wir Bett in Ankleidezimmer gestellt. Ich hoffe, das ist Signorita angenehme.«

Angenehm? Inge war schlichtweg begeistert von ihrem privaten Reisekämmerchen.

»Ich voreschlage, Sie gehen jetzt auf Promenadendeck, sonst Sie verpassen Auslaufen. Ich auspacke Koffer.«

Dieses Angebot riss Inges Mutter aus ihrer Erstarrung. »Aber nein«, stieß sie hervor, »das machen wir später selbst. Bemühen Sie sich nicht.«

Paolo gab erst auf, als Inges Mutter ihm mit Nachdruck erklärte, dass sie jetzt allein sein wollten.

»Zum Promenadendeck vorne rechts, dann Treppe hinauf. In zehn Minuten wir ablegen«, mahnte er, bevor er ging, und blinzelte Inge verschwörerisch zu. »Bitte klingeln, wenn Sie etwas brauchen.«

Seufzend ließ Inges Mutter sich gegen die geschlossene Tür fallen, der Vater sank, den Hut noch auf dem Kopf, in den nächsten Sessel. Doch Inge ließ ihnen keine Ruhe.

»Wir müssen an Deck. Schnell! Ich will doch sehen, wie das Schiff ablegt.«

»Das Kind hat recht, Willi. Das dürfen wir nicht verpassen.«

Triumphierend zerrte Inge die beiden eine weitere Treppe hinauf aufs Promenadendeck. Dort herrschte längst nicht solches Gedränge wie auf den unteren Etagen, wo die Menschen um einen Platz an der Reling kämpften. Alle wollten das Ablegemanöver verfolgen oder zurückbleibenden Angehörigen winken. Inge und ihre Eltern hatten niemand, dem sie winken konnten.

Die beiden riesigen Schornsteine des Dampfers spuckten bereits schwarze Rauchschwaden, die Schiffssirene stieß ein dumpfes Blöken aus, und die Bordkapelle intonierte einen flotten Marsch. Die riesigen Schiffsschrauben wirbelten das Wasser zu weißer Gischt. Am Kai machten Hafenarbeiter die armdicken Leinen von den Pollern los. Inge spürte den gewaltigen Schiffsleib unter sich beben, das Stampfen der Maschinen ließ ihre Fußsohlen vibrieren. Sie schaute zurück auf die Hafenanlage und die steilen Hänge dahinter. Dort stapelten sich Häuser bis hoch hinauf, dazwischen reckten Palmen ihre Wuschelköpfe. Die schonungslose Sonne des südlichen Mittags ließ jedes Detail deutlich hervortreten. Das Halbrund der Berge bildete die gut ausgeleuchtete Kulisse für diesen dramatischen Moment, den sie wie von einem Logenplatz mitverfolgte. Jetzt spielte die Kapelle »Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus …« Aber statt des großen Auftritts wurde die Kulisse nach hinten weggezogen; zwischen Kaimauer und Schiffswand klaffte eine Lücke, die sich rasch mit schmutzigem Hafenwasser füllte und immer größer wurde. Eben noch unbeteiligter Zuschauer, trafen Inge die Ereignisse plötzlich wie ein Magenschwinger. Hilfe suchend blickte sie nach links und rechts zu den Eltern auf: Der Vater mit grauem Gesicht, den Blick starr geradeaus; die Mutter das weiße Batisttaschentuch an den Mund gepresst, jeder ganz und gar mit sich selbst beschäftigt. Kein vielversprechender Anfang für eine Schiffsreise. Und Inge? Die wusste natürlich, dass es der Dampfer war, der sich mühsam in Bewegung setzte. Dennoch kam es ihr vor, als würden Hafen und Berge sich von ihr entfernen. Fassungslos sah sie zu, wie man ihr das Land wegzog.

***

Zurück in der Geborgenheit der holzgetäfelten Kabine nahm der Vater zum ersten Mal seit Beginn der langen Reise den Hut ab. Erschöpft strich er sich mit den Handflächen über den kahlen Schädel, auf dem sich dunkel die ersten nachwachsenden Haarstoppeln abzeichneten.

»Herrje, Marianne, wo sind wir denn hier gelandet? Ich bin überhaupt noch nicht zum Denken gekommen, seit du mich da rausgeholt hast. Wieso dieser unnötige Luxus?«, seufzte er, nachdem sich die kleine Familie um den Tisch versammelt und aus der Wasserkaraffe bedient hatte.

»Was blieb mir anderes übrig?«, entgegnete seine Frau. »Alles war über Monate ausgebucht, und die Passagen in der ersten Klasse hab ich auch nur bekommen, weil dieser arme Junge an Scharlach erkrankt ist und seine Familie nicht fahren konnte. Aber wo wir nun schon mal hier sind, können wir’s ebenso gut genießen. Ein bisschen Luxus kann dir nicht schaden, nach allem, was du durchgemacht hast.«

Wilhelm Finkelstein blickte mit einer Mischung aus Bewunderung und Resignation zu seiner Frau hinüber.

»Auf dem Schiff gibt’s sogar ein Kino und ein Schwimmbad«, quasselte Inge sich dazwischen. Niemand beachtete ihren Einwurf.

»Ich mach dir ja keine Vorwürfe, Marianne. Es ist nur alles so schnell gegangen. Schanghai war für mich bisher bloß ein Punkt auf der Landkarte.«

»Für mich ja auch, Willi.«

»Aber nicht für mich«, bemerkte Inge, um dann auch gleich weit auszuholen: »Schanghai ist eine große Hafenstadt an einem Fluss, der kurz darauf ins Meer mündet«, sprudelte sie los. »Da ist alles groß und laut und bunt. Und man kann auf der Straße essen, und die Kinder müssen nicht so früh ins Bett wie in Deutschland. Statt mit dem Taxi fährt man in einer Rikscha, die wird von einem Mann gezogen. Und wenn man eine mieten will, winkt man mit der Hand. Aber so, mit den Fingern nach unten.« Sie fuchtelte mit der Hand vor den Gesichtern ihrer verblüfften Eltern. »Und dazu sagt man láilái. Da muss die Stimme ein bisschen nach oben gehen. Habt ihr gewusst, dass das Chinesische vier verschiedene Töne hat? Wenn man den falschen erwischt, bedeutet es ganz was anderes. Man kann sich furchtbar blamieren. Und zur Begrüßung fragen sich die Leute, ob sie schon gegessen haben. Ist das nicht lustig? Aber es stimmt überhaupt nicht, dass alle Chinesen Hunde und Vogelnester essen.« Ganz außer Atem hielt Inge mit ihrer Belehrung inne.

»Woher weißt du denn das alles?« Die Eltern sahen ihre Tochter erstaunt an.

»Von Ina, die kommt doch aus Schanghai. Sie hat mir viel von Zuhause erzählt, und ein bisschen Chinesisch hat sie mir auch beigebracht.«

Jetzt erinnerte sich ihre Mutter an das kleine Chinesenmädchen, das in Brandenburg als Pflegekind lebte und mit Inge zur Schule gegangen war. Sie war in den Wochen vor der Abreise oft zu Besuch gekommen, doch damals war sie selbst viel zu beschäftigt gewesen, um sich zu fragen, was die beiden in Inges Zimmer trieben.

»Ich dachte, ihr spielt mit euren Puppen.«

»Dazu hatten wir keine Zeit. Ich musste sie doch über Schanghai ausfragen. Die Puppen hab ich ihr dagelassen, bis auf die Gundel.«

Bei der Erwähnung von Inges Lieblingspuppe warf die Mutter einen hastigen Blick auf ihre Uhr. »Höchste Zeit zum Mittagessen. Paolo hat uns fürs zweite Menü eingetragen, das wird um halb zwei serviert. Deine Sachen kannst du später auspacken, Inge.«

»Soll ich die Stäbchen mitnehmen, die Ina mir geschenkt hat? Dann kann ich...

Erscheint lt. Verlag 1.5.2012
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte assimilation • Deutsche Juden • Emigration • Erwachsenwerden • Exil • fiktive Biografie • Fremde Kulturen • Fremdheit • Geschichte • Getto • Heimat • Judenverfolgung • Jugendbuch • Kulturschock • Nationalsozialismus • Reichspogromnacht • Schullektüre • Shanghai • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-423-40924-X / 342340924X
ISBN-13 978-3-423-40924-7 / 9783423409247
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