Flutgrab (eBook)

Historischer Kriminalroman
eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
416 Seiten
Blanvalet (Verlag)
978-3-641-05544-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Flutgrab -  Derek Meister
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Neues vom eigenwilligsten Ermittler des Mittelalters: dem sturschädeligen Lübecker Rungholt
Viele verachten ihn, ein jeder fürchtet ihn: den Bankier D'Alighieri, der jedes Geheimnis der Lübecker Händler kennt. Ausgerechnet dieser undurchsichtige Mann bittet Rungholt nach ihm gestohlenen Schuldscheinen zu suchen. Eine einfache bitte, denkt Rungholt, ein simpler Diebstahl. Bis eine Serie von Todesfällen beginnt und klar wird, dass eigentlich eine kostbare Seekarte gestohlen wurde. Doch da ist Rungholt bereits in einen kühnen tödlichen Plan verstrickt und steht einem Gegner gegenüber, so gewitzt wie er - aber viel gefährlicher ...

Derek Meister wurde 1973 in Hannover geboren. Er studierte Film- und Fernsehdramaturgie an der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg und schreibt erfolgreich Serien und Spielfilme fürs Fernsehen - und spannende Romane, mit denen er sich eine große Fangemeinde erobert hat. Derek Meister lebt mit seiner Familie in der Nähe des Steinhuder Meers.

1

Lübeck, Ende Juli anno 1394

»Wenn sie dich zu lange ansehen, die Toten, nehmen sie dich hinab ins Meer. Sie ziehen dich in die Dunkelheit und stehlen dir deine Seele.«

Niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihre Lippen zu schließen. Hübsche Lippen, wie Rungholt bemerkte. Vormals hübsche Lippen, berichtigte er sich, denn nun waren sie rissig und blau.

Auch ihre Augen waren blau. Wie durch einen Nebel starrten sie ihn an, als wollten sie ihn für das anklagen, was mit ihr geschehen war.

Rungholt mahnte sich zur Ruhe, beugte sich tiefer über das Gesicht der Toten und rückte seine Stegbrille zurecht. Das linke Glas war seit Jahren gesprungen, aber er hatte weder die Zeit noch das Geld, sich eine neue aus Italien kommen zu lassen. Hier oben im Norden waren Brillen rar.

Er rückte ihren Kopf aus den Regentropfen, die durchs schlechte Schuppendach fielen, und sah sich ihre Haut an. Wegen der Dunkelheit konnte er aber nicht genau sagen, ob sie bloß blass oder blau war. Brummelnd sah er sich nach seinen beiden Begleitern um, die im Bretterschuppen abseits der Leichen warteten und aus sicherer Entfernung Rungholts Tun zusahen. Gallberg, der Hospitalmeister, und Eric Dartzow, einer der vier Bürgermeister Lübecks, trauten sich nicht heranzutreten.

»Gallberg, ich brauche die Lampe.«

Mit einem Mal schoss grelles Licht durch die Bretterritzen des Schuppens. Ein Blitz erhellte flackernd den Raum, ließ die Züge der Neunzehnjährigen mehrmals aufleuchten. Draußen auf dem Hospitalhof konnte Rungholt Dartzows Riddere sehen, seine Leibwache. Die armen Kerle standen im Matsch und ertranken förmlich in dem Gewitter. Kurz darauf zerriss ein Donner das stete Trommeln des Regens.

Es war vor der Komplet, doch wegen der ewigen dunklen Wolken verließ Rungholt öfters sein Zeitgefühl.

Sein großer Kopf neigte sich noch einmal über das fahle Gesicht. Rungholts fässerner Körper vermochte kaum tief genug zu kommen, weil sein Bauch gegen das Brett stieß, auf dem sie die Leiche aufgebahrt hatten. Dennoch sah es für seine beiden Begleiter so aus, als versuchte er, die junge Frau zu küssen. Ihre Münder waren kaum mehr als fingerbreit voneinander entfernt, nachdem er sich mit den abgetretenen Trippen auf die Zehenspitzen gestellt hatte.

»Was treibt Ihr? … Riecht sie?«

Ohne sich umzudrehen, brachte Rungholt den Frager mit einer Handbewegung zum Verstummen. Er hatte es eilig und keine Zeit für unnütze Erklärungen. Ihn beunruhigte, dass das Gewitter seit der Vesper tobte und an Stärke nun auch noch zugenommen hatte. Diese Leichenschau kam zum ungünstigsten Zeitpunkt. »Gallberg! Lampe«, knurrte er und streckte seine Pranke nach hinten. Doch er wartete vergeblich. »Gallberg!«

Der Hospitalmeister rieb sich abwesend den Schweiß vom halbkahlen Schädel und warf noch einen Tannenzweig auf das Feuer, das er in einem Zinkeimer entfacht hatte. Augenblicklich verbreitete der Rauch sich in der Bude und schnürte ihnen den Atem ab. Immerhin vertrieb der beißende Rauch den Gestank der Verwesung, den die zwei Dutzend Leichen ausströmten, von denen viele nicht einmal ein Leichentuch bekommen hatten.

Seit anderthalb Jahren regierte in Lübeck nun schon der Hunger, doch in diesen Wochen war es besonders schlimm. Die Vitalienbrüder, eine Bande brutaler und gesetzloser Räuber zur See, hatten in der Ostsee die Oberhand gewonnen. Sie kontrollierten seit sechs Wochen, welche Schiffe Kurs auf Norwegen, Schweden und das Russenland nehmen durften. Sie plünderten und brandschatzten und griffen selbst Hanse-Konvois mit schwerbewaffneten Friedeschiffen an, die Lübeck lossandte. Der Seehandel war zum Erliegen gekommen und die Preise für einfache Lebensmittel – Stockfisch, Getreide und Fleisch – in die Höhe geschnellt.

Das Heilig-Geist-Hospital, das größte Siechenhaus zwischen See und Alpen, vermochte die Ausgezehrten nicht mehr zu fassen. Alle Betten des Langhauses, ob Frauen- oder Männergang, waren belegt, und selbst in den Fluren der Anbauten reihten sich die Strohlager aneinander. Der Armenacker hinter dem imposanten Gebäude glich einem von Pockennarben zerfurchten Gesicht. Dicht an dicht frische Gräber, die kaum zugeschüttet wieder aufgerissen werden mussten, um noch mehr Lübecker aufzunehmen. Nachdem es gut zweihundert waren, auf dem Stückchen Land zwischen Königstraße und Langem Lohberg, hatte Gallberg verfügt, die Leichen einstweilen in diese Bretterbude auf dem Gelände des Heilig-Geist-Hospitals zu bringen, wo sonst Gartengerät, Baumaterial und zwei Heuwagen lagerten. Noch immer war der Rat uneins, ob man Massengräber ausheben sollte – und solange die Herren keine Entscheidung trafen, hatten die Toten eben zu warten. Und langsam zu verrotten. Ein weiterer Blitz tauchte die aufgereihten Körper in sein weißes Licht, ließ Schatten an die Wände springen.

Die Brüder und Schwestern des Hospitals hatten die Verstorbenen auf rohe Holzbretter geschichtet. Der Koggenbauer Lüdje hatte sie dem Hospital geliehen – angeblich aus Nächstenliebe. Rungholt hatte jedoch gehört, dass sich Lüdje von den verwesenden Körpern ein gutes Einfetten der Schiffsplanken erhoffte. Die Körperfette, die bei dieser Feuchtigkeit langsam übers Holz sifften, ölten es angeblich gut. Rungholt hielt das für ein Ammenmärchen, aber so versuchte jeder, noch aus dem Tod seinen Profit zu schlagen. Kein Wunder, denn durch die Überfälle der Serovere waren der Handel und damit der Bedarf an Schiffsreparaturen oder gar neuen Koggen vollkommen zum Erliegen gekommen.

»Gallberg«, fuhr Rungholt den Mann hinter sich ungeduldig an. »Die Lampe. Verflucht. Gallberg!«

Das Knistern des Tannenzweiges vermischte sich mit dem Trommeln des Regens. Rungholt wollte gar nicht daran denken, wie sein Keller aussah. Sicher war er bereits vollgelaufen. Gestern Abend war ihm das verfluchte Wasser auf den Kopf geregnet. Es war durch den Himmel seines Bettes direkt auf seine Stirn getropft. Der Sturm hatte eine Reihe Dachschindeln heruntergerissen. Hoffentlich hatte Contz die Felle ordentlich an den Sparren angebracht und alles abgedichtet.

Endlich drückte der gedrungene Mann Rungholt eine Tranlampe in die Hand. Der Geruch von Schweiß und zu viel Bier wehte Rungholt entgegen. Er riss Gallberg die Lampe ruppig fort und zog der Frau das linke Augenlid hoch. Indem er ihr einen Holzspatel auf das Auge drückte, klappte er es um.

»Hmmm«, brummte er. »Zehn und auf der anderen Seite …« Er untersuchte auch die Innenseite des anderen Liddeckels. »Neun … Nun denn. Und die Augen … Ah ja … Geplatzte Äderchen am Rand.« Konzentriert ließ er den Schein der Lampe zu ihrem rechten Ohr gleiten. »Hier keine Flecken … Gut, haben wir das schon mal.«

Das Licht streifte die Wangen der Frau. Sie hatte feine Züge, einen kecken Leberfleck über dem Mundwinkel. Ihre Wangen fielen ein, aber das Licht des brennenden Robbenfetts schmirgelte ihre Haut eben. Die Hautfarbe jedoch war weniger appetitlich. Ein Hauch nur, doch das Bleiche, wie Rungholt auch im schlechten Lampenlicht erkennen konnte, ging ins Blau und nicht ins Weiß. »Bist so sauber. Siehst so geputzt aus«, sprach er zu sich selbst. »Hast vor deinem Tod das Badhaus besucht?«

Ihre Haare und ihre schlichte Tunika waren nass, aber er glaubte nicht, dass es der Regen gewesen war, der sie derart gründlich gewaschen hatte. Behutsam strich er ihre blonden Haare auseinander und versuchte, eine Verletzung zu finden. Vielleicht die Spur eines Knüppels, den Stich eines Messers …

Lediglich sieben Tannennadeln fand er in ihrem Haar. Stammten sie von Gallberg? Ist der Hospitalmeister mit seinen Zweigen unachtsam gewesen, hat sie herumgewedelt, als er den Leichengang entlanggelaufen ist?

»Verfluchte Entleibte«, brummte Rungholt und stellte die Tranlampe zwischen ihren nackten Füßen ab.

»Sie hatte keine Schuhe an«, mischte sich Eric Dartzow, Rungholts zweiter Begleiter, ein. Der Bürgermeister hielt sich ein besticktes Seidentuch vor Nase und Mund und trat widerwillig durch den Tannenrauch näher an die Schiffsplanke heran. »Als der Böttcher sie fand, hatte Agnes keine Schuhe an.«

»Es regnet seit Tagen. Vielleicht wollte sie ihre Schuhe nicht dreckig machen? Wie lange war sie fort?«

Der Bürgermeister seufzte. »Zwei Wochen. Vorletzten Dienstag wurde sie das letzte Mal gesehen. Auf dem Schrangen bei den Litten der Fleischhauer. Zumindest haben meine Büttel das berichtet. Sie haben sich auf dem Markt umgehört.«

»Fleischhauer? Hm. Haben die nicht geschlossen? … Und dieser Böttcher? Es ist seine Magd, ja? Die Magd des Böttchers …« Er fand den Namen nicht, obwohl Dartzow ihn genannt hatte, als er Rungholt auf dessen durchnässtem Dachboden aufgesucht und ihn gebeten hatte, sofort mitzukommen.

»Claas Meenkens. Aus der Hüx. Ja. Sie heißt Agnes. Und sie ist erst seit einem Dreivierteljahr Meenkens’ Magd. Ich habe sie ihm vermittelt.«

Rungholt warf Dartzow einen fragenden Blick zu.

»Meenkens stellt die Rotsponfässer für den Ratskeller her, ich kenne ihn flüchtig. Agnes hat bei mir im Haus gearbeitet. Es gab Streit mit meiner Frau, nun ja … Ich habe sie zum Meenkens geschickt. Der gute Mann ist über fünfzig und am Boden zerstört. Ich hab’s ihm verschwiegen, aber ich kann Agnes doch nicht wie eine der anderen Verhungerten behandeln.«

Langsam begriff Rungholt, warum der Bürgermeister ausgerechnet zu ihm gekommen war. Die beiden kannten sich nicht sehr gut, schätzten sich aber. Immerhin war es Dartzow gewesen, der Rungholt geholfen hatte, den Dornenmann zu...

Erscheint lt. Verlag 17.4.2012
Reihe/Serie Patrizier Rungholt
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Schlagworte Deutschland • eBooks • Hanse • Heimatkrimi • Historische Kriminalromane • historischer Krimi • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Lübeck • Mittelalter • Rungholt-Reihe
ISBN-10 3-641-05544-X / 364105544X
ISBN-13 978-3-641-05544-8 / 9783641055448
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