Die Kinder der Rothschildallee (eBook)

Roman
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2012 | 1. Auflage
384 Seiten
LangenMüller (Verlag)
978-3-7844-8109-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Kinder der Rothschildallee -  Stefanie Zweig
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Dieses Buch lässt niemanden unberührt: Die Bestsellerautorin erzählt die Schicksalsjahre der Frankfurter Familie Sternberg. Die schleichende Bedrohung ihres Lebens wird für die jüdische Familie Sternberg zur schrecklichen Normalität. Mit feinem Empfinden für geschichtliche Details schildert Stefanie Zweig das Jahrzehnt zwischen 1926 und 1937. Die Sternbergs werden mit einem Leben konfrontiert, das ihnen jede Hoffnung auf eine Zukunft in Deutschland nimmt. Sie, ihre Kinder und Enkel sind in Deutschland Aussätzige geworden. Die Nazis nehmen ihnen Arbeit, Sicherheit und schließlich die Heimat. Mit ihrem neuen Roman gelingt Stefanie Zweig ein literarisches Meisterwerk - ohne Bitterkeit und oft mit einem Humor, der den Schmerz lindert.

1
WENN ES AN DER TÜR KLOPFT


Silvester 1926

Die einzige der vier Töchter des renommierten Frankfurter Geschäftsmanns Johann Isidor Sternberg, deren Charakter dem liebenswerten und fröhlichen Naturell seiner Frau Betsy ähnelte, war die achtzehnjährige Anna. Dank dieser lebensbejahenden Heiterkeit und einer Natürlichkeit, die ihre drei Schwestern als ein überholtes Relikt aus bürgerlichen Zeiten belächelten, war Anna der Trost ihres alternden Vaters. Obwohl ihr Kinderglück und Urvertrauen sehr früh genommen worden waren, blieb Anna die Optimistin, die sich zu ihrem vierten Geburtstag einen Teppich aus Rosinen und eine Kutsche aus Marzipan gewünscht hatte und die dann eine Tüte Makronen bejubelte.

Der Backfisch Anna war auf sehr sympathische Weise von der Launenhaftigkeit und dem Missmut verschont worden, die das Zusammenleben mit ihrer gleichaltrigen Schwester in der Zeit der beginnenden Nestflucht zu einem Tanz auf dem Vulkan machten. »Anna grinst sogar das Salzfass an«, pflegte Victoria am Frühstückstisch zu konstatieren, wenn ihr die Mutter die gute Laune ihrer gleichaltrigen Schwester vorhielt. »Das weiß doch jeder, dass sie eine Heilige ist.«

Bei Anna hatte sich seitdem nichts verändert. Ihr Optimismus und ihre Freundlichkeit fielen auch Leuten auf, die Unfreundlichkeit und Pessimismus für die einzig möglichen Lebensbegleiter hielten. Anna brauchte doppelt so viel Zeit wie ihre Mutter, um Brötchen zu holen. Nie kam sie an den Kindern vorbei, die in der Anlage in der Günthersburgallee mit Schaukel, Wippe und Sandkasten spielten. Mit den Nachbarn im Hausflur unterhielt sie sich so lange, als wäre sie gerade von einer Weltreise zurückgekehrt, und sie ließ sich von Fremden in nicht enden wollende Gespräche ziehen. Wenn die Geschäftsleute auf der Berger Straße über die Zeiten und die Politiker klagten, war Anna eine aufmerksame und anteilnehmende Zuhörerin. Sie erkundigte sich nach der Familie des Schornsteinfegers, tröstete weinende Kinder mit Bonbons, die sie eigens zu diesem Zweck besorgte, und bewunderte die Babys stolzer Puppenmütter. Auch jeder Hund, der in ihren Augen aussah, als brauche er Zuspruch und einen Klaps auf den Kopf, wurde von Fräulein Anna bedacht.

Ihre Schwester Clara, acht Jahre älter und um Äonen lebenserfahrener, beliebte des Öfteren – und auch in Gesellschaft! – zu erzählen, sie hätte Anna heimlich beim Fischhändler beobachtet. Dort hätte Anna mit einer ganzen Platte grüner Heringe geflirtet. »Und mich haben noch nicht mal die Karpfen mit einem Blick beachtet, und die waren noch lebendig.«

Wenn Anna nachts die Gardinen ihres Zimmers zuzog, hüpfte sie immer noch in den siebten Himmel. In dem Regal über ihrem Bett standen ihre alten Märchenbücher und die sentimentalen Geschichten für junge Mädchen, die ihr weisgemacht hatten, das Leben sei ein Kinderspiel. Die Puppe, die das mutterlose, verängstigte achtjährige Kind im Arm gehalten hatte, als ihr Vater sie in sein Heim und zu seiner Frau gebracht hatte, saß wie in alten Zeiten auf dem kleinen Sofa und schaute zum Mond. Der alte Teddybär hatte eine grüne Jacke an und eine rote Schleife um den Hals.

Die Idylle trog – Anna war keine, die nicht erwachsen werden wollte. Sie verlangte nicht nach den Armen, die sie behütet hatten. Sie war auf eine besondere Weise lebensklug, denn sie war schon früh imstande gewesen, sich vor den Illusionen zu hüten, die junge Menschen erbarmungslos in die Irre führen. Wenn Anna aus dem reichen Hause Sternberg träumte, war sie noch immer armer Leute Kind; das kleine Glück als Objekt der Begierde reichte ihr. Der Gedanke an den Neid der Götter, sobald sie an das große dachte, ängstigte sie. Hans im Glück, der sich bei jedem Tausch verschlechtert, den er macht, und der sich trotzdem begnadet wähnt, war einst ihr Lieblingsheld gewesen. Sie hielt ihm ein Leben lang die Treue.

»Anna ist dumm geboren«, hatte einst die zehnjährige Victoria mit der erbarmungslosen Zunge der unschuldigen Kinder diagnostiziert.

»Sie ist klüger als du, mein Kind«, hatte ihre Mutter sie aufgeklärt, »aber ich würde mich wundern, wenn du das je begreifen solltest.«

Nun, mit achtzehn, wünschte sich Anna einen klugen, beredten Ehemann, der gelegentlich auch seine Frau zu Wort kommen ließ. Wie sie sollte er gern Bildungsromane und Reiseberichte lesen, sich an weichen Eiern im Glas delektieren und Freude an Wald und Flur haben. Sonntags sollte dieser Prachtmensch mit seiner Gattin zum Vierwaldstätter See im Frankfurter Stadtwald radeln und sie abends in die Alemannia-Lichtspiele an der Hauptwache führen. Dort war Platz für achthundert Zuschauer. Im eleganten Foyer waren vier Pfeiler, die mit Metallrahmen und mattem Glas als Leuchtkörper gestaltet waren. Anna war erst zweimal in diesem eindrucksvollen Kinoparadies gewesen, als Johann Isidor und Madame Betsy nach dem großen Umbau mit sämtlichen Honoratioren der Stadt zur feierlichen Wiedereröffnung geladen worden waren.

Anna wünschte sich ein Häuschen im dörflichen Frankfurter Vorort Seckbach. Der Garten sollte groß genug für drei Kinder sein, eine Dogge, wie sie Bismarck gehabt hatte, und eine gescheckte Katze, die ja allgemein als Glücksbringerin galt. Sie wollte ihren Mann bitten, vor dem mächtigen Apfelbaum eine Bank aufzustellen und sie grün anzustreichen. An sonnigen Tagen wollte die Hausfrau dort ihre Erbsen pulen und nach getaner Arbeit Socken für den Winter stricken.

Victoria, die sich noch nicht einmal vorstellen mochte, sie würde je heiraten, geschweige denn Kinder bekommen, war eine besonders aufmerksame Zuhörerin, wenn die beiden ungleichen Halbschwestern einander Zukunft ausmalten. Trotzdem schloss sie meistens die Augen, als könnte sie die Bilder vom bürgerlichen Glück nicht ohne Schmerz ertragen. Mit einem kleinen Seufzer, der dem von Maria Stuart in Gefangenschaft entsprach, wenn sie in ihrem Kerker an das schöne Leben in Frankreich zurückdachte, und der bei Victoria ebenso herzzerbrechend ausfiel, sagte sie: »Meine kleine Spießerin in der Kittelschürze.«

Auch Anna kannte ihren Text. »Bei Spießern weiß man doch wenigstens, woran man ist«, hatte sie zu antworten, worauf sie und Victoria so unbefangen lachten, als wäre der kleine Sketch tatsächlich nur ein Spiel mit Worten gewesen.

Gerade Victoria, die ganz sicher war, dass bald die berühmtesten Theaterintendanten Deutschlands mit langfristigen Verträgen vor ihrer Tür Schlange stehen und sich ihretwegen duellieren würden, schätzte hin und wieder die harmlosen Spiele ihrer Kindertage. Noch mehr schätzte sie es allerdings, dass sie ihrer Lust an kleinen Bosheiten nachgeben konnte, ohne dass das Opfer ihrer spitzen Zunge sich getroffen fühlte. Anna war schon immer die ideale Partnerin gewesen – sie nahm nicht übel, war leicht zu beeindrucken, nie eifersüchtig, und sie kannte ihre Grenzen.

Ihrerseits bewunderte Anna ihre souveräne, aparte, großtuerische Schwester. Selbst deren Sarkasmus fand sie chic. Aus der koketten kleinen Vicky mit dem frühreifen Charme, dem weder Frau, Mann noch Kind hatten widerstehen können, war eine Schönheit mit langen Beinen und markantem Profil geworden. Fünfzehnjährige Jungen und würdevolle Familienväter wurden scharlachrot, wenn sie sich von Victoria Sternberg angeschaut glaubten. Alte Herren mit Rheuma gingen in die Knie, um das Taschentuch der Schönen vor rohen Füßen zu retten, und aus ihren Taschen fielen ständig altmodische Spitzentüchlein oder ebenso altmodische duftende Briefkuverts – genau wie in den Lustspielen aus der Biedermeierzeit. Die junge Sternberg, die sich vorgenommen hatte, so berühmt wie Sarah Bernhardt zu werden und so umschwärmt wie Josephine Baker, sah bei jedem Blick in den Spiegel eine Königin.

Der Schwester aus der anderen Welt imponierte nicht nur Victorias Schönheit, sondern noch mehr deren Besessenheit und Energie. Mochten ihr König, Bauer und Bettelmann mit Stentorstimme und Tag für Tag von dem Weg abraten, den sie zu gehen gedachte, sie verstopfte ihre hübschen kleinen Ohren mit schlanken, gepflegten Händen, an denen links ein Rubin und rechts eine goldene Schlange mit Augen aus Smaragd glänzten. Fräulein Sternberg wusste sich zur Schauspielerin geboren. Sie sah sich, ehe man sie nach Berlin holte, in ihrer Heimatstadt auf der Bühne stehen, mit Lorbeer bekränzt, auf Rosen gebettet und mit jubelnden Kritiken bedacht. Ihr Vater, der in den Augen der klugen Tochter von nichts wusste, was die Welt zusammenhielt, und der folglich Schauspieler als fahrendes Volk ablehnte, vor dem man die Wäsche schützen musste, würde mit feuchten Augen in der ersten Reihe sitzen. Auch die Mutter, diese skeptische Frau, die vom Denken ihrer Vorfahren nicht loskam und die sich nichts anderes als gut verheiratete Töchter wünschte und Schwiegersöhne, die ihr Ehre machten, würde ihre Tränen laufen lassen, wenn Victoria als blonde Ophelia von Hamlet ins Kloster geschickt würde.

Bisher hatte es diese außergewöhnliche schauspielerische Begabung noch nicht einmal zur Bühnenelevin gebracht. Doch nicht einmal in den trüben Momenten, da sie sich erinnerte, dass zwei Schauspiellehrer sie wegen mangelnder Begabung als Schülerin abgewiesen hatten, bezweifelte sie, dass sie Othellos Desdemona und Romeos Julia spielen würde. Und Fausts Gretchen auf eine noch nie da gewesene Art.

»Schon bei dem Gedanken, immerzu mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, wird mir übel«, sagte Anna.

»Du musst dir nur die richtigen Wände aussuchen, meine Gute. Aber ich fürchte, dazu hast du nicht genug Phantasie.«

Victoria täuschte sich. Anna hatte durchaus Phantasie. Nur sparte sie die für besondere Gelegenheiten auf. Manchmal wurde selbst sie...

Erscheint lt. Verlag 29.3.2012
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-7844-8109-4 / 3784481094
ISBN-13 978-3-7844-8109-8 / 9783784481098
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