Die Suche nach dem Fremden (eBook)

Geschichte der Ethnologie in der Bundesrepublik 1945-1990
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2012 | 1. Auflage
395 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-41292-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Suche nach dem Fremden -  Dieter Haller
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Die Ethnologie als Wissenschaft vom kulturell Fremden hat sich in ihrer Geschichte vielen Völkern und Kulturen zugewandt. Allerdings gibt es bislang noch keinen umfassenden Überblick über die Geschichte des Faches in der Bundesrepublik als einer der größten ethnologischen Nationen. Dieter Haller beschreitet somit Neuland: Nach einem Rückblick auf die Anfänge des Faches und seine Verwicklungen im Nationalsozialismus wagt er eine Zusammenschau der Pfade, die es nach dem Zweiten Weltkrieg beschritten hat. Dabei rückt er die institutionellen und geistesgeschichtlichen Entwicklungen in den Kontext der politischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen der Bundesrepublik von 1949 bis zur Wende. In der Ethnologie spiegelt sich das Unbehagen an der bundesrepublikanischen 'Enge', dem Vernunftdenken und dem Glauben an Machbarkeit; sie überschreitet mit ihrem Interesse am Exotischen und Fremden den Horizont des Eigenen und trägt zum Verstehen anderer Lebenswelten und Kulturen bei. Dabei bietet das Buch auch einen Ausblick auf das Anthropologische, auf das, was den Menschen möglich ist.

Dieter Haller ist Professor für Sozialanthropologie an der Universität Bochum. Er hat das dortige Zentrum für Mittelmeerstudien mitbegründet. Im Rahmen seiner Geschichte der Ethnologie hat er über 60 Interviews mit Ethnologinnen und Ethnologen geführt und unter www.germananthropology.de eine Internetseite für die deutschsprachige Ethnologie aufgebaut. Er ist Autor des 'dtv-Atlas Ethnologie' (2005).

Dieter Haller ist Professor für Sozialanthropologie an der Universität Bochum. Er hat das dortige Zentrum für Mittelmeerstudien mitbegründet. Im Rahmen seiner Geschichte der Ethnologie hat er über 60 Interviews mit Ethnologinnen und Ethnologen geführt und unter www.germananthropology.de eine Internetseite für die deutschsprachige Ethnologie aufgebaut. Er ist Autor des "dtv-Atlas Ethnologie" (2005).

Inhalt 6
Vorwort 10
Einleitung: Deutsche Ethnologie oder Ethnologie in Deutschland? 13
1 Die Entstehung der Völkerkunde/Ethnologie in Deutschland 32
2 Rekonstruktion – 1945 bis 1955 60
2.1 Institute, Professuren und Museen 67
2.2 Fachorganisationen 77
2.2.1 Deutsche Gesellschaft für Völkerkunde (DGV) 77
2.2.2 Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (BGAEU) 84
2.3 Geistesgeschichtliche Strömungen 86
2.3.1 Empirizismus und Theorieskepsis 88
2.3.2 Kulturmorphologie 96
2.3.3 Kulturgeschichtliche Völkerkunde 99
2.3.4 Ethnosoziologie 102
2.3.5 Kulturmorphologie, Kulturhistorie und Ethnosoziologie im Widerstreit 103
2.4 Fazit 109
3 Konsolidierung – 1955 bis 1967 112
3.1 Institute, Professuren und Museen 121
3.2 Fachorganisationen 131
3.2.1 Deutsche Gesellschaft für Völkerkunde (DGV) 131
3.2.2 Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (BGAEU) 141
3.2.3 Studentische Initiativen 143
3.2.4 Völkerkundliche Freundeskreise 144
3.3 Geistesgeschichtliche Strömungen 145
3.3.1 Empirizismus und Theorieskepsis 147
3.3.2 Kulturmorphologie 159
3.3.3 Kulturgeschichtliche Völkerkunde 163
3.3.4 Ethnosoziologie 170
3.3.5 Internationalisierung 173
3.4 Fazit 179
4 Rebellion – 1967 bis 1977 182
4.1 Institute, Professuren und Museen 197
4.2 Fachorganisationen 204
4.2.1 Deutsche Gesellschaft für Völkerkunde (DGV) 204
4.2.2 Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (BGAEU) 214
4.2.3 Studentische Initiativen 216
4.3 Geistesgeschichtliche Strömungen 218
4.3.1 Kulturmorphologie 224
4.3.2 Kulturgeschichtliche Völkerkunde 225
4.3.3 Ethnosoziologische Ansätze 228
4.3.4 Kulturanthropologie und Cultural Anthropology 232
4.3.5 Neuere philosophische Einflüsse 234
4.4 Fazit 237
5 Stagnation – 1977 bis 1990 242
5.1 Institute, Professuren und Museen 247
5.2 Fachorganisationen 255
5.2.1 Deutsche Gesellschaft für Völkerkunde (DGV) 255
5.2.2 Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (BGAEU) 261
5.2.3 Studentische Initiativen 262
5.3 Geistesgeschichtliche Strömungen 265
5.3.1 Etablierte Ethnologie 267
5.3.2 Neoromantik, die Begeisterung für das Fremde und literarische Ansätze 270
5.3.3 Interpretative Ansätze und Postmoderne 285
5.3.4 Interdisziplinäre Begegnungen 290
5.3.5 Ethnologie der Sprache und Strukturalismus 299
5.3.6 Ethnomedizin/Medical Anthropology und Ethnopsychoanalyse 302
5.4 Fazit 307
6 Ökonomisierung – 1989 bis heute 310
6.1 Institute, Professuren und Museen 318
6.2 Fachorganisationen 322
6.3 Geistesgeschichtliche Strömungen 324
7 Die bundesrepublikanische Ethnologie 338
Literatur 346
Nachweise der Interviews 375
Register 377

2 Rekonstruktion - 1945 bis 1955

Am Ende des Zweiten Weltkriegs lag Deutschland in Trümmern: materiell, ideell, psychisch und physisch. Das nationalsozialistische Deutschland hatte Europa und andere Teile der Welt in eine verheerende Katastrophe geführt, Millionen von Menschen waren ihr zum Opfer gefallen. Im Mai 1945 beendeten die Alliierten diesen Spuk. Sie besiegten das Naziregime und besetzten Deutschland. In den drei westlichen Besatzungszonen begann der Aufbau einer neuen Demokratie.

Die Gesellschaft sehnte sich nach Stabilität, weil die Umstände materiell verheerend waren, die Menschen physisch entwurzelt und psychisch traumatisiert. Viele Deutsche lebten mit dem Gefühl, noch einmal davongekommen zu sein. Sie wollten nichts mehr von Politik wissen, blickten nach vorn - vorwärts in eine neue, bessere Zeit. Die Älteren verdrängten die Vergangenheit und die eigenen Taten während der tausend Jahre des nationalsozialistischen Regimes. Die junge Generation dagegen wandte sich aus anderen Gründen der Zukunft zu. Sie fühlte sich vom Nationalsozialismus und vom Krieg um ihre Kindheit und Jugend betrogen, wie die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann dies in ihrem Kriegstagebuch beschreibt. So trug gerade der Lebens- und Bildungshunger der Jüngeren dazu bei, dem Schritt in die neue Zeit und in die neue Demokratie die Kraft zur Entwicklung zu geben.

Der Historische Anthropologe, Journalist und Bourdieu-Schüler Nils Minkmar nennt die frühe Bundesrepublik ein Land

'von ausgedachten Geschichten: die Stunde null, die es nicht geben konnte, weil man eine Bevölkerung nicht austauschen kann, der Wiederaufbau, der weder erwünscht noch möglich war, der Zauberspruch ?keine Experimente? zu Beginn einer Staatsform, die in jeder Hinsicht experimentell war. Das Neue war überall, aber überzeugt waren die wenigsten davon. [...] Familie, Sozialordnung, Wertegefüge - alles war umgepflügt, es war ein revolutionärer Start, der genau das nicht sein wollte und seinen umstürzlerischen Charakter durch hemmungslose Biederkeit kompensierte.'

Jenseits aller Parteibindungen dominierte ein autoritärer gesellschaftlicher Geist, der sich etwa in rigiden Moralvorstellungen ausdrückte. Die Dietrich blieb vorsichtshalber in Amerika, die Knef durfte nur kurz Blöße zeigen und die stark gewordenen Trümmerfrauen 'sollten wieder eingefangen und vor eine Küchenzeile gestellt werden. Jede gesellschaftliche Veränderung stand unter Verdacht, einen neuen Totalitarismus gebären zu können'. Allerdings verstanden es Pionierinnen wie die Flensburger Unternehmerin Beate Uhse, die Sexualmoral unter der vorerst funktionalen Begrifflichkeit des ehehygienischen Instrumentariums langsam zu verändern.

Die Nachkriegszeit brachte auch gewaltige demographische Umwälzungen mit sich, insbesondere einen Zuzug von zirka 13 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und aus Osteuropa. Rund 30 Prozent der Gesamtbevölkerung lebten nicht mehr dort, wo sie aufgewachsen waren. Die alten sozialen Hierarchien waren durch diese Entwicklungen nachhaltig gestört. Unter denen, die aus den ehemaligen Ostgebieten und Osteuropa in den Westen flohen, waren auch viele spätere Ethnologen - alleine oder mit den Eltern.

Die Währungsreform am 21. Juni 1948 half dabei, das Gewesene zu verdrängen. Noch vor Gründung der Bundesrepublik wurde in Trizonesien - den drei Westzonen - die D-Mark als einheitliches Zahlungsmittel eingeführt. Daraufhin wuchs die Wirtschaft schnell und gipfelte Mitte der 1950er Jahre im sogenannten zweiten deutschen Wirtschaftswunder.

Nach der wirtschaftlichen erfolgte die politische Einigung der drei Westzonen. Im April 1949 wurde das Besatzungsstatut der Alliierten Frankreich, Großbritannien und USA verabschiedet und an den Parlamentarischen Rat gesandt; knapp einen Monat später wurde es von den drei Militärgouverneuren und Oberbefehlshabern verkündet. Parallel wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik erarbeitet, es trat am 23. Mai 1949 in Kraft. Das Besatzungsstatut diente dazu, die Militärgouverneure durch zivile Hohe Kommissare zu ersetzen. Es regelte zudem die Zuständigkeiten zwischen der neu formierten deutschen Regierung vom 15. September 1949 und der Alliierten Hohen Kommission (AHK). Damit war die von Anfang an föderal strukturierte Bundesrepublik bis zum Abschluss der Pariser Verträge (1955) nur begrenzt souverän. Das Bildungssystem, und damit der Rahmen, innerhalb dessen sich auch die Universitäten entwickelten, war Ländersache.

Für die Völkerkunde, wie das Fach damals noch uneingeschränkt hieß, bedeutete der Neuanfang, die materiellen, personellen und geistigen Bestände zu sichten, wieder mit der Arbeit an Museen und Universitäten zu beginnen und der wissenschaftlichen Fachvereinigung DGV erneut Leben einzuhauchen. Außerdem galt es, den Austausch mit der internationalen Kollegenschaft wieder aufzunehmen.

Die Umstände, unter denen man arbeitete, waren nach heutigen saturierten Maßstäben miserabel. Die materiellen Schäden werden im Bericht über das erste Treffen der Völkerkundler nach dem Krieg, 1946 in Frankfurt, aufgelistet. Universitäts- und Museumsgebäude lagen vielerorts in Schutt und Asche, die Museumsbestände waren zerstört oder ausgelagert. Die Bibliotheken in Lübeck und Berlin waren in Flammen aufgegangen. Die anthropologischen Gesellschaften ruhten und mussten bei den Besatzungsmächten ihre Wiederzulassung beantragen.

Viele Völkerkundler hatten während des Krieges ?im Feld? gestanden, mancher - wie Frobenius' Kronprinz Ewald Volhard oder der Leipziger Willy Schilde - war ?gefallen?. Einige der Überlebenden waren, von den psychischen Verletzungen einmal abgesehen, physisch kriegsversehrt, wie der Frobenide Helmut Straube. Die meisten Emigranten blieben im Ausland, etwa Leonhard Adam, Herbert Baldus, Paul Leser, Otto Maenchen-Helfen und Heinz Wieschhoff. Nur Pater Wilhelm Koppers und Robert von Heine-Geldern kehrten nach Wien zurück. Julius Lips nahm 1948 einen Ruf an die Universität Leipzig an.

Lediglich das Frobenius-Institut zeichnete sich durch eine Distanz zum Natio­nalsozialismus aus - '[e]s war aber auch kein Institut des heldenhaften Wider­standes.' Insgesamt aber zeichnete sich die deutsche Völkerkunde in der Nachkriegszeit durch eine starke personelle und mentale Kontinuität aus. Sie war dem System des Nationalsozialismus weitgehend verbunden gewesen und vorerst überdauerten die alten Eliten. Sie blieben zumeist lange in Amt und Würden. Die frühen Schüler der NS-Völkerkundler verharrten in einer Mischung aus professioneller und persönlicher Abhängigkeit von den Alten. Dies war ihrem Zukunftsoptimismus geschuldet und dem Einverständnis, das Vergangene ruhen zu lassen. Erst eine neue Ethnologengeneration wird Ende der 1960er Jahre den Nationalsozialismus der Väter thematisieren.

Erscheint lt. Verlag 12.3.2012
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Ethnologie Allgemeines / Lexika
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Ethnologie • Europäische Ethnologie • Fachgeschichte • Kulturwissenschaften • Völkerkunde • Volkskunde
ISBN-10 3-593-41292-6 / 3593412926
ISBN-13 978-3-593-41292-4 / 9783593412924
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