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Lagerfeuer (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
304 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-401625-2 (ISBN)
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»Ein Glücksfall: ?Lagerfeuer? ist ein ganz bemerkenswerter Roman.« Thomas Brussig Ende der siebziger Jahre hat Nelly Senff endlich die Tortur der Ausreise hinter sich und kann mit ihren Kindern Ostberlin verlassen. Nun ist sie drüben, aber drüben heißt zunächst das Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde. Julia Franck erzählt von vier Menschen an einem Ort der Ungewissheit und des Übergangs, dort, wo sich Lebensgeschichten entscheiden.

Julia Franck wurde 1970 in Berlin geboren. Sie studierte Altamerikanistik, Philosophie und Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin. 1997 erschien ihr Debüt ?Der neue Koch?, danach ?Liebediener? (1999), ?Bauchlandung. Geschichten zum Anfassen? (2000) und ?Lagerfeuer? (2003). Sie verbrachte das Jahr 2005 in der Villa Massimo in Rom. Für ihren Roman ?Die Mittagsfrau? erhielt Julia Franck den Deutschen Buchpreis 2007. Der Roman wurde in 40 Sprachen übersetzt und fürs Kino verfilmt (2023, Regie: Barbara Albert). Nach ?Rücken an Rücken? (2011) erschien zuletzt ?Welten auseinander? (Platz 1 der SWR-Bestenliste). Für ihr Werk wurde sie 2022 mit dem Schiller-Gedächtnis-Preis ausgezeichnet. Literaturpreise: 1995 Siegerin beim Open Mike-Wettbewerb 1998 Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste 1999 Stipendium der Stiftung Niedersachsen 2000 3sat-Preis in Klagenfurt 2004 Marie Luise Kaschnitz Preis 2005 'Roswitha Preis' der Stadt Bad Gandersheim 2007 Deutscher Buchpreis 2010 war die englische Ausgabe der ?Mittagsfrau? auf der Shortlist des Independent Foreign Fiction Prize und auf der Shortlist des ?Jewish Quaterly? sowie für den internationalen IMPAC nominiert. 2022 Schiller-Gedächtnis-Preis

Julia Franck wurde 1970 in Berlin geboren. Sie studierte Altamerikanistik, Philosophie und Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin. 1997 erschien ihr Debüt ›Der neue Koch‹, danach ›Liebediener‹ (1999), ›Bauchlandung. Geschichten zum Anfassen‹ (2000) und ›Lagerfeuer‹ (2003). Sie verbrachte das Jahr 2005 in der Villa Massimo in Rom. Für ihren Roman ›Die Mittagsfrau‹ erhielt Julia Franck den Deutschen Buchpreis 2007. Der Roman wurde in 40 Sprachen übersetzt und fürs Kino verfilmt (2023, Regie: Barbara Albert). Nach ›Rücken an Rücken‹ (2011) erschien zuletzt ›Welten auseinander‹ (Platz 1 der SWR-Bestenliste). Für ihr Werk wurde sie 2022 mit dem Schiller-Gedächtnis-Preis ausgezeichnet. Literaturpreise: 1995 Siegerin beim Open Mike-Wettbewerb 1998 Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste 1999 Stipendium der Stiftung Niedersachsen 2000 3sat-Preis in Klagenfurt 2004 Marie Luise Kaschnitz Preis 2005 "Roswitha Preis" der Stadt Bad Gandersheim 2007 Deutscher Buchpreis 2010 war die englische Ausgabe der ›Mittagsfrau‹ auf der Shortlist des Independent Foreign Fiction Prize und auf der Shortlist des ›Jewish Quaterly‹ sowie für den internationalen IMPAC nominiert. 2022 Schiller-Gedächtnis-Preis

Nelly Senff fährt über eine Brücke


Die Kinder ließen müde ihre Arme sinken, ausdauernd hatten sie gewunken, zuerst voller Begeisterung und trotz fehlender Erwiderung, dann wohl aus Gewohnheit und kindlichem Ehrgeiz, bestimmt eine Stunde lang hatten sie gewunken, die Münder an die Scheiben gedrückt, wo sie feuchte Kussränder auf den beschlagenen Scheiben hinterließen, die Nasen an den Scheiben gerieben, sie hatten gewunken, bis Katja zu ihrem Bruder sagte: »Ich kann nicht mehr, komm, wir hören auf«, und Aleksej nickte, als sei es gut, endlich aufzugeben, gut, dem Abschied ein Ende zu setzen. Der Wagen brachte uns erneut ein Stück voran, die Bremslichter des kleinen Lieferwagens vor uns erloschen. Unter dem flachen Überbau stand im Zwielicht ein Mann in Uniform, der uns bedeutete, näher zu kommen, um sogleich beide Arme in die Luft zu reißen. Ruckartig hielten wir, der Motor stotterte und soff ab. Seit vier Stunden ging es so voran, vielleicht hatten wir drei Meter zurückgelegt in diesen vier Stunden, vielleicht zehn. Wenige Meter vor uns musste die Bornholmer Brücke liegen, das wusste ich, nur sehen konnten wir sie nicht, ein breites einfaches Gebäude, durch das die schmale Fahrbahn führte, verdeckte die Sicht auf alles Kommende. Der kleine Lieferwagen wurde zur Seite gewunken und in eine benachbarte Fahrbahn gelotst. Die Laternen flackerten und gingen eine nach der anderen an. In der rechten Reihe blieb eine dunkel. Ich fragte mich, wann an diesem Ort Zeit für Reparaturen wäre. Vielleicht nachts zwischen zwölf und zwei. Man konnte dem Schatten vor uns zusehen, wie er sich näherte, bis er unter der Motorhaube verschwand, kurz darauf die Motorhaube erklomm, über die Windschutzscheibe kroch, auf unsere Gesichter, und schließlich den Wagen verschluckte, rücksichtslos, wie er alles verschluckte, was vor ihm lag, der Schatten jenes breiten Daches, des Gebäudes, das die Fahrbahn überbrückte und uns die Sicht nahm. Ein Gebäude ganz aus Pappe und Wellblech. Bis die Sonne uns voran zwischen den Häusern versank und noch einmal in der Fensterscheibe des Wachturms hoch über uns aufleuchtete, als wolle sie uns locken und versprechen, dass wir sie schon morgen wiedersähen, im Westen, wenn wir ihr nur folgten, und weg war sie und ließ uns hier in der Dämmerung mit ein paar Feuerstreifen am Himmel stehen, und die Schatten schluckten nicht nur uns, sondern die ganze Stadt in unserem Rücken, als Gerd seine Zigarette ausdrückte, tief einatmete, die Luft anhielt und zu mir sagte, er habe sich schon vor zehn Jahren gefragt, wann ich endlich kommen würde, wie beiläufig pfiff er durch die Zähne, aber damals sei ich gerade erst auf diesen Menschen getroffen und heute könne er es mir sagen, jetzt, da ich in seinem Auto säße und mein Weg ja nur noch diese eine Richtung kenne, ich auch nicht mehr aussteigen könne, wobei er lachte, er habe sich immer vorgestellt, mich nackt in den Armen zu halten.

Gerd steckte sich eine neue Zigarette an, seine Zunge umfasste von unten den Filter, er zündete den Motor, stellte ihn ab, zündete ihn erneut, der Aschenbecher quoll über, ich sammelte die Stummel mit der bloßen Hand heraus und stopfte sie in eine kleine Plastiktüte, die ich vorsorglich mitgenommen hatte, falls den Kindern schlecht würde. Schlecht war jetzt mir. In Gerds Armen wollte ich nicht nackt sein. Gegen die Vorstellung hatte ich mich erfolgreich gewehrt, bis zu diesem Augenblick, in dem er meine Bemühung mit einem leichten Pfeifen durch die Zähne und ein paar harmlosen Worten lächerlich machte. Selbst der Umstand, dass ich mich in seinem Auto befand, meine Kinder auf seiner Rückbank saßen, die Scheiben küssten und wir im Begriff waren, über diese Brücke zu fahren, machte es nicht aufregend.

Katja hielt sich die Nase zu und fragte, ob sie das Fenster öffnen könne. Ich nickte und überhörte Gerds Stöhnen. Lange hatte ich gedacht, Gerd erspare mir das Anhören seiner Wünsche aus Rücksicht und mit dem Wissen, dass ich keine Berührung von ihm wollte. Dann wieder hoffte ich, er habe meinen Körper vergessen, so gut es ging. Also schlecht vielleicht, aber immerhin ein Versuch. Ein Versuch, für den ich ihn geschätzt hatte, ein Versuch nun, den er gar nicht unternahm, oder der in diesem Augenblick scheiterte. Dieser Mensch, dessen Namen er ganz sicher nicht vergessen hatte, den er aber nicht in den Mund nahm, war der Vater meiner Kinder geworden. Aber das war nicht der Grund, warum mich Gerd plötzlich ekelte. Es ekelte mich, dass er nicht bemerken wollte, warum wir in seinem Wagen saßen. Nur, um diese Brücke zu passieren, saßen wir in seinem Wagen, vielleicht gab es noch einen anderen Grund, aber keineswegs den, mal ungestört auf kleinstem Raum beisammenzusitzen. Von draußen zog kühle Luft herein, es roch nach Benzin und ein wenig nach Sommer, eher schon nach Nacht und bevorstehender Kälte. Dämmerung. Ein Mann in Polizeiuniform kam zum Wagen, er beugte sich an Gerds Seite herab, um besser ins Innere des Wagens schauen zu können. Seine Taschenlampe streute etwas Licht über unsere Gesichter, schwach glomm sie und flackerte, als wolle sie jeden Augenblick erlöschen. Der Reihe nach prüfte er Namen und Gesichter. Ich blickte zurück in ein fahles Gesicht mit einer niedrigen, breiten Stirn, die Augen saßen tief und wurden von den Wangenknochen ganz in ihre Höhlen gedrängt, ein pommersches Gesicht, das nicht mehr jugendlich aussah, obwohl es das noch war. Mit der Taschenlampe klopfte er an die hintere Tür und sagte, wir dürften hier nicht mit offenen Fenstern stehen. Die Fenster müssten aus Sicherheitsgründen geschlossen bleiben. Nachdem er auch die Dokumente von Katja und Aleksej überprüft hatte, sagte er: »Aussteigen.« Meine Tür klemmte, ich rüttelte an ihr, bis sie aufsprang, und stieg aus.

»Nein«, rief mir der Mann in Polizeiuniform über das Dach hinweg zu, »nicht Sie, nur die Kinder.«

Ich setzte mich wieder zurück ins Auto und drehte mich um: »Ihr sollt aussteigen«, wiederholte ich und fasste gleichzeitig nach Aleksejs Hand, hielt sie fest. Er machte sich los. Meine Hand rutschte ins Leere. Erst jetzt bemerkte ich mein Zittern. Die Türen schlugen zu. Der Mann sagte etwas zu meinen Kindern, was ich nicht verstand, er zeigte auf unser Auto, schüttelte den Kopf und klopfte Aleksej auf die schmale Schulter, dann sah ich, wie sie ihm folgten und in dem Flachbau verschwanden. Über dem dunklen Fenster brannte eine Neonlampe. Ich wartete, dass ein Licht anging, aber das Fenster blieb schwarz. Vielleicht gab es innen ein Rollo. Oder eine besondere Beschichtung verhinderte, dass man hineinsehen konnte. Nur von innen war es möglich, hinauszusehen – wie durch die kupfernen Scheiben im Palast der Republik. Der König sah hinaus und konnte sein Volk beobachten, während die Menschen draußen auf blinde Scheiben blickten und geblendet von deren Glanz nicht hindurchsehen konnten. Wären sie auf einer Höhe mit dem König und seinen Scheiben, auf Augenhöhe der Spiegelung, hätten sie zumindest sich selbst sehen können, ihrem unverhohlen neugierigen Blick begegnen dürfen. Nur standen sie unten, die kleinen Leute, auf dem Platz. Und oben in den Scheiben spiegelte sich nichts als Himmel. Es gab keine Erwiderung des Blickes. Aber die Scheiben dieses Fensters hier waren besonders schwarz, tiefschwarz, kohlschwarz, rabenschwarz, je länger ich hinübersah, desto unnatürlicher schien es mir. Kein Glanz, kein Orange. Alles Licht längst aufgesogen. Kein Rabe, keine Kohle, keine Tiefe. Nur noch schwarz. Das Fenster würde nichts als Attrappe sein. Gerd drückte die Zigarette aus und zündete sich eine neue an.

»Schön, so eine Stille.« Er genoss die Minuten mit mir allein. Sie werden Katja und Aleksej fragen, warum wir rüber wollten, sie werden mit jedem einzeln in einen fensterlosen Raum gehen, das Kind auf einen Stuhl setzen und sagen: Wir wollen etwas wissen, und du musst uns die Wahrheit sagen, hörst du? Und Katja wird nicken, und Aleksej auf seine Schuhe schauen. Sieh mich an, wird der Mann im Staatsdienst zu Aleksej sagen. Er wird ihm dabei auf den Rücken klopfen, wie einem Kumpel, einem Kollegen, einem Vertrauten. Und nicht wissen, dass Aleksej ihn, auch wenn er den Kopf hob, nur schemenhaft sehen konnte, weil seine Brille nicht mehr viel taugte. Er sah gerne auf seine Schuhe, sie waren dasjenige, das sich am weitesten von seinen Augen entfernt befand und dennoch zu ihm gehörte, von den Schuhen wusste er genau, wie sie aussahen. Vielleicht wird der Beamte ihm drohen, vielleicht an seinem Arm reißen, damit Aleksej nicht vergisst, um wie viel stärker einer wie er war. Vielleicht standen sie zu dritt vor Aleksej, zu fünft, der ganze Raum könnte voll sein von Staatsdienern in Uniform, Volkspolizisten, Angehörigen der Staatssicherheit, Grenzsoldaten, Oberen, Lehrlingen, Helfern – aber dann verlöre der Einzelne an Autorität. Was will eure Mutter drüben? Kennt sie den Mann schon lange? Liebt sie den Mann? Habt ihr gesehen, ob er sie küsst? Und sie ihn? Wie küssen sie sich? Wollt ihr so einen Vater aus dem Westen? Hat er euch Geschenke mitgebracht? Welche? Also ist er ein Kapitalist. Nicht wahr? Schweigen. Was konnte Aleksej darauf schon antworten? Es gab nur falsche Antworten. Etwas züngelte am Ende meines Rückgrats, ich könnte es Furcht nennen, aber es war nur ein Züngeln. Falsche Antworten. Nicht einmal das wusste Aleksej, vielleicht ahnte er es. Werden sie uns festhalten? Was zählte schon das Papier, die Genehmigung, wenn sie mich einfach verschwinden ließen, ganz und gar, und die Kinder in ein Heim steckten? Zwangsadoption. Darüber gab es Gerüchte. Insbesondere Feinde des Landes, aber auch Feinde der sozialistischen Demokratie und ganz besonders solche, die sich davonmachten, flohen, das waren diejenigen, deren Kinder in den Schutz des...

Erscheint lt. Verlag 8.3.2012
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 70er Jahre • Berlin • Berlin-Marienfelde • BerlinMarienfelde • CIA • DDR • Deutschland • Nelly Senff • Nescafé • Notaufnahmelager • Ostberlin • Roman • Staatssicherheit • Weihnachten
ISBN-10 3-10-401625-9 / 3104016259
ISBN-13 978-3-10-401625-2 / 9783104016252
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