Falling Man (eBook)
272 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30559-3 (ISBN)
Don DeLillo, 1936 geboren in New York, ist der Autor von zahlreichen Romanen und Theaterstücken. Sein umfangreiches Werk wurde mit dem National Book Award, dem PEN/Faulkner Award for Fiction, dem Jerusalem Prize und der William Dean Howells Medal from the American Academy of Arts and Letters ausgezeichnet. 2015 erhielt Don DeLillo den National Book Award Ehrenpreis für sein Lebenswerk.
Don DeLillo, 1936 geboren in New York, ist der Autor von zahlreichen Romanen und Theaterstücken. Sein umfangreiches Werk wurde mit dem National Book Award, dem PEN/Faulkner Award for Fiction, dem Jerusalem Prize und der William Dean Howells Medal from the American Academy of Arts and Letters ausgezeichnet. 2015 erhielt Don DeLillo den National Book Award Ehrenpreis für sein Lebenswerk. Frank Heibert, geboren 1960, übersetzt vor allem aus dem Englischen und Französischen, u.a. Werke von Don DeLillo, Richard Ford, Mark Twain, Neil LaBute und, zusammen mit Hinrich Schmidt-Henkel, Yasmina Reza. 2006 erschien sein Roman »Kombizangen«. 2012 wurde er mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet.
2
ES WAREN NICHT NUR DIESE TAGE und Nächte im Bett. Zuerst war überall Sex, in Worten, Sätzen, halben Gesten, der einfachsten Andeutung veränderten Raums. Wenn sie ein Buch oder eine Zeitschrift hinlegte und sich eine kleine Pause um sie beide einstellte. Das war Sex. Wenn sie gemeinsam eine Straße entlanggingen und sich in einem schmutzigen Fenster sahen. Ein Treppenhaus war Sex, die Art, wie sie nah an der Wand entlangging und er gleich hinterher, Berührung oder nicht, leichtes Streifen oder festes Schmiegen, wenn sie spürte, wie er sie von unten bedrängte, mit der Hand um ihren Schenkel strich und sie festhielt, wie er hoch- und herumfuhr, wie sie sein Handgelenk packte. Wie sie ihre Sonnenbrille kippte, wenn sie sich umdrehte und ihn ansah, oder der Film im Fernsehen, wenn die Frau in das leere Zimmer kommt, und es ist egal, ob sie ans Telefon geht oder ihren Rock auszieht, Hauptsache, sie ist allein und wird von ihnen gesehen. Das gemietete Strandhaus nachts zu betreten war Sex, nach der langen, steifen Fahrt, sie fühlte sich wie zusammengeschweißt an den Gelenken, und dann hörte sie das weiche Wogen der Brandung jenseits der Dünen, Aufprall und Ablauf, und das war die Trennungslinie, das Rauschen da draußen im Dunkeln, das den Puls der Erde im Blut schlagen ließ.
Sie saß da und dachte daran. Die frühen Zeiten vor acht Jahren, im Geist trieb sie hinein und wieder hinaus, frühe Zeiten der irgendwann eintretenden endlosen Düsternis namens Ehe. Die Post des Tages lag auf ihrem Schoß. Sie hatte Dinge zu erledigen, und es gab Vorfälle, die diese Dinge verdrängten, aber sie starrte an der Lampe vorbei auf die Wand, an die sie projiziert zu sein schienen, der Mann und die Frau, Körper unvollständig, aber hell und real.
Die Ansichtskarte oben auf dem Bündel Rechnungen und anderer Post war es, durch die sie ruckartig wieder zurückgeholt wurde. Sie warf einen Blick auf das Geschriebene, den hingekritzelten Routinegruß einer Freundin, die gerade in Rom war, dann betrachtete sie wieder die Vorderseite der Karte. Es war eine Reproduktion des Buchumschlags von Shelleys Versepos in zwölf Cantos, Erstausgabe, mit dem Titel The Revolt of Islam. Selbst im Postkartenformat wirkte der Buchumschlag eindeutig wunderschön gestaltet, das große illustrierte R, verziert mit Tieren, einem Widderkopf und etwas, das ein fantastischer Fisch mit Rüssel und Stoßzahn sein mochte. The Revolt of Islam. Die Karte stammte aus dem Keats-Shelley-Haus an der Piazza di Spagna, und in den ersten, angespannten Sekunden begriff sie, dass die Karte ein oder zwei Wochen davor abgeschickt worden war. Es war ein schlichter Zufall, oder auch nicht so schlicht, dass eine Karte zu diesem besonderen Zeitpunkt eintraf und den Titel dieses bestimmten Buches trug.
Das war alles, ein verlorener Augenblick am Freitag jener Woche, die ein Leben dauerte, drei Tage nach den Flugzeugen.
Sie sagte zu ihrer Mutter: »Es konnte nicht sein, auferstanden von den Toten, und da stand er in der Tür. Ein Glück, dass Justin hier bei dir war. Denn es wäre schrecklich für ihn gewesen, seinen Vater so zu sehen. Von Kopf bis Fuß wie grauer Ruß, was weiß ich, wie Rauch, und da stand er, mit Blut auf dem Gesicht und den Kleidern.«
»Wir haben ein Puzzle gemacht, ein Tierpuzzle, Pferde auf einer Wiese.«
Die Wohnung ihrer Mutter lag nicht weit von der Fifth Avenue, mit Kunst an den Wänden, in sorgfältigen Abständen, und kleinen Bronzeskulpturen auf Tischen und Regalen. Heute war das Wohnzimmer in einem Zustand glücklicher Unordnung. Justins Spielzeug und Spiele lagen überall auf dem Boden verstreut und unterwanderten die Zeitlosigkeit des Raums, und das war schön, fand Lianne, denn ansonsten fiel es schwer, in so einer Umgebung nicht zu flüstern.
»Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich meine, wo das Telefon nicht ging. Am Ende sind wir ins Krankenhaus gelaufen. Zu Fuß, Schritt für Schritt, als ob man ein Kind begleitet.«
»Warum war er denn überhaupt da, in deiner Wohnung?«
»Ich weiß nicht.«
»Warum ist er nicht direkt ins Krankenhaus? Da unten, downtown. Warum ist er nicht zu Freunden?«
Freunden hieß Freundin, ein unvermeidlicher Seitenhieb, das musste einfach sein, sie konnte nicht anders.
»Ich weiß nicht.«
»Ihr habt es nicht besprochen. Wo ist er jetzt?«
»Es geht ihm gut. Das war’s erst mal mit Ärzten.«
»Was habt ihr besprochen?«
»Keine größeren Probleme, körperlich.«
»Was habt ihr besprochen?«, fragte sie.
Nina Bartos, ihre Mutter, hatte an Universitäten in Kalifornien und New York gelehrt und war vor zwei Jahren in Rente gegangen, die Soundso-Professorin von Dings, wie Keith einmal gesagt hatte. Sie war blass und dünn, ihre Mutter, seitdem sie ein neues Knie bekommen hatte. Sie war endlich und entschlossen alt. Das wollte sie anscheinend, alt und müde sein, das Alter annehmen, aufnehmen, sich damit umgeben. Die Stöcke, die Medikamente, die Mittagsschläfchen, die Diätvorschriften, die Arzttermine.
»Im Moment ist nichts zu besprechen. Er muss die Dinge auf Abstand halten, inklusive Besprechungen.«
»Wortkarg.«
»Du kennst Keith.«
»Das habe ich immer an ihm bewundert. Er erweckt den Eindruck, als gäbe es etwas Tiefgründigeres als Wandern und Skilaufen oder Karten spielen. Aber was?«
»Klettern. Nicht zu vergessen.«
»Und du bist mitgefahren. Das hatte ich vergessen.«
Ihre Mutter bewegte sich auf dem Stuhl, Füße auf den passenden Hocker gelegt, Spätvormittag, immer noch im Morgenmantel und gierig nach einer Zigarette.
»Ich mag seine Wortkargheit oder was immer es ist«, sagte sie. »Aber pass auf.«
»Er ist wortkarg bei dir, oder war es, die paar Male, als es tatsächlich zu einer Kommunikation kam.«
»Pass auf. Er war in großer Gefahr, ich weiß. Er hatte Freunde da drin. Das weiß ich auch«, sagte ihre Mutter. »Aber wenn du dein Urteilsvermögen von deinem Mitgefühl und deinem guten Willen beeinflussen lässt.«
Die Gespräche mit Freunden und früheren Kollegen über neue Knie, neue Hüften, über die Grausamkeiten von Kurzzeitgedächtnis und Langzeitkrankenversicherung. All das war Liannes Vorstellung von ihrer Mutter so fremd, dass sie manchmal ein theatralisches Element dabei vermutete. Nina versuchte, sich mit dem unaufhaltsamen Fortschreiten des Alters zu arrangieren, indem sie ein Drama daraus machte, und das verlieh ihr ein gewisses Maß an ironischer Distanz.
»Und Justin. Dass er jetzt wieder einen Vater im Haus hat.«
»Dem Kind geht’s gut. Wer weiß schon, wie es dem Kind geht? Es geht ihm gut, er ist zurück in der Schule«, sagte sie. »Die haben sie wieder aufgemacht.«
»Aber du machst dir Sorgen. Das weiß ich. Du steigerst dich in deine Ängste hinein.«
»Was kommt als Nächstes? Fragst du dich das nicht? Nicht nur nächsten Monat. Auf Jahre hinaus.«
»Nichts kommt als Nächstes. Es gibt kein Nächstes. Das hier war das Nächste. Vor acht Jahren haben sie in einem der Türme eine Bombe gelegt. Da hat keiner gesagt, was kommt als Nächstes. Das hier war das Nächste. Der Zeitpunkt für Angst ist dann, wenn es keinen Grund zur Angst gibt. Jetzt ist es zu spät.«
Lianne stand am Fenster.
»Aber als die Türme fielen.«
»Genau.«
»Als das geschah.«
»Genau.«
»Da hab ich gedacht, er ist tot.«
»Ich auch«, sagte Nina. »So viele haben zugesehen.«
»Und gedacht, er ist tot, sie ist tot.«
»Genau.«
»Zugesehen, wie diese Gebäude fielen.«
»Erst der eine, dann der andere. Genau«, sagte ihre Mutter.
Sie hatte mehrere Gehstöcke zur Auswahl, und manchmal, in den leeren Stunden, an den Regentagen, ging sie die Straße hoch zum Metropolitan Museum und sah sich Bilder an. Sie sah sich drei oder vier Bilder in anderthalb Stunden Sehen an. Sie schaute sich das an, was standhielt. Sie mochte die großen Säle, die alten Meister, das, was standhielt, was Auge und Geist ergriff, Erinnerung und Identität. Dann ging sie nach Hause und las. Sie las und schlief.
»Natürlich ist das Kind ein Segen, aber abgesehen davon, das weißt du besser als ich, war es ein großer Fehler, diesen Mann zu heiraten, und du hast es gewollt, du hast förmlich danach gesucht. Du wolltest ein ganz bestimmtes Leben leben, ohne Rücksicht auf die Folgen. Du wolltest etwas ganz Bestimmtes, und du dachtest, Keith.«
»Was wollte ich?«
»Du dachtest, Keith würde dich da hinbringen.«
»Was wollte ich?«
»Ein gefährliches Gefühl von Lebendigsein. Das war eine Eigenschaft, die du mit deinem Vater verknüpft hast. Aber zu Unrecht. Dein Vater war im Grunde ein vorsichtiger Mann. Und dein Sohn ist ein wunderbares, sensibles Kind«, sagte sie. »Aber abgesehen davon.«
Eigentlich liebte sie dieses Zimmer, ja, das tat Lianne, in seiner durchkomponierten Form, ohne herumliegendes Spielzeug und Spiele. Ihre Mutter wohnte erst seit ein paar Jahren hier, und Lianne sah es, wie ein Besucher vielleicht, als einen heiter selbstbezogenen Raum, was soll’s also, wenn er etwas einschüchternd war. Am meisten aber liebte sie zwei Stillleben an der nördlichen Wand, von Giorgio Morandi, einem Maler, über den ihre Mutter geforscht und geschrieben hatte. Das waren Gruppen von Flaschen, Krügen, Keksdosen, sonst nichts, aber es lag etwas in den Pinselstrichen, ein Geheimnis, das sie...
Erscheint lt. Verlag | 15.2.2012 |
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Übersetzer | Frank Heibert |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 11 September • Belletristik • Don DeLillo • Familie • Kiepenheuer & Witsch • Liebe • New York City • Roman • Schicksal • Terror-Anschläge • Terrorismus • World Trade Center • WTC-Katastrophe |
ISBN-10 | 3-462-30559-X / 346230559X |
ISBN-13 | 978-3-462-30559-3 / 9783462305593 |
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