Das Kindermädchen (eBook)

Kriminalroman
eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
480 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-08123-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Kindermädchen -  Elisabeth Herrmann
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Joachim Vernau ist ganz oben in der Berliner Gesellschaft angekommen. Er steht kurz davor, in die wohlhabende und einflussreiche Familie der von Zernikows einzuheiraten, nicht ahnend, dass ihre Ehrbarkeit nicht viel mehr als Fassade ist. Als eine ukrainische Frau auftaucht und behauptet, die von Zernikows hätten im Zweiten Weltkrieg eine Zwangsarbeiterin beschäftigt, lässt das Familienoberhaupt sie kurzerhand hinaus werfen. Wenig später wird sie tot aus dem Landwehrkanal geborgen. Vernau beginnt unangenehme Fragen zu stellen und kommt nicht nur der Identität der Frau sondern auch dem lukrativen Geschäft mit enteigneter Kunst auf die Spur ...

Nominiert für den Glauser, den wichtigsten deutschen Krimipreis.

Elisabeth Herrmann wurde 1959 in Marburg/Lahn geboren. Nach ihrem Studium als Fernsehjournalistin arbeitete sie beim RBB, bevor sie mit ihrem Roman »Das Kindermädchen« ihren Durchbruch erlebte. Fast alle ihre Bücher wurden oder werden derzeit verfilmt: Die Reihe um den Berliner Anwalt Joachim Vernau sehr erfolgreich vom ZDF mit Jan Josef Liefers. Elisabeth Herrmann erhielt den Radio-Bremen-Krimipreis, den Deutschen Krimipreis und den Glauser für den besten Jugendkrimi 2022. Sie lebt mit ihrer Tochter in Berlin und im Spreewald.

Die Flugzeuge.

Mit zitternden Händen versucht sie, das Schwarzpapier dort zu befestigen, wo es sich am Fenster gelöst hat. Das Sirenengeheul kündigt sie an, die zehnten Reiter der Apokalypse. Noch ist es mehr zu ahnen, das dunkle Dröhnen, doch es kommt näher. Vielleicht Richtung Neukölln. Vielleicht wird es auch Spandau treffen. Oder Köpenick. Vielleicht aber auch den Grunewald dieses Mal, diese Straße und dieses Haus. Wo Olga jetzt sein mag? Nicht nachdenken. Bloß nicht nachdenken. Vielleicht hilft Wachs.

Sie löscht die Kerze und taucht den Finger in die heiße Flüssigkeit. Damit bestreicht sie den Holzrahmen und versucht erneut, das Fenster korrekt zu verdunkeln. Der Sirenenton jagt den Schrecken in den Körper, der nur noch einen Impuls kennt: fliehen, sich verkriechen, Schutz suchen. Beten.

Vor dir sind tausend Jahre wie ein Tag. Lehre uns, Herr, unsere Tage zu zählen. Du warst unsere Zuflucht, von Geschlecht zu Geschlecht.

»Paula?«

Die Tür zu dem kleinen Kabuff über dem Ofen wird aufgerissen. Im Licht einer Kerze erscheinen die angsterstarrten Züge eines Kindes.

»Paula!«

Flink klettert der Junge in den engen Raum, der sogar für ihn zu niedrig zum Stehen ist.

»Du sollst schlafen.«

Sie lächelt, als sie sein Gesicht unter den verstrubbelten Haaren sieht. Er stellt die Kerze ab und kriecht neben sie. »Was machst du da?«

»Ich stricke.«

Er deutet auf die vielen Päckchen mit Verbandmull. Eines ist geöffnet, sie hat gerade den weißen Strang zu einem Ärmel verarbeitet, als der Alarm begann.

»Das ist verboten. Ich muss das melden.«

Sie lacht und fährt ihm mit der Hand durch die Haare. Vor zwei Jahren, als sie in dieses Haus gekommen war, wäre ihr bei diesen Worten himmelangst geworden. Das war die Zeit, in der er sie kaum angesehen hatte und die einzigen Worte, die er an sie richtete, Befehle waren. Ihm fehlt der Vater. Die Mutter hat keine Zeit, sich um ihn zu kümmern. Sie ist oft außer Haus. Manchmal bringt sie die Männer auch mit, dann versucht sie, den Jungen abzulenken.

Der Junge hatte sie dafür gehasst, weil sie wusste, was seine Mutter tat. Er hatte sie gehasst, bis er das Fieber bekommen hatte und ihm nichts mehr helfen konnte. Nur noch nasse Umschläge und eine kühle Hand auf der Stirn. Ihre Hand, nicht die der Mutter. Als die Krise kam, hatte sie sich zu ihm gelegt und ihn festgehalten.

Er war nicht gegangen. Seitdem ist er ihr Sohn. Jetzt ist sie vierzehn und er elf, und die tausend Tage sind wie ein dunkler Tag. Herr, wann geht er vorüber?

»Der letzte Winter war kalt.«

Sie schiebt seinen Pyjamaärmel hoch und probiert die Länge an. »Du sollst nicht frieren dieses Mal.«

»Sie kommen«, sagt er.

Beide blicken auf das verdunkelte Fenster. Sie legt das Strickzeug zur Seite und zieht ihn an sich. Augenblicklich schmiegt er sich an ihre Schulter. Er tut es nur, wenn die Flieger kommen. Wenn es dunkel und die Mutter nicht zu Hause ist. Er ist kein zärtliches Kind. Manchmal kneift er sie, oder er boxt sie leicht. Das ist seine Art zu zeigen, dass er sie mag.

»Der Mai ist schon fast vorbei«, sagt er.

Sie nickt. Sie weiß, was die Leute flüsterten. Sie hat gute Ohren. Keiner zeigt seine Angst, aber ernst sind sie geworden, die Deutschen. Die Invasion muss direkt bevorstehen.

Sie weiß nicht genau, was das ist, die Invasion. Es muss der Auslöser für die längst überfällige Vergeltung sein, mit der man den Feind bestrafen will. Der Luftterror wird mit jedem Tag schlimmer. Die Verdunkelungen machen die Menschen nervös und trübsinnig. Der Junge erzählt flüsternd von Luftüberlegenheit, als ob er wüsste, wie frevlerisch allein schon das Denken dieses Wortes ist. Mit der Invasion soll alles anders werden. So wie ein Gewitter erst unangenehm ist und dann die Luft reinigt. Wir werden sie hereinlassen, sagt der Junge, sie werden sich sicher fühlen, und dann werden wir sie vernichten.

Der Sirenenton mahnt durchdringend und unmissverständlich. Sie versteht nicht, warum nicht wenigstens der Junge in den Keller darf. Warum die Freifrau es einen Tag lang gestattet und den anderen Tag verbietet. Der Sirenenton ist anders heute. Sie weiß nicht, ob es nur das Blut ist, das in ihren Ohren rauscht, oder der Wind in den Bäumen im Garten oder ob die Flugzeuge tatsächlich wiederkommen.

Lass sie woanders hinfliegen, Herr. Wir vergehen durch deinen Zorn, werden vernichtet durch deinen Grimm, und wir beenden unsere Jahre wie einen Seufzer. Sende das Feuer in die Hölle, aus der es kam, aber nicht hierher, nicht hierher, Herr. Herr, wende dich uns doch endlich zu. Hab Mitleid mit allen Knechten!

»Hör doch auf mit dem Beten! Wenn nicht bald was passiert, wird es in diesem Jahr für uns wieder zu spät sein.«

Zu spät für den Frieden, von Sieg redet keiner mehr. Nur der Junge glaubt noch daran. Kinder und Verrückte.

»Wir müssen Luft bekommen, um im Osten wieder stärker einzugreifen.«

»Ja,ja.«

»Und endlich die Vergeltungswaffen einsetzen. Mit der Invasion wird alles anders. Erst lassen wir sie rein, und dann …« Er fährt mit dem Zeigefinger über seine Kehle. Ihre Hand schnellt vor und hält ihn fest.

»Nicht«, sagt sie.

Der Bäcker am Roseneck hat seine Uk-Stellung verloren und muss die Uniform noch einmal anziehen. Im Weltkrieg ist er verwundet worden, und dazu ist er noch Jahrgang 84. »Die nehmen mich doch nicht mehr«, hatte er gesagt.

Jetzt ist er auf der Krim. Seine Frau hat es ihr erzählt. Eine robuste, zuversichtliche Frau. Sie hat sich heimlich mit der Schürze die Augen ausgewischt. Sind denn alle taub und blind?

Die Russen stehen schon in Rumänien, im Generalgouvernement und vor Ungarn und der Slowakei. Man muss nur den Wehrmachtsbericht hören, dann kann man sich denken, wie das alles enden wird. Noch vor einer halben Stunde haben sie gemeldet, das Reichsgebiet sei feindfrei. Und jetzt das.

»Dieses Mal kommen sie von Potsdam«, flüstert er.

Die Luft beginnt zu vibrieren.

Hoffentlich hat Olga dort einen Graben. Olga ist so zart und dünn, und sie hat doch ihrer Mutter versprochen, auf sie aufzupassen, Olga ist doch ein halbes Jahr jünger, ein Kind fast noch, Olga, die jetzt einen ganzen Hof versorgt, das schafft sie doch gar nicht. Aber er soll nett sein, ihr Bauer. Und eine Kirche haben sie da auch. Nur evangelisch, aber sie darf zum Gottesdienst.

»Die kommen hierher!«

Herr, du warst unsere Zuflucht, von Geschlecht zu Geschlecht. Von Jahr zu Jahr säst du die Menschen aus, sie gleichen dem sprossenden Gras. Am Morgen grünt es und blüht, am Abend wird es geschnitten wie Gras …

»Hör auf! Hör auf!«

Er reißt ihre betenden Hände auseinander und zieht die Pappe vom Fenster weg. Sofort bläst sie die Kerze aus. Tanzende Lichter senken sich aus dem tiefschwarzen Himmel herab und beleuchten den Garten wie ein stilles Feuerwerk. Weihnachtsbäume.

»Ist das schön!«

Er schaut verträumt durch das schuhkartongroße Fenster nach oben, wo das Verderben in den leuchtendsten Farben direkt auf sie zukommt. Das Dröhnen wird immer lauter, bis sie auftauchen wie riesige schwarze Hornissen.

Er weicht zurück. Dann öffnet er den Mund und will etwas sagen. In diesem Moment zerreißt ihr die Detonation fast das Trommelfell. Die Wände zittern und neigen sich auf sie zu. Staub und Putzbrocken regnen auf sie nieder.

»Raus!«, brüllt sie und kann sich selbst kaum hören. In fliegender Hast klettert sie aus dem Bett, springt hinunter in die Küche und hilft ihm, ihr zu folgen. Sie spürt die Scherben unter ihren Füßen und rennt zum Fenster, das kein Glas mehr hat. Sie beugt sich hinaus und sieht auf die Straße. Durch den dichten Staub erkennt sie den Widerschein eines Feuers. Zwei Häuser weiter muss es sein, oben auf der Ecke.

Wieder beginnt der Boden zu vibrieren.

»Es werden immer mehr!«, schreit er.

Sie nimmt seine Hand und hastet den Flur entlang. Das Haus scheint unversehrt, nur die Scheiben sind alle zu Bruch gegangen.

Der nächste Flieger ist so tief, dass er fast das Dach streift. Vielleicht stürzt er ab, genau hier, und verwandelt alles in eine Flammenhölle.

Sie rennen in das riesige Treppenhaus und jagen die Stufen hinunter, bis sie vor der Kellertür stehen. Sie ist abgeschlossen. Es heult. Ein grauenhafter Ton, etwas so Fürchterliches hat sie noch nie gehört. Als ob im Himmel die Hölle los sei. Es wird lauter und lauter, sie hält den zitternden Jungen fest an sich gepresst und duckt sich, macht sich so klein wie möglich, noch kleiner, fast unsichtbar, dann kommen der unglaubliche Schlag und die Druckwelle.

Das Haus ächzt und jammert in allen Fugen, aber es hält. Es ist ein gutes Haus, kräftig und solide. Es kann einiges aushalten. Aber nicht genug, wenn der nächste Einschlag es trifft.

»Wir dürfen da nicht rein«, sagt der Junge und klappert mit den Zähnen. Er kauert auf dem Boden. Die Angst übermalt sein Kindergesicht mit Blässe. Die Augen hat er aufgerissen, sie kennt den Blick, er ist überall gleich, wenn das Grauen kommt.

Sie zieht ihn hoch und packt ihn an den Schultern.

»Du musst.«

Sie läuft durch das Erdgeschoss hin zu dem kleinen Raum neben der Eingangstür, in dem die Besen, Putzeimer und Gartengeräte stehen. Mit einer Axt kommt sie wieder. Sie schiebt den Jungen zur Seite und holt aus.

Um sie herum geht die Welt unter. Die Kampfverbände fliegen Richtung Norden, vermutlich werden sie dieses Mal Moabit und den Wedding heimsuchen. Was hier herunterkommt, sind nur die Vorboten. Nur ein kleiner Vorgeschmack dessen, was den Menschen dort noch bevorsteht. Hoch im...

Erscheint lt. Verlag 27.1.2012
Reihe/Serie Joachim Vernau
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Schlagworte Berlin • Deutschland • eBooks • Enteignung • Ermittlung • Farce • Fassade • Geheimnis • Geschichte • Gesellschaft • Heimatkrimi • Joachim Vernau • Kriegsverbrechen • Krimi • Kriminalroman • Kriminalromane • Krimis • Kunst • Mord • Nachforschung • Roman • Verbrechen • ZweiterWeltkrieg
ISBN-10 3-641-08123-8 / 3641081238
ISBN-13 978-3-641-08123-2 / 9783641081232
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