Ungeschoren (eBook)

Kriminalroman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2011 | 1. Auflage
416 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-95195-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ungeschoren -  Arne Dahl
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Vier mysteriöse Buchstaben, P-U-C-K, und vier Opfer, die scheinbar nur eines miteinander verbindet - eine kaum sichtbare Tätowierung. Am hellsten Tag des Jahres präsentiert uns Arne Dahl einen gespenstisch düsteren Täter ...  Ein kniffliger Fall für das Stockholmer A-Team um Kommissarin Kerstin Holm. Raffiniert, atemberaubend und geradezu teuflisch geht dieser Kriminalroman an die Grenzen des Genres.

Arne Dahl, geboren 1963 in Sollentuna, hat mit seinen Kriminalromanen um das Stockholmer A-Team eine der erfolgreichsten Reihen der Welt geschaffen. International mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht, verkauften sich allein im deutschsprachigen Raum über 2,7 Millionen Bücher. Sein Thriller-Quartett um die Opcop-Gruppe mit den Bänden »Gier«, »Zorn«, »Neid« und »Hass« wurde ebenfalls zum Bestseller. Mit »Sieben minus eins« begann Arne Dahl 2016 eine brillante neue Reihe um das Ermittlerduo Berger & Blom, dessen Bände jeweils monatelang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste standen. Zusammen mit Simon Beckett wurde er 2018 mit dem Ripper Award geehrt.

2

Das Land, in dem die Nächte den ganzen kurzen Sommer über immer dunkler werden, dachte sie. Es ist mein Land.

Und genau dieser Gedanke war verboten.

Es ging nicht mehr. Es konnte so nicht weitergehen. Heute Nacht, in dieser hellen Sommernacht, sollte eine Veränderung eintreten. Auf die eine oder andere Weise.

Sie wollte nicht hinausgehen und sich dem Sog der nordischen Angst dieser schönen Sommernacht aussetzen. Diesem seltsam schönen, süß ziehenden Schmerz, der bis ins Mark drang.

Der Wehmut.

Noch nicht richtig.

Sie blieb stehen und sah durchs Treppenhausfenster hinaus. Ein wenig unbeteiligt. Von der Seite. Immer noch durchs Fenster.

Es war wie ein Gemälde.

Und das einzige Motiv war das nackte, reine Mittsommerlicht.

Und es ist meins, dachte sie. Ich habe es mir verdient. Ich habe ein Recht darauf. Das, wenn nichts sonst, hat mich eingeladen.

Dann trat sie hinaus in die helle Nacht.

Hell und rein. Und kalt. Sie hielt einen Augenblick inne und setzte sich der Kälte aus. Bis sie schauderte. Das Schaudern setzte sie in Bewegung.

Bald war die hellste Nacht des Jahres. Bald würden die Nächte wieder länger werden. Sommer konnte man es noch nicht nennen. Nicht im Ernst. Man konnte doch diese Eiseskälte nicht im Ernst Sommer nennen. Ihr Körper, wenn nichts anderes, erinnerte sich an ganz andere Sommer.

Sie wollte nur ihr Leben weiterleben. Ihr eigenes. Das war alles. Und das durfte sie nicht.

Nedim. Die Trauer überfiel sie. Mit voller Wucht.

Sie musste stehen bleiben. Ihr Herz erstarrte zu Eis.

Nedim. Mein Bruder. Nedim und Naska. Nur ein Jahr zwischen ihnen. Immer zusammen. Immer füreinander da. Immer bereit. So nah, wie man sich nur kommen kann. Die kleinen Geschwister.

Wie ähnlich wir uns waren.

Wie unglaublich ähnlich.

Aber jetzt nicht mehr.

Sie wanderte weiter durch das menschenleere Hochhausgebiet. Es war zwanzig nach zwei in der Nacht und taghell. Als wäre die Welt leer. Vollständig leer – bis auf ein klares, klares Licht.

Und sie selbst.

Nedim, warum musste es so kommen? Warum war es nicht möglich, sich zu lösen? Alles, was ich will, ist leben.

Die Unterdrückung durch die Unterdrückten.

Neuer Name, neue Telefonnummer, neue Adresse, neue Stadt – es reichte nicht. All die Mühe, die du darauf verwendet hast, mich zu finden, Nedim, kann man sie als Liebe deuten? Als verzerrte Bruderliebe?

Stockholm hätte mich schlucken sollen, aber du hast mich gefunden. Du hast nach einer Nadel im Heuhaufen gesucht, und du hast sie gefunden. Aber sie wird dich stechen. Es kommt nur darauf an, zuerst zu stechen. Denn Wörter werden niemals reichen. Wörter haben mit der Sache nichts zu tun. Er benutzte Wörter nicht auf diese Art und Weise. Als Gespräch. Als Dialog.

Das Telefongespräch gestern Abend. Nicht viele Wörter. Die Wörter als Maskierung. Als ob er ein geschäftliches Gespräch führte.

»Wir müssen uns treffen, Naska.«

»Ich heiße nicht Naska. Ich heiße Rosa.«

Am Wegrand wuchsen überall Blumen. Sie pflückte eine und betrachtete sie. Sie war lila und roch komisch.

Sieben Sorten Blumen unter dem Kopfkissen, und die Mittsommernacht würde magisch sein. All diese merkwürdigen Wörter: Kommt, Lilien und Akeleien, kommt, Rosen und Salbei, komm, liebliche Krausminze, komm, Herzensfreude.

Was war eine Akelei?

Asphaltblumen mussten reichen, dachte sie und lächelte schief. Sie pflückte eine welke blaue. Noch fünf, und ihre Wünsche würden in Erfüllung gehen, die Welt würde verwandelt sein.

Die Nacht magisch werden.

In gewisser Weise war sie es schon. Dieser Sog. Der Klumpen in der Magengegend. Das Licht, das im Hals in die Irre ging.

Nur eins sprach dafür, dass sie die Nacht überleben würde.

Und das war nicht das Messer. Das alberne kleine Schweizer Klappmesser in ihrer Tasche. Das sie außerdem erst aufklappen musste, um es zu benutzen. Sie pflückte noch eine Blume, eine stark verzweigte gelbe. Natürlich würde sie das Messer aufklappen. Sobald sie sieben Sorten Blumen hatte, um sie in die Handtasche zu legen.

Aber nicht vorher.

Das Flüchtlingslager in Schonen. Sie war sechs, er sieben. Während sie warteten, lernten sie Schwedisch. Aber vor allem badeten sie. Der kleine See. Das eiskalte schwedische Wasser. Zu dem sie heimlich schlichen. Nedim und Naska.

Die kleinen Geschwister.

Warum nicht einfach die Polizei rufen? Warum nicht dafür sorgen, dass die Polizei am Treffpunkt ist?

Weil es ein Ende haben musste. Weil sie – obwohl er nicht zuhörte – mit ihm sprechen musste, ihn dazu bringen musste zu verstehen. Es war so wichtig, dass er und seinesgleichen verstanden. Die jüngere Generation. Früher oder später mussten sie alle zuhören.

Und weil er ihr Bruder war.

Sie pflückte eine seltsame orangefarbene Blume mit zerzausten Blütenblättern. Vier. Sie musste die Namen lernen.

Jetzt sah sie das Haus. Es war niedriger als die anderen. Ein Clubhaus, Vereinsheim, Sarg.

Sie sah auf die Uhr. Bald halb drei. Der Todesaugenblick.

Da brach die Angst über sie herein. Es kam ihr vor, als sollte sie erstickt werden, die Angst zwang ihr die Zunge zurück in den Rachen, und es war ihr unmöglich zu atmen.

Es war einfach nicht möglich.

Warum ging sie ihrem Tod entgegen? Es hätte verhindert werden können. Hatte er nicht angerufen und sie gewarnt, gerade damit sie ihn hindern sollte? War es nicht eigentlich eine Bitte, die lautete: Halte mich auf, ich kann mich nicht selbst aufhalten, die Tradition von Jahrhunderten drückt mir das Messer in die Hand, und ich kann mich nicht selbst aufhalten.

Du musst es für mich tun, Naska, deshalb rufe ich dich an.

Nein, Nedim, du selbst musst dich aufhalten, du selbst musst die Wahl treffen, du selbst musst die Jahrhunderte umstülpen und das Abgestandene auslüften. Das kann ich nicht für dich tun.

Ich gehe meinem eigenen Tod entgegen, weil ich mich darauf verlasse, dass du dich auf deine Vernunft besinnst. Dass du Wörter wieder zu Wörtern werden lässt. Weil gerade du gerade jetzt mit der Familientradition brechen sollst. Mein wehrloser Körper stellt diese Forderung an dich. Meine Worte.

Aber sie hatte ja das Messer. Solange das Schweizer Klappmesser ungeöffnet in ihrer Handtasche lag, waren ihre Argumente verständlich. Sobald sie das Messer öffnete und in die Hand nahm, sagte sie etwas ganz anderes.

Es war eine Gratwanderung.

Sie bewegte sich wieder vorwärts. Die Blumen wuchsen immer spärlicher. Hätte sie noch die Zeit, sieben Sorten Blumen zusammenzubekommen? Hätte sie noch die Zeit, sich auf eine schwedische Tradition zu verlassen?

Sie wusste nicht, ob die kleine rosa Pflanze, die aus dem Steinpflaster zwischen dem Bürgersteig und der Straße wuchs, wirklich als Blume zählte, doch sie riss sie aus und steckte sie in den Strauß. Fünf jetzt. Fünf Blumen unter dem Kissen.

Aber was für einem Kissen?

Dem Sargkissen?

Sie war bei dem niedrigen Vereinslokal angelangt. Keine Blume, so weit das Auge reichte, nicht einmal im Blumenbeet. Als wäre es vorbestimmt, dass sie keine richtige Chance hätte.

Sie sah die Öffnung, den gewölbten Durchgang zum Hinterhof. Den Treffpunkt. Nicht ein Laut, nicht eine Bewegung, nur das glasklare, blendende Nachtlicht.

Eine schöne Nacht zum Sterben.

Sie erreichte die Ecke. Eine Weile blieb sie an die Wand gedrückt stehen. Sie sah auf ihre Füße. Zwischen ihren Sportschuhen wuchs eine kleine weinrote Blume aus dem Asphalt.

Sie nahm sie und lächelte schwach. Sechs Sorten sind es geworden, dachte sie und bog um die Ecke. Das nennt man »knapp daneben«.

Er saß auf einer Bank ein paar Schritte im Hinterhof. Sein gebeugter Rücken war ihr zugewandt, sein Gesicht war nach unten gerichtet, auf die Knie. Als drückte das Gewicht der ganzen Welt seine Schultern zu Boden.

Sie schlich vorwärts. In der Hand hielt sie kein Schweizer Klappmesser, nur sechs Sorten Blumen in einem traurigen Strauß.

Sie selbst war die Waffe. Ihre Erscheinung. Alles, woran sie damit appellieren konnte. Das war ihre Waffe.

Sie hatte ihn fast erreicht. Er blieb sitzen, bewegte sich nicht. Die Schwere erschien unerträglich.

Gleich würde er sich umdrehen. Das Messer würde in seiner Hand aufblitzen: der entscheidende Augenblick.

»Nedim?«, sagte sie tonlos.

Er antwortete nicht. Saß nur da und schien todmüde zu sein.

»Nedim?«, wiederholte sie, etwas lauter, und legte die Hand auf seinen Rücken.

Leicht, leicht.

Da kippte er nach vorn.

Die unsichtbare Schwere drückte ihn hinunter auf den Asphalt. Er fiel, haltlos, schwer, plump.

Seine Augen starrten dunkel in die helle Sommernacht. Unter den Augen war es vollkommen schwarz, als hätte er Monate nicht geschlafen.

Jetzt würde er ewig schlafen.

Sie betrachtete ihren Bruder. In der Rechten hielt er ein großes Messer mit einer breiten Klinge. Es blitzte nicht.

Sein weißes Hemd war ganz rot.

Und in einem Knopfloch steckte eine blauviolette Blume. Sie sah aus wie eine schön geformte Glocke. Als sie sie aufnahm und in ihren Strauß steckte, schoss es ihr durch den Kopf, dass sie tatsächlich wusste, wie diese Blume hieß.

Akelei.

Ganz still öffnete sie ihre Handtasche und legte den Strauß mit sieben verschiedenen Sorten Blumen neben das ungeöffnete Schweizer Klappmesser.

Dann schloss sie die Tasche.

Rührte sich nicht. Atmete.

Und aus Tiefen, die sie für ausgestorben gehalten hatte, stieg ein Weinen...

Erscheint lt. Verlag 14.12.2011
Reihe/Serie A-Team
Übersetzer Wolfgang Butt
Sprache deutsch
Original-Titel En midsommarnattsdröm
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte A-Gruppe • A-Team • Buch • Bücher • Kerstin Holm • Krimi Schweden • Krimiserie • Krimi Skandinavien • Mittsommer • Paul Hjelm • Puck • Ritualmord • Roman verfilmt • Schweden • Schweden Krimi • Serienkiller • Serienmord • Serienmörder • Skandinavien Literatur • spannend • Spannung • Stockholm • Taschenbuch • Tätowierung • Urlaubslektüre
ISBN-10 3-492-95195-3 / 3492951953
ISBN-13 978-3-492-95195-1 / 9783492951951
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