Die geheimen Ängste der Deutschen (eBook)
320 Seiten
Scorpio Verlag
978-3-942166-76-8 (ISBN)
Gabriele Baring ist analytisch orientierte systemische Familientherapeutin und psychotherapeutische Heilpraktikerin. Sie arbeitet bevorzugt mit der Methode der systemischen Familienaufstellungen. Schwerpunktmäßig widmet sie sich der transgenerationellen Weitergabe von familiären Traumen und Verhaltensmustern bei psychischen, psychosomatischen und Bindungsstörungen. Ihre Erfahrungen gibt sie in Seminaren, Gruppen- und Einzeltherapien sowie Vorträgen weiter. Darüber hinaus ist die Diplom-Volkswirtin und frühere Kulturredakteurin als Coach und Beraterin tätig und verfasst regelmäßig psychologische Analysen für die BZ. Die Mutter von zwei Kindern lebt und arbeitet in Berlin.
Gabriele Baring ist analytisch orientierte systemische Familientherapeutin und psychotherapeutische Heilpraktikerin. Sie arbeitet bevorzugt mit der Methode der systemischen Familienaufstellungen. Schwerpunktmäßig widmet sie sich der transgenerationellen Weitergabe von familiären Traumen und Verhaltensmustern bei psychischen, psychosomatischen und Bindungsstörungen. Ihre Erfahrungen gibt sie in Seminaren, Gruppen- und Einzeltherapien sowie Vorträgen weiter. Darüber hinaus ist die Diplom-Volkswirtin und frühere Kulturredakteurin als Coach und Beraterin tätig und verfasst regelmäßig psychologische Analysen für die BZ. Die Mutter von zwei Kindern lebt und arbeitet in Berlin.
Einleitung
Wir leben in Zeiten großer Ängste. Seit die globale Finanzkrise das Vertrauen in ein funktionierendes internationales Wirtschaftssystem erschüttert hat, fürchten immer mehr Menschen weltweit um ihre Existenz. Doch es scheint ganz so, als seien die Deutschen davon in besonderer Weise betroffen. Die Verunsicherung ist groß, und nicht erst seit den Turbulenzen von Eurokrise und drohender Inflation bestimmen Zukunftsangst und Weltuntergangsstimmung das deutsche Lebensgefühl. Was macht uns so anders? Warum sind wir notorisch unzufrieden, klagen viel und malen die Zukunft in dunklen Farben?
Über den deutschen Nationalcharakter ist viel spekuliert worden. Über die sprichwörtliche deutsche Tüchtigkeit ebenso wie über Größenwahn und den Hang zu Grübelei und Melancholie. Durch den populären Begriff der »German Angst«, die sogar in der Diagnose einer »German disease« gipfelt, attestieren uns andere Länder gleichsam eine kollektive Störung: Angst, Depression und Mutlosigkeit seien die Kennzeichen dieser sogenannten deutschen Krankheit – und wir müssen zugeben, dass diese Symptome mittlerweile Massenphänomene sind. Woher aber rührt unser Hang zu Pessimismus und Negativität? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir den Blick auf die Vergangenheit richten. Denn es sind die Traumata des 20. Jahrhunderts, die bis heute nachwirken und in Gestalt von Ängsten und anderen ererbten Gefühlen in uns überdauern. Zwei Weltkriege und zwei Diktaturen sind an kaum einer deutschen Familie spurlos vorübergegangen. Wir alle sind mit den Erlebnissen unserer Vorfahren eng verbunden – ihr Leid und ihre Verfehlungen wirken bis in unsere Gegenwart. »Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen«, lautet der erste Satz in Christa Wolfs Erinnerungsbuch Kindheitsmuster. Es gibt keine Gnade der späten Geburt. Als seelisches Erbe tragen wir die Traumata tief in uns, Verlust und Todesangst ebenso wie die Scham einer als Tätervolk gebrandmarkten Gesellschaft. Sie wurden von Generation zu Generation weitergegeben und kommen durch diffuse Ängste, Depressionen, Gewaltneigung und Bindungsschwierigkeiten zum Ausdruck. Das betrifft den Einzelnen, die Familien und das gesellschaftliche Leben, bis hinein in die Spitzen der deutschen Politik.
Thematisiert wird das bisher nur am Rande. Ein unausgesprochenes Redeverbot über das Leid der Deutschen hatte sich in den Anfängen der jungen Bundesrepublik etabliert, auch ein Trauerverbot, das auf die Diagnose einer Kollektivschuld folgte. Noch immer ist es heikel, die Verletzungen zu benennen, die uns bis heute beschäftigen, oft im Verborgenen. Aber es ist höchste Zeit, dass wir uns aus der Erstarrung lösen. Zu schwerwiegend sind die Erfahrungen, die auf uns lasten, zu alarmierend die Zeichen, die signalisieren, dass etwas nicht stimmt mit uns.
Die Kriegsgeneration sowie die Kriegskinder, die während des Zweiten Weltkriegs geboren wurden, verstummten in der Phase des Wiederaufbaus. Sie wollten vergessen und richteten den Blick unverwandt auf die Zukunft. Ihre Kinder konnten nur ahnen, was ihre Eltern durchgemacht hatten. Sie spürten, dass es seelische Wunden gab, mit denen sich ihre Mütter und Väter insgeheim quälten. Erzählt wurde wenig, dennoch waren die Traumata präsent, bis in die feinsten Verästelungen des familiären Alltags hinein. So übernahmen die nächsten Generationen unbewusst die Lebensthemen ihrer Eltern und geben sie heute an ihre Kinder weiter.
Noch immer wird zu wenig gesprochen. Für viele ist das Dritte Reich eine tabuisierte Phase der deutschen Geschichte, in der das Böse aus den Menschen hervorbrach, gewalttätig, erschreckend, unbegreiflich. Viele grenzen aus, was sie beunruhigt. Solange aber verschwiegen und verdrängt wird, solange wir das ominöse »Böse« moralisch verurteilen und von uns weisen, haftet es uns umso hartnäckiger an.
Schon von Jugend an galt mein Interesse der Frage, warum wir so sind, wie wir sind. Ich wollte verstehen, warum wir uns manchmal so seltsam, unverständlich und widersprüchlich verhalten, woher die Blockaden kommen, die Ängste und Verunsicherungen. Meine jahrelangen Erfahrungen als Therapeutin führten mir vor Augen, dass wir in einem komplexen energetischen Geflecht agieren. Diese unsichtbare Matrix gibt uns Motive vor, die unser Verhalten und unsere Gefühle sowie unser Erleben steuern: Familiengeheimnisse, traumatische Erlebnisse der Vorfahren, Ausgrenzungen, die über Generationen hinweg im Einzelnen fortwirken.
In meiner familientherapeutischen Arbeit begegnen mir Klienten, deren gegenwärtige Anliegen weit zurück in der Vergangenheit wurzeln. Durch die Methode der systemischen Aufstellung zeigen sich dann häufig tief liegende, schmerzhafte Bindungen. Im Laufe der Zeit fiel mir auf, dass es oft Erlebnisse der Kriegszeit waren, die ihre langen Schatten auf das Leben meiner Klienten warfen: gefallene Väter, Brüder, Onkel, vergewaltigte Mütter und Großmütter, seelisch versehrte Familienmitglieder, die das Erlebte verschwiegen – meist aus Furcht und Scham, oft auch, weil die Erschütterung zu groß war.
In der systemischen Aufstellungspraxis werden Muster erkennbar. Alte, belastende Konflikte brechen hervor und können aufgelöst werden. Ganz bewusst verlasse ich dabei die Ebene der persönlichen Biografie und weite den Blick auf den familiären und historischen Kontext. Sosehr wir dazu neigen, uns als selbstbestimmte Individuen zu sehen, als Geschöpfe, die sich selbst erfinden, so illusionär ist diese Betrachtungsweise. Ohne den Blick auf die tiefere Dynamik der eigenen Familie, ohne die Einsicht in das dichte Gewebe von Individual- und Kollektivgeschichte sind weder Erkenntnis noch Heilung möglich.
Die Beschäftigung mit den Wurzeln geschieht allerdings noch viel zu selten. Viele Deutschen hadern mit ihrer Herkunftsfamilie und schneiden sich deshalb den tieferen Zugang zu sich selbst ab. Aus welcher verlässlichen Quelle aber sollen sie dann die Kraft holen, ihr Selbst zu befrieden und glücklich zu sein? Der Mechanismus der Verdrängung ist zu einer Normalität geworden, und damit die Unfähigkeit, inneren Widersprüchen auf den Grund zu gehen. Das führt zu emotionalen Störungen, deren Ursache uns oft nicht klar ist. »Ich weiß nicht, warum ich so traurig bin«, heißt es dann, »Ich kann meinen Ängsten nicht entkommen« oder: »Wohin mit meiner Wut?« Die Folgen äußern sich als psychische Störungen, oft auch als Krankheiten. Jede Krankheit aber ist gleichsam ein ungeöffneter Briefumschlag. Darin steckt in der Regel ein unbearbeitetes Thema aus dem Familiensystem, ein Mensch, dessen Verletzungen wir zu den unseren machen.
Dieses Buch enthält eine Fülle von anonymisierten Beispielen. Viele stammen aus meiner therapeutischen Arbeit, andere wurden mir privat anvertraut. Die Betroffenen sind mit der Veröffentlichung in der vorliegenden Form einverstanden. Ihr Vertrauen in mich machte das Buch erst möglich. Dafür gebührt ihnen mein tief empfundener Dank. Viele für die wesentliche Dynamik nicht relevanten Einzelheiten, die Hinweise auf Einzelne geben könnten, habe ich weggelassen oder verändert.
In den Beispielen spreche ich häufige Symptome an und zeige die verblüffenden Verbindungslinien zum Schicksal der Vorfahren. Dieses Schicksal ist das kollektive Massenschicksal der Deutschen und auch vieler Europäer. Die Klienten, die zu mir kommen, sind meist verstrickt mit den Lebensthemen von Familienangehörigen. Deren Schuld, deren Ängste, deren Leid vererben sich und hinterlassen in den Seelen der Nachkommen deutliche Spuren. Ohne dass es ihnen bewusst wäre, übernehmen sie Verhaltensweisen, unfähig, deren Ursache zu reflektieren. Angst, Depression, Krankheiten, Bindungsschwierigkeiten und Unwertgefühle empfinden sie als persönliches Problem und scheitern daran, selbstschädigende Strukturen zu verändern.
Sicherlich werden sich viele Leser dieses Buches in dem einen oder anderen Fallbeispiel wiedererkennen. Ich würde mich freuen, wenn dieses Buch dazu beitragen könnte, Perspektiven der Heilung aufzuzeigen. Ohne professionelle Hilfe können wir oft nur schwer begreifen, was uns ängstigt. Gewinnen wir jedoch Einsicht in unsere verborgenen Lebensthemen, haben wir die Chance, zu gesunden. In der intensiven Auseinandersetzung mit Familiengeschichten wurde mir klar: Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit gehabt zu haben. Und ich bin davon überzeugt: Die Zeit ist reif, dass wir reden und uns einander anvertrauen.
Dabei geht es um mehr als individuelle Befindlichkeiten. Die politischen Implikationen des Themas sind nicht zu übersehen. Ich beobachte nicht nur ein tief greifendes Unbehagen, das sich im Privaten zeigt, sondern eine gesellschaftliche Dimension der Traumatisierung, die als weitreichende Verunsicherung sichtbar wird. Unsere politischen Entscheidungsträger sind davon nicht ausgenommen. Was den Einzelnen krank macht, wiederholt sich im Makrokosmos der politischen Kultur. Die gesellschaftlichen Konsequenzen sind offensichtlich: Es werden immer weniger Kinder geboren, diffuse Ängste und Vereinsamung lähmen den Alltag. Bei vielen herrscht Verwirrung und Lebensangst. Angst und Schuldgefühle sind schlechte Ratgeber. Sie verhindern eine gesunde Identitätsbildung, auch der Gesellschaft. Solange es dabei bleibt, ist Deutschland auf dem unheilvollen Weg, sich selbst eine optimistische Zukunftsvision zu verbauen. Daher möchte ich eine neue Debatte über Schuld und Vergebung, Selbsthass und Selbstliebe anstoßen. Ich möchte dazu ermutigen, dass wir uns nicht nur mit der Geschichte auseinandersetzen, sondern sie anhand unserer Familienschicksale ganz konkret erfahren. Nur, wenn wir uns unserer Wurzeln bewusst werden, können wir Frieden...
Erscheint lt. Verlag | 24.10.2011 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Angstbekämpfungskonzept • Ängste • Christoph Daum • Esther Schweins • German Angst • Ottmar Hitzfeld |
ISBN-10 | 3-942166-76-3 / 3942166763 |
ISBN-13 | 978-3-942166-76-8 / 9783942166768 |
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