Wilde Schafsjagd (eBook)

Roman
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2011 | 1. Auflage
304 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-8610-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wilde Schafsjagd -  Haruki Murakami
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Der Geschichtenzauberer Murakami entführt in eine Welt voll bizarrer Geheimnisse, in der Realität und Fantasie zu einem virtuosen Abenteuer verschmelzen. Was als wilde, sich überschlagende Jagd endet, beginnt ganz einfach: mit einem Brief, in dem das Foto eines Schafes steckt. Er ist adressiert an einen müden Endzwanziger, der als Mitinhaber einer Tokyoter Werbeagentur in einem Nebel aus Zigaretten und Alkohol lebt: Nur ein Abenteuer kann einen Ausweg aus seiner Langeweile bieten - die >Wilde Schafsjagd< beginnt. Haruki Murakamis meisterhafter Bestseller um ein Schaf mit übernatürlichen Kräften, ein Teilzeit-Callgirl mit den schönsten Ohren der Welt und einen Kriegsverbrecher mit einem Gehirntumor ist ein fantastischer Detektivroman, inspiriert von den düsteren Werken Raymond Chandlers - nur dass dieser Fall unlösbar ist. »Ein Mythenerzähler für dieses Jahrtausend« NEW YORK TIMES BOOK REVIEW

HARUKI MURAKAMI, 1949 in Kyoto geboren, lebte längere Zeit in den USA und in Europa und ist der gefeierte und mit höchsten Literaturpreisen ausgezeichnete Autor zahlreicher Romane und Erzählungen. Sein Werk erscheint in deutscher Übersetzung bei DuMont. Zuletzt erschienen die Romane >Die Ermordung des Commendatore< in zwei Bänden (2018), in einer Neuübersetzung >Die Chroniken des Aufziehvogels< (2020), der Erzählband >Erste Person Singular< (2021), >Murakami T< (2022) und >Honigkuchen< (2023).

ERSTES KAPITEL

25.11.1970

MITTWOCHSPICKNICKS

Von ihrem Tod erfuhr ich durch einen Freund am Telefon. Er hatte es zufällig in der Zeitung gelesen. Langsam las er mir die Notiz aus der Morgenausgabe vor. Ein ganz gewöhnlicher Artikel. Hörte sich an, als hätte man einen frisch von der Uni gekommenen Volontär daran üben lassen.

Am soundsovielten Soundsovielten wurde an irgendeiner Straßenecke irgendjemand von einem Lastwagen überfahren. Gegen irgendjemanden wird wegen Verdachts auf fahrlässige Tötung im Dienst ermittelt.

Fast wie das Gedicht der Woche im Feuilleton.

»Wo ist denn die Beerdigung?«, fragte ich.

»Hm, weiß ich nicht«, sagte er. »Hatte sie Familie?«

Natürlich hatte auch sie eine Familie.

Ich rief noch am gleichen Tag bei der Polizei an und bekam Adresse und Telefonnummer ihrer Eltern. Dort erkundigte ich mich nach dem Datum der Beerdigung. Höret, und es wird euch gesagt. Fragen ist alles.

Ihre Eltern wohnten in der Altstadt. Ich schlug meinen Plan von Tokyo auf und markierte den Häuserblock mit einem roten Kuli. Das Haus lag wirklich in einem typischen Altstadtviertel. Ein wirres Gespinst aus U-Bahn-, S-Bahn- und Buslinien, unter- und überzogen von Abwasserkanälen, Straßen und Gässchen wie das feine weiße Netz einer Melonenschale.

Am Tag der Beerdigung nahm ich von Waseda aus die Straßenbahn. Kurz vor der Endstation stieg ich aus und öffnete den Stadtplan, aber der nutzte mir so viel wie ein Globus. Bis ich in die Nähe ihres Elternhauses kam, hatte ich einige Schachteln Zigaretten gekauft und zehnmal nach dem Weg gefragt.

Es war ein altes Holzhaus mit einem braunen Bretterzaun. Hinter dem Tor war links ein kleiner Garten, gerade so groß, dass man etwas damit anfangen konnte. In einem alten, unbrauchbaren Kohlebecken aus Keramik, das man in einer Ecke abgestellt hatte, standen über fünfzehn Zentimeter Regenwasser. Der Gartenboden war dunkel und feucht.

Die stille Feier fand im engsten Familienkreis statt, vielleicht, weil sie mit sechzehn von zu Hause weggelaufen war. Die meisten Gäste waren ältere Verwandte. Ein knapp über dreißigjähriger Mann, wohl ihr Bruder oder Schwager, hielt die Zeremonie ab. Ihr Vater war ein kleiner Mann Mitte fünfzig. Mit einem Trauerflor um den Ärmel seines schwarzen Anzugs stand er fast bewegungslos neben dem Eingang. Irgendwie erinnerte er an regennassen Asphalt.

Als ich ihm zum Abschied schweigend zunickte, nickte er wortlos zurück.

* * *

Im Herbst 1969 hatte ich sie zum ersten Mal getroffen; ich war zwanzig und sie siebzehn. In der Nähe der Uni gab es ein kleines Café, wo ich mich oft mit Freunden verabredete. Der Laden war nichts Besonderes, aber man konnte dort Hardrock hören und den schlechtesten Kaffee der Welt dazu trinken.

Sie saß immer am selben Platz, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, in ein Buch vertieft. Sie trug eine Brille, die einer Zahnspange ähnelte, und hatte knochige Hände, aber irgendwie war etwas Vertrautes an ihr. Ihr Kaffee war immer kalt, ihr Aschenbecher immer voll mit Zigarettenstummeln. Nur die Buchtitel änderten sich. Mal war es Mickey Spillane, mal Kenzaburo¯ O¯e, mal ein Gedichtband von Allen Ginsberg. Ihr schien alles recht zu sein, Hauptsache, es war ein Buch. Die Studenten, die im Café ein- und ausgingen, liehen ihr Bücher, und sie las sie vom ersten bis zum letzten Buchstaben, nagte sie förmlich wie Maiskolben ab. Damals verlieh noch jeder Bücher, deshalb gingen sie ihr nie aus.

Damals – das waren auch die Doors, die Stones, die Byrds, Deep Purple und die Moody Blues. Es knisterte in der Atmosphäre, und so gut wie alles, hatte man den Eindruck, würde augenblicklich in sich zusammenfallen, träte man nur etwas fester dagegen.

Wir tranken billigen Whiskey, hatten nicht gerade aufregenden Sex, redeten uns die Köpfe heiß und liehen uns gegenseitig Bücher aus. Und langsam, aber sicher senkte sich auch über die linkischen Sechziger quietschend der Vorhang der Weltbühne.

Ihren Namen habe ich vergessen.

Ich könnte den Zeitungsartikel über ihren Tod noch mal raussuchen und nachsehen, aber was nützt der Name jetzt schon noch. Ich habe ihn vergessen. Das ist alles.

Wenn ich Freunde von damals treffe und wir irgendwie auf sie zu sprechen kommen, können sie sich auch nicht an den Namen erinnern. Mensch, da war doch früher mal eine, die mit jedem ins Bett gestiegen ist, weißt du noch? Wie hieß die noch, hab den Namen total vergessen. Hab doch selbst oft mit ihr gepennt, was die wohl jetzt macht? Wär schon komisch, wenn ich sie mal zufällig auf der Straße treffen würde.

Es war einmal ein Mädchen, das mit jedem schlief.

So lautet ihr Name.

* * *

Genau genommen schlief sie natürlich nicht mit jedem. Sie hatte da ihre Prinzipien.

Trotzdem, objektiv und realistisch betrachtet, schlief sie mit so gut wie jedem.

Ein einziges Mal fragte ich sie nach diesen Prinzipien – aus reiner Neugierde. »Hmh …« Sie dachte etwa dreißig Sekunden nach. »Natürlich schlaf ich nicht mit jedem. Manchmal ist es mir auch zuwider. Aber ich will möglichst viele Leute kennen lernen. Um, ja, um für mich die Welt zu begreifen.«

»Indem du mit jemandem schläfst?«

»Ja.«

Diesmal war es an mir nachzudenken.

»Und – hast du sie dadurch ein bisschen begriffen?«

»Ein bisschen, ja«, sagte sie.

* * *

Vom Winter 1969 bis Sommer 1970 sah ich sie kaum. Die Uni war ständig zu – entweder wegen Studentenblockaden oder wegen Aussperrungen –, und ich hatte sowieso mit persönlichen Problemen genug zu tun.

Als ich im Herbst 1970 das Café wieder besuchte, waren ganz andere Leute da. Sie war so ziemlich das einzige bekannte Gesicht. Es lief immer noch Hardrock, aber das Knistern in der Atmosphäre war verschwunden. Nur sie und der schlechte Kaffee hatten sich in dem einen Jahr nicht verändert. Ich setzte mich auf den Stuhl ihr gegenüber. Wir tranken Kaffee und redeten über die alte Clique.

Die meisten von ihnen hatten die Uni abgebrochen. Einer hatte sich umgebracht, ein anderer war spurlos verschwunden, und so weiter.

»Und was hast du das ganze Jahr gemacht?«, fragte sie mich.

»So dies und das«, sagte ich.

»Und, bist du ein bisschen klüger geworden?«

»Ein bisschen, ja.«

An diesem Abend schlief ich das erste Mal mit ihr.

* * *

Ihre Lebensgeschichte kenne ich nicht genau. Das, was ich weiß, habe ich irgendwo aufgeschnappt, vielleicht hat sie es mir auch selbst im Bett erzählt. Als sie in der 10. Klasse war, hatte sie einen Riesenkrach mit ihrem Vater und lief von zu Hause (und von der Schule) weg. Das war im Sommer. Ja, so war’s, glaube ich. Wo sie wohnte und wovon sie lebte, wusste niemand.

Sie saß den ganzen Tag auf ihrem Stuhl im Rock-Café, trank pausenlos Kaffee, rauchte eine Zigarette nach der anderen, blätterte die Seiten ihres Buches um und wartete, bis jemand auftauchte, der ihr den Kaffee und die Zigaretten bezahlte (und das war nicht gerade Kleingeld für uns damals). Mit dem schlief sie dann meistens.

Das ist alles, was ich über sie weiß.

Von jenem Herbst an bis zum darauf folgenden Frühling besuchte sie mich jeden Dienstagabend in meinem damaligen Zimmer in Mitaka, am Rande der Stadt. Sie aß mein einfaches Abendessen, füllte meine Aschenbecher und schlief mit mir, das Radio in voller Lautstärke auf Rock gestellt. Mittwochs morgens nach dem Aufstehen spazierten wir durch den Wald zum Campus der ICU und aßen dort in der Mensa zu Mittag. Nachmittags tranken wir in der Cafeteria dünnen Kaffee, und wenn das Wetter gut war, legten wir uns auf eine Wiese im Unigelände und schauten in den Himmel.

Sie nannte das »Mittwochspicknick«.

»Jedes Mal, wenn wir hierher kommen, fühle ich mich wie bei einem richtigen Picknick.«

»Picknick?«

»Ja, überall Gras, soweit man sehen kann, und die Menschen sehen so glücklich aus …«

Sie setzte sich auf und verbrauchte mehrere Streichhölzer, um ihre Zigarette anzuzünden.

»Die Sonne geht auf und unter, Leute kommen und gehen, die Zeit streicht vorbei wie ein Lufthauch. Wie bei einem Picknick eben.«

Damals war ich einundzwanzig und würde in ein paar Wochen zweiundzwanzig werden. Hatte keine Aussicht, in absehbarer Zukunft meinen Abschluss zu machen, aber auch keinen richtigen Grund, die Uni abzubrechen. Ich steckte in einer merkwürdig depressiven Phase und konnte mich einige Monate lang einfach nicht aufraffen, irgendetwas Neues anzufangen.

Die Welt nahm ihren Lauf, nur ich hatte mich festgefahren. Im Herbst 1970 sah alles irgendwie so traurig aus, als ob überall die Farbe ausliefe. Die Sonnenstrahlen, der Geruch des Grases, sogar das leise Nieseln des Regens – alles regte mich auf.

Ich träumte damals oft von einem Nachtzug. Es war immer der gleiche Traum: Ein Zug, in dem man kaum atmen kann vor Zigarettenqualm, Toilettengestank und menschlichen Ausdünstungen. So voll, dass man fast nicht stehen kann, an den Sitzen klebt Erbrochenes. Ich halte es nicht mehr aus, stehe auf und steige an irgendeinem Bahnhof aus. Eine verlassene Gegend, kein Haus, kein Licht. Nicht einmal ein Bahnbeamter. Keine Uhr, kein Fahrplan, rein nichts.

In dieser Phase habe ich sie hart angefasst, glaube ich. Ich kann mich jetzt nicht mehr genau erinnern, wie. Vielleicht habe ich mich eigentlich auch nur selbst treffen wollen. Jedenfalls hat sie das in keiner Weise gekümmert. Oder (drastisch ausgedrückt) sie hat ziemlichen Spaß daran gehabt. Warum, weiß ich nicht....

Erscheint lt. Verlag 27.9.2011
Übersetzer Annelie Ortmanns
Sprache deutsch
Original-Titel Hitsuji o meguru boken
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte BOKU • Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki • Fantasy • Japan • Japanische Literatur • Japanischer Kultautor • Literatur • Mythen • Pinball • Romane & Erzählungen • surreal • Tokyo • Trilogie der Ratte • Wenn der Wind singt
ISBN-10 3-8321-8610-7 / 3832186107
ISBN-13 978-3-8321-8610-4 / 9783832186104
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