Der Kavalier der späten Stunde (eBook)

Commissario Montalbanos sechster Fall
eBook Download: EPUB
2011 | 1. Auflage
256 Seiten
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
978-3-8387-1256-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Kavalier der späten Stunde -  Andrea Camilleri
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Aktien statt Arancini, Spekulationen statt Spaghetti, Börse statt Balsamico - auch in Sizilien hofft man auf das schnelle Geld. Und genau das verspricht Emanuele Gargano, der 'Magier der Finanzen'. Doch plötzlich ist der Mann spurlos verschwunden. Und mit ihm das Geld der Bevölkerung. Alle jagen den Dieb, doch Commissario Montalbano ahnt, dass hinter der Sache ein ganz anderes Verbrechen steckt... Commissario Montalbano löst seinen sechsten Fall.

Eins


Der Laden des weit geöffneten Fensters knallte mit solcher Wucht gegen die Hausmauer, dass es wie ein Pistolenschuss klang, und Montalbano, der just in diesem Augenblick träumte, er sei in eine Schießerei verwickelt, fuhr aus dem Schlaf hoch, verschwitzt und durchgefroren zugleich. Fluchend stand er auf und schloss das Fenster. Der eisige Nordwind blies so stark, dass er nicht wie sonst die morgendlichen Farben auffrischte; er trug sie mit sich fort, verwischte sie dabei und ließ nur den Entwurf von einem Fresko zurück oder vielmehr blasse Spuren wie bei einem Aquarell, das ein Dilettant beim Sonntagsausflug gemalt hat. Offensichtlich hatte der Sommer, der schon seit ein paar Tagen mit dem Tode kämpfte, in der Nacht beschlossen, sich endgültig geschlagen zu geben und der folgenden Jahreszeit Platz zu machen, die eigentlich der Herbst hätte sein müssen. Eigentlich, denn in Wirklichkeit war dieser Herbst, wie er sich ankündigte, schon Winter, und zwar tiefer Winter.

Montalbano kroch wieder ins Bett und trauerte den verschwundenen Übergangszeiten nach. Wo waren sie geblieben? Auch sie waren vom immer schnelleren Rhythmus des menschlichen Daseins überrollt worden und hatten sich angepasst: Sie hatten begriffen, dass sie eine Pause bedeuteten, und waren verschwunden, denn heutzutage darf es keine Pausen geben in diesem immer wahnsinnigeren Rennen, das von endlosen Aktivitäten bestimmt ist: auf die Welt kommen, essen, lernen, vögeln, produzieren, zappen, kaufen, verkaufen, kacken und sterben. Dieses ewige Tun, und dann ist doch alles in einer Nanosekunde, im Nu vorbei. Hatte es nicht eine Zeit gegeben, in der man sich auch mit etwas anderem beschäftigte? Mit Denken, Nachdenken, Zuhören und – warum nicht – Faulenzen, Dösen, Sich-Ablenken? Fast mit Tränen in den Augen erinnerte sich Montalbano an die Kleidung in der Übergangszeit und an den Staubmantel seines Vaters. Und dabei fiel ihm ein, dass er für die Fahrt ins Büro Winterklamotten anziehen musste. Er gab sich einen Ruck, stand auf und öffnete die Tür des Schranks, in dem die warmen Sachen hingen. Der Gestank von mindestens einem Zentner Mottenkugeln überfiel ihn ohne Vorwarnung. Zuerst blieb ihm die Luft weg, dann tränten seine Augen, und schließlich musste er niesen. Er nieste zwölfmal hintereinander, Rotz lief ihm aus der Nase, sein Kopf war betäubt, und der Brustkorb tat immer mehr weh. Er hatte vergessen, dass seine Haushälterin Adelina einen Privatkrieg gegen die Motten führte, in dem sie sämtliche Register zog und immer eine erbarmungslose Niederlage erlitt. Der Commissario verzichtete lieber. Er schloss den Schrank wieder und nahm einen dicken Pullover aus der Kommode. Auch hier hatte Adelina Giftgase eingesetzt, aber diesmal war Montalbano darauf gefasst und wappnete sich mit Luftanhalten. Er ging auf die Veranda und legte den Pullover auf den Tisch, damit sich der Gestank an der frischen Luft etwas verflüchtigen konnte. Nachdem er sich gewaschen, rasiert und angekleidet hatte, wollte Montalbano den Pullover von der Veranda holen, um ihn anzuziehen, aber er war nicht mehr da. Ausgerechnet der nagelneue Pullover, den Livia ihm aus London mitgebracht hatte! Wie sollte er ihr jetzt nur erklären, dass irgendein Scheißtyp, der vorbeigekommen war, der Versuchung nicht hatte widerstehen können und einfach hingelangt hatte? Er stellte sich wortwörtlich vor, wie das Gespräch zwischen ihm und seiner Freundin ablaufen würde.

»Na klar! Das war ja vorauszusehen!«

»Wie meinst du das?«

»Weil ich ihn dir geschenkt habe!«

»Was hat denn das damit zu tun?«

»Viel! Die Sachen, die ich dir schenke, sind dir völlig egal! Zum Beispiel das Hemd, das ich dir aus …«

»Das habe ich noch.«

»Kein Wunder, du hast es ja auch nie angezogen! Und dann: Der berühmte Commissario Montalbano lässt sich von einem kleinen Dieb beklauen! Schämen solltest du dich!« In diesem Augenblick sah er den Pullover. Vom Nordwind fortgerissen, wirbelte er über den Sand, er wirbelte weiter und weiter und kam immer näher an die Stelle heran, wo der Sand bei jeder größeren Welle überflutet wird.

Montalbano sprang über das Geländer und rannte los, sodass ihm der Sand in Socken und Schuhe drang; er kam gerade noch rechtzeitig, packte den Pullover und entriss ihn einer wütenden Welle, die es anscheinend auf dieses Kleidungsstück besonders abgesehen hatte.

Halb blind vom Sand, den ihm der Wind in die Augen blies, ging er zurück und musste sich damit abfinden, dass aus dem Pullover eine unförmige, nasse Wollmasse geworden war. Kaum war er im Haus, klingelte das Telefon.

»Ciao, Liebling. Wie geht’s? Ich wollte dir nur sagen, dass ich heute nicht zu Hause bin. Ich gehe mit einer Freundin an den Strand.«

»Musst du nicht ins Büro?«

»Bei uns ist Feiertag, der Tag des Stadtheiligen.«

»Ist das Wetter schön bei euch?«

»Herrlich.«

»Na dann, viel Spaß. Bis heute Abend.«

Das hatte gerade noch gefehlt, der Tag fing ja gut an. Er zitterte vor Kälte, und Livia lag genüsslich in der Sonne! Ein weiterer Beweis dafür, dass die Welt aus den Fugen geraten war. Im Norden verging man jetzt vor Hitze, und im Süden machten sich Frost, Bären und Pinguine breit.

Als er gerade mit angehaltenem Atem erneut den Schrank öffnen wollte, klingelte das Telefon wieder. Er zögerte kurz, dann nahm er beim Gedanken an die Übelkeit, die ihm der Gestank der Mottenkugeln beschert hätte, den Hörer ab. »Pronto?«

»Ah Dottori Dottori!«, keuchte Catarellas Stimme gequält. »Sind Sie das persönlich selber?«

»Nein.«

»Wer ist denn dran?«

»Arturo, der Zwillingsbruder des Commissario.«

Warum benahm er sich dem armen Kerl gegenüber so idiotisch? Wollte er etwa seine schlechte Laune an ihm auslassen?

»Echt?«, fragte Catarella bewundernd. »Entschuldigen Sie, Herr Zwilling Arturo, aber wenn der Dottori irgendwie im Haus ist, sagen Sie ihm dann, dass ich ihn sprechen muss?« Montalbano ließ ein paar Sekunden verstreichen. Vielleicht konnte er die Geschichte, die ihm spontan eingefallen war, bei Gelegenheit noch brauchen. Er schrieb »mein Zwillingsbruder heißt Arturo« auf einen Zettel und meldete sich wieder.

»Ja, was gibt’s?«

»Ah Dottori Dottori! Da geht’s drunter und drüber! Wissen Sie, wo dem Ragionieri Gragano sein Büro war?«

»Meinst du Gargano, diesen Buchhalter?«

»Ja. Warum, was hab ich denn gesagt? Gragano hab ich gesagt.«

»Schon gut, ich weiß, wo das ist. Und?«

»Weil da ist einer rein, der ist bewaffnet. Fazio hat’s zufällig gesehen, weil er zufällig da vorbeigegangen ist. Ich glaub, der will die Sekretärin erschießen. Er sagt, dass er das Geld zurückhaben will, was Gragano ihm geklaut hat, sonst bringt er die Frau um.«

Montalbano warf den Pullover auf den Boden, kickte ihn unter den Tisch, öffnete die Haustür. Bis der Commissario im Auto saß, hatte ihm der Nordwind fast die Besinnung geraubt.

Der Buchhalter Emanuele Gargano, vierzig Jahre alt, groß, elegant, gut aussehend wie der Held in einem amerikanischen Film und stets im richtigen Maß sonnengebräunt, litt an jener Sorte beruflicher Kurzlebigkeit, die man von aufstrebenden Managern kennt, kurzlebig insofern, als sie mit fünfzig schon so verschlissen sind, dass sie abgewickelt gehören, nur um eines ihrer Lieblingswörter zu benutzen. Ragioniere Gargano war, nach eigenen Worten, in Sizilien geboren, hatte aber lange in Mailand gearbeitet, wo er bald und ebenfalls nach eigenen Worten als eine Art Magier der Finanzspekulation galt. Als er dann fand, er habe sich den erforderlichen Ruf erworben, beschloss er, sich in Bologna selbständig zu machen, wo er – wir sind immer noch bei seinen eigenen Worten – Dutzende und Aberdutzende von Anlegern glücklich machte. Vor gut zwei Jahren war er in Vigàta aufgetaucht, um, wie er sagte, »das ökonomische Erwachen dieser unserer geliebten und leidgeprüften Insel« in die Wege zu leiten, und hatte innerhalb weniger Tage in vier Städten der Provinz Montelusa Agenturen eröffnet. Er war gewiss nicht auf den Mund gefallen und auch ausgesprochen begabt, mit seinem vertrauenerweckenden breiten Lächeln jeden zu überzeugen, der ihm über den Weg lief. Eine Woche brachte er damit zu, in einem auf Hochglanz polierten Luxusschlitten, einer Art Köder, von Dorf zu Dorf zu brausen; danach hatte er an die hundert Kunden gewonnen – Durchschnittsalter gute sechzig –, die ihm ihre Ersparnisse anvertrauten. Nach Ablauf von sechs Monaten wurden die Pensionäre einbestellt und erhielten, wobei sie fast der Schlag traf, zwanzig Prozent Rendite. Dann lud der Ragioniere alle Kunden aus der Provinz nach Vigàta zu einem großen Mittagessen, an dessen Ende er durchblicken ließ, dass die Rendite im folgenden Halbjahr vielleicht noch höher sein werde, wenn auch nicht viel. Das sprach sich herum, und die Leute standen Schlange vor den Schaltern der örtlichen Agenturen und flehten Gargano an, er möge ihr Geld an sich nehmen. Der Ragioniere willigte großherzig ein. Bei dieser zweiten Gruppe gesellten sich zu den Alten auch junge Leute, die scharf darauf waren, möglichst schnell Geld zu machen. Am Ende des zweiten Halbjahres kletterte die Rendite der ersten Kunden auf dreiundzwanzig Prozent. Die Geschichte bekam zusehends Rückenwind, doch am Ende des vierten Halbjahres erschien Emanuele Gargano nicht mehr. Die Angestellten der Agenturen und die Kunden warteten zwei Tage und beschlossen dann, in Bologna...

Erscheint lt. Verlag 22.7.2011
Reihe/Serie Commissario Montalbano
Übersetzer Christiane von Bechtolsheim
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Original-Titel L'odore della notte
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Camilleri • cherringham • criminale • Dedektiv • detective • Detektiv • Deutsche Krimis • Ermittler • Ermittlerin • Ermittlerteam • Ermittlung • Ermittlungen • Europa • Im Wald • Italien • Klassischer Polizeikrimi • Komissar • Kommisar • Kommissar • Kommissarin • Krimi • Krimi Bestseller • Kriminalkommissar • Kriminalpolizei • Kriminalroman • Kriminalromane • Krimis • Krimis; Italien; Sizilien; Serienkrimi (Serienermittler) • Krimis und Thriller • Madrid • Mord • Morde • Mörder • Polizei • Polizeiarbeit • Polizei / Geheimdienste • Polizeikrimi • Polizist • Polizistin • Privatdetektiv • Provinz-Krimi • Psychothriller • Regiokrimi • Regionalkrimi • Regional-Krimi • Schimanski • Schlitzer • Serienkrimi (Serienermittler) • Serienmörder • Sizilien • Spanien • Spannung • Spannungsroman • Tatort • Thriller • Verbrechen • Verschwörung • verschwunden • weibliche Ermittler
ISBN-10 3-8387-1256-0 / 3838712560
ISBN-13 978-3-8387-1256-7 / 9783838712567
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