Stinas Entscheidung (eBook)
320 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-401381-7 (ISBN)
Marianne Fredriksson wurde 1927 in Göteborg geboren. Als Journalistin arbeitete sie lange für bekannte schwedische Zeitungen und Zeitschriften. Im Jahre 1980 veröffentlichte sie ihr erstes Buch. Sämtliche Romane der Autorin wurden in Deutschland große Bestsellererfolge. Die Autorin starb am 12. Februar 2007.
Marianne Fredriksson wurde 1927 in Göteborg geboren. Als Journalistin arbeitete sie lange für bekannte schwedische Zeitungen und Zeitschriften. Im Jahre 1980 veröffentlichte sie ihr erstes Buch. Sämtliche Romane der Autorin wurden in Deutschland große Bestsellererfolge. Die Autorin starb am 12. Februar 2007. Dr. Gabriele Haefs, geboren 1953, studierte Sprachwissenschaft in Bonn und Hamburg. Sie übersetzt aus dem Norwegischen, Dänischen, Schwedischen, Englischen, Niederländischen und Gälischen, u.a. Werke von Jostein Gaarder, Håkan Nesser und Anne Holt.
9.
Sie war müde, sie war im achten Monat schwanger, aber trotzdem pflichtbewusst wie immer. Per war in Malmö. Und Stina hielt ihr letztes Seminar an der Universität ab. Aber sie musste sich am Tisch festhalten, um gerade stehen zu können.
Vor sich sah sie junge Gesichter, erwartungsvoll und interessiert, wenn sie auch vielleicht der Meinung waren, Stina gehöre nach Hause ins Bett. Bei dem Bauch.
Unter diesen jungen und erwartungsvollen Blicken waren auch die einer Frau von Mitte vierzig, deren Gesicht viel Mitgefühl und Erfahrung ausstrahlte. Nach dem Seminar ging Stina zu ihr und sagte: »Wenn du Zeit und Lust hast, um Fragen zu stellen, kann ich dich in der Mensa zum Kaffee einladen.«
Die Frau nickte und sagte: »Schön, aber lass uns in ein kleines Café im Bergianska-Park fahren. Mein Wagen steht gleich draußen.«
Dort angekommen, setzten sie sich mit ihrem Kaffee in eine ruhige Ecke.
»Ich heiße Gunilla Skog, ich habe deine Dissertation mit großem Interesse gelesen. Aber als ich dich eben da vorn im Seminarraum gesehen habe, ist mir aufgegangen, dass du wahrscheinlich ziemlich einsam bist und große Probleme hast.«
Stina nickte und versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten.
»Du hast Narben im Gesicht. Hattest du einen Verkehrsunfall?«
»Nein, das war kein Verkehrsunfall. Das sind die sichtbaren Folgen von vielen Schlägen«, sagte Stina. Dann erzählte sie stockend ihre Geschichte. Es war schwer, zum ersten Mal wagte sie, davon zu erzählen.
»Er hat mich aus dem Schlafzimmer geworfen, weil ich ihn anekele. Also schlafe ich jetzt in meinem Arbeitszimmer, und das ist gut so. An einem Samstagmorgen stand ich am Fenster und schaute hinaus auf den großen Park. Und da kam er angestürzt und schlug mir mit geballter Faust ins Gesicht.
Das wiederholte sich, und ich musste im Krankenhaus mehrmals genäht werden. Meine Nase war gebrochen. Aber das Schlimmste war, als er mir den Stirnknochen über der Augenhöhle zerschlagen hat. Nicht einmal meine Eltern wissen davon. Die Einzige, die etwas ahnt, ist die Ärztin im Krankenhaus Danderyd.«
Gunillas blaue Augen wurden schwarz und sie suchte nach Worten. Nach einer Weile sagte sie:
»Da es außer mir niemand weiß, musst du verstehen, dass ich hier jetzt eingreifen werde. So kann das doch nicht weiter gehen. Ich bringe dich nach Hause. Dein Mann ist in Malmö, hast du gesagt? Ich möchte auch mit deinen Eltern sprechen. Wie kann ich sie erreichen?«
Stina flüsterte fast: »Du kannst meinen Vater anrufen, er ist Polizeichef in Göteborg. Er heißt Erik Rask. Oder ruf ihn zu Hause an.«
Im Auto umarmten sie einander. Stina weinte immer weiter. Sie fuhren nach Bergshamra. Stina schrieb die Nummern ihres Vaters auf.
»Als Erstes besorgen wir ein Schloss für deine Zimmertür«, sagte Gunilla. Sie fuhren in die Innenstadt und machten für den folgenden Tag einen Termin mit einem Schlosser aus. Dann kauften sie ein Mobiltelefon mit Kartenguthaben für Stina. Gunilla speicherte dort gleich ihre Telefonnummer.
»Ich ruf dich morgen früh an, mein Mann ist Anwalt, ich werde mit ihm sprechen«, sagte Gunilla und verließ Stina, die todmüde war und schlafen musste.
Zu Hause rief Gunilla als Erstes bei der Polizei in Göteborg an und fragte nach Kommissar Erik Rask. Er sei in einer Besprechung, wurde ihr mitgeteilt, doch Gunilla ließ sich nicht abwimmeln, sagte, ihr Anliegen sei wichtig und privat. Erik Rask ließ ausrichten, dass er um fünf Uhr zu Hause sein werde.
Auf der Heimfahrt fühlte er sich gar nicht wohl in seiner Haut, obwohl seine Sekretärin gesagt hatte, dass es sich wohl nur um ein wichtigtuerisches Frauenzimmer handele. Ehe er ging, fragte er noch, wie die Frau sich angehört habe.
»Ruhige Stimme, höflich und kultiviert. Möglicherweise mit einem leichten Stockholmer Akzent«, sagte die Sekretärin.
Seine Unruhe wuchs, je mehr er sich seinem Haus näherte.
Kurz vor fünf saßen Erik und Sirkka mit ihren Telefonen am Küchentisch. Als Gunilla anrief und von ihrer Begegnung mit Stina erzählte, schrie Erik: »Das habe ich doch schon lange vermutet!«
Schon am nächsten Morgen setzte sich Sirkka ins Flugzeug nach Arlanda. Gunilla hatte versprochen, sie dort abzuholen.
Die beiden Frauen erkannten einander auf den ersten Blick, sie hatten sich die richtigen Bilder voneinander gemacht, die temperamentvolle Finnin und die elegante damenhafte Schwedin.
»Ich habe mit Stina telefoniert. Per hat gesagt, dass er kurz nach Kopenhagen musste und erst morgen wieder zu Hause sein wird. Also haben wir eine Atempause.«
Dann fügte Gunilla hinzu: »Ich habe auch mit meinem Mann gesprochen, er ist Anwalt und meint, dass wir sie zu uns nach Hause holen müssen. Sie darf keine Minute mehr allein mit diesem Mann sein. Mein Mann kennt sich aus mit diesen Fällen von schwerwiegender Frauenmisshandlung.«
»Habt ihr denn Platz genug?«
»Aber sicher, eine große Villa in einem der nördlichen Vororte. Ich habe schon die Betten in einem geräumigen Gästezimmer oben im Haus bezogen. Es gibt ein Badezimmer und eine Nische mit Spülbecken, Herd, Kühlschrank und Kaffeemaschine.«
»Warum engagierst du dich so stark?«
»Ich habe mich viel mit Frauenfragen beschäftigt. Aber vor allem liegt es wohl daran, dass ihre Doktorarbeit mir so gut gefallen hat. Und sie selbst. Ich erzähle dir mehr darüber, wenn wir die Zeit dazu finden.«
Gunilla fuhr schnell und geschickt, sie bog von der E 4 ab und hatte das Haus in Bergshamra bald erreicht.
Stina war weiß und zitterte, als sie ihrer Mutter um den Hals fiel. Beide weinten. Aber Sirkka konnte sich mit Hilfe ausgiebiger finnischer Verwünschungen aus ihrer Verzweiflung retten.
Und dann sagte sie: »Du musst hier weg. Wir werden bei Gunilla wohnen, weit weg, da kann uns niemand finden.«
»Aber warum ist sie so gut zu uns?«
»Ich glaube, sie ist ein Engel. Und mit einem Anwalt verheiratet, der dir bei der Scheidung helfen wird. Aber jetzt haben wir keine Zeit zum Reden, wir müssen packen, alles für das Kind, deine Kleider und Toilettensachen, deine Manuskripte und Bücher.«
»Darf ich den Computer mitnehmen?«
»Ja, natürlich.«
Sie fuhren nach Norden, vorbei an schönen Villen in großen Gärten. Am Ende glitt Gunilla durch das offene Tor vor einer großen weißen Villa mit einer riesigen Glasveranda. Auf der Treppe stand ein hochgewachsener Mann, nahm Stina in die Arme und geleitete sie ins Haus.
Es duftete aus der Küche und plötzlich merkten alle, dass sie Hunger hatten. Der Tisch war großzügig gedeckt, in der Mitte stand eine Schüssel mit Bauernfrühstück.
Als der Magen zufrieden war, breitete sich in Stina Ruhe aus, zum ersten Mal ließ der Krampf in ihrem Zwerchfell nach und sie wäre fast eingeschlafen. Gunilla führte beide Frauen die Treppe hoch ins Obergeschoss und dann in ein großes Schlafzimmer, wo ein breites Bett bereitstand.
»Mama, bist du da?«, flüsterte sie. Und Sirkka begriff, schlüpfte neben sie und legte den Arm um Stinas Schultern. Stina war eingeschlafen, noch ehe ihr Kopf das Kissen berührt hatte.
Nach drei Stunden wurden sie von Gunilla geweckt, die Kaffee brachte und ihnen Toilette und Dusche zeigte.
»Macht euch fertig«, sagte sie. »In einer Stunde müssen wir zum Arzt.«
Als sie die verdutzten Gesichter ihrer Gäste sah, fügte sie hinzu: »Roger hat einen Freund, der Gynäkologe ist und hier in der Nähe seine Privatklinik leitet. Er wird dich untersuchen und feststellen, ob alles in Ordnung ist.«
»Gut«, sagte Sirkka. »Dann musst du duschen und dich umziehen.«
Stina gehorchte wie ein Kind.
Frisch und neugekleidet kam sie die Treppe herunter. Unten wartete schon Roger.
»Ich fahr dich in die Klinik«, sagte er. Unterwegs erzählte er, dass er lange mit Stinas Vater telefoniert hatte.
»War er böse?«
»Nein, verzweifelt.«
»Ich schäme mich so schrecklich.«
Der Arzt war um die fünfzig, er war freundlich und fürsorglich. Er hörte sich ihre Herztöne an, maß die Herzschläge des Kindes und meinte, alles sehe gut aus.
»In einigen Wochen kommen dann die ersten Wehen, und alles wird gut gehen. Die Kleine benimmt sich so, wie es sich gehört.«
»Sie bewegt sich nicht so wie sonst«, sagte Stina.
»Es wird langsam eng für sie«, sagte der Arzt und lachte.
Dann wurde ihr noch Blut abgenommen und das Herz untersucht.
Am Ende bot der Arzt an, ihnen eine Kollegin vorzustellen, die sich auf Schönheitsoperationen spezialisiert hatte.
Nach der Entbindung könnte Stina dann ihr altes Gesicht zurückbekommen.
Ihr Herz machte vor Freude einen Sprung.
Er rief die Kollegin an, und die versprach, Stina bei Gunilla und Roger zu besuchen.
»Wirklich?«
»Ja, ich habe selbst gesehen, welch wahre Wunder sie bewirken kann.«
Trotz ihres unbeholfenen Körpers tanzte Stina ins Wartezimmer, wo Roger in die Zeitung vertieft saß.
Als sie nach Hause kam, fiel sie ihrer Mutter um den Hals und rief, dass sie ihr Gesicht zurückerhalten würde.
»Ich dachte, dieser Arzt sei für dein Untergestell zuständig«, sagte Sirkka in ihrem singenden Finnlandschwedisch.
»Ich glaube, ich weiß Bescheid, er hat bei Birgitta Johansson angerufen«, sagte Gunilla und lachte. »Sie ist ungeheuer tüchtig, aber vor der Entbindung geht das alles natürlich nicht mehr. Kein Morphium, so lange das Baby noch nicht auf der Welt ist.«
»Birgitta kommt morgen her«, sagte Roger.
»Ich kenne sie, ich rufe sie an und erzähle ihr deine Geschichte«, sagte...
Erscheint lt. Verlag | 14.6.2011 |
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Übersetzer | Gabriele Haefs |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Angst • Familie • Glück • Liebe • Missbrauch • Valentinstag |
ISBN-10 | 3-10-401381-0 / 3104013810 |
ISBN-13 | 978-3-10-401381-7 / 9783104013817 |
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