Sturm und Drang (eBook)
688 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-400878-3 (ISBN)
1. Das Genie
Johann Kaspar Lavater
Physiognomische Fragmente
GENIE
Was ist Genie? Wer’s nicht ist, kann nicht; und wer’s ist, wird nicht antworten[1]. – Vielleicht kann’s und darf’s einigermaßen, wer dann und wann gleichsam in der Mitte schwebt, und dem’s wenigstens bisweilen gegeben ist, in die Höhe über sich, und in die Tiefe unter sich – hinzublicken.
Was ist Genie? was ist’s nicht? Ist’s bloß Gabe ausnehmender Deutlichkeit in seinen Vorstellungen und Begriffen? Ist’s bloß anschauende Erkenntnis? Ist’s bloß richtig sehen und urteilen? viel wirken? ordnen? geben? verbreiten? Ist’s bloß – ungewöhnliche Leichtigkeit zu lernen? zu sehen? zu vergleichen? Ist’s bloß Talent? –
Genie ist Genius.
Wer bemerkt, wahrnimmt, schaut, empfindet, denkt, spricht, handelt, bildet, dichtet, singt, schafft, vergleicht, sondert, vereinigt, folgert, ahndet, gibt, nimmt – als wenn’s ihm ein Genius, ein unsichtbares Wesen höherer Art diktiert oder angegeben hätte, der hat Genie; als wenn er selbst ein Wesen höherer Art wäre – ist Genie.
Einen reichen oder weisen Freund haben, der uns in jeder Verlegenheit rät, in jeder Not hilft – und selbstreich sein, und andern in jeder Not helfen; selbstweise, andern in jeder Verlegenheit raten zu können – siehe da den Unterschied zwischen Genie sein, und Genie haben.
Wo Wirkung, Kraft, Tat, Gedanke, Empfindung ist, die von Menschen nicht gelernt und nicht gelehrt werden kann – da ist Genie. Genie – das allererkennbarste und unbeschreiblichste Ding! fühlbar, wo es ist, und unaussprechlich wie die Liebe.
Der Charakter des Genies und aller Werke und Wirkungen des Genies – ist meines Erachtens – Apparition … Wie Engelserscheinung nicht kömmt – sondern dasteht; nicht weggeht, sondern weg ist; wie Engelserscheinung ins innerste Mark trifft – unsterblich ins Unsterbliche der Menschheit wirkt – und verschwindet, und fortwirkt nach dem Verschwinden – und süße Schauer, und Schreckentränen, und Freudenblässe zurückläßt – So Werk und Wirkung des Genies. –
Genie – propior Deus …
Oder – nenn es, beschreib es, wie du willst – Nenn’s Fruchtbarkeit des Geistes! Unerschöpflichkeit! Quellgeist! Nenn’s Kraft ohne ihresgleichen – Urkraft, kraftvolle Liebe; nenn’s Elastizität der Seele, oder der Sinne und des Nervensystems – die leicht Eindrücke annimmt, und mit einem schnell ingerierten Zusatze lebendiger Individualität zurückschnellt – Nenn’s unentlehnte, natürliche, innerliche Energie der Seele; nenn’s Schöpfungskraft; nenn’s Menge in- und extensiver Seelenkräfte – Sammlung, Konzentrierung aller Naturkräfte; nenn’s lebendige Darstellungskunst; nenn’s Meisterschaft über sich selbst; nenn’s Herrschaft über die Gemüter; nenn’s Wirksamkeit, die immer trifft, nie fehlt in alle ihrem Wirken, Leiden, Lassen, Schweigen, Sprechen; nenn’s Innigkeit, Herzlichkeit, mit Kraft sie fühlbar zu machen. Nenn’s Zentralgeist, Zentralfeuer, dem nichts widersteht; nenn’s lebendigen und lebendig machenden Geist, der sein Leben fühlt, und leicht und vollkräftig mitteilt; sich in alles hineinwirft mit Lebensfülle, mit Blitzeskraft – Nenn’s Übermacht über alles, wo es hintritt; nenn’s Ahndung des Unsichtbaren im Sichtbaren, des Zukünftigen im Gegenwärtigen. Nenn’s tiefes erregtes Bedürfnis mit Ahndung innerer Kraft, die das Bedürfnis stillt und sättigt – Nenn’s ungewöhnliche Wirksamkeit durch ungewöhnliches Bedürfnis erregt und unterhalten! Nenn’s ungewöhnliche Schnelligkeit des Geistes, entfernte Verhältnisse mit glücklicher Überspringung der Mittelverhältnisse zusammenzufassen – oder Ähnlichkeiten, die sich nicht herausforschen lassen, im eilenden Vorbeiflug zu ergreifen – Nenn’s »Vernunft im schnellsten Flammenstrome der Empfindung und Tätigkeit«. – Nenn’s Glaube, Liebe, Hoffnung, die sich nicht geben, nicht nachäffen läßt; oder nenn’s schlechtweg nur Erfindungsgabe – oder Instinkt: Nenn’s und beschreib’s, wie du willst und kannst – allemal bleibt das gewiß – das Ungelernte, Unentlehnte, Unlernbare, Unentlehnbare, innig Eigentümliche, Unnachahmliche, Göttliche – ist Genie – das Inspirationsmäßige ist Genie – hieß bei allen Nationen, zu allen Zeiten Genie – und wird’s heißen, solange Menschen denken und empfinden und reden. Genie blitzt; Genie schafft; veranstaltet nicht; schafft! So wie es selbst nicht veranstaltet werden kann, sondern ist! Genie vereinigt, was niemand vereinigen; trennt, was niemand trennen kann; sieht, und hört und fühlt, und gibt und nimmt – auf eine Weise, deren Unnachahmlichkeit jeder andere sogleich innerlich anerkennen muß – Unnachahmlich und über allen Schein von Nachahmlichkeit erhaben ist das Werk des reinen Genius. Unsterblich ist alles Werk des Genies, wie der Funke Gottes, aus dem es fließt. Über kurz oder lang wird’s erkannt – wird seine Unsterblichkeit gesichert. Über kurz oder lang alles herabgewürdigt, was schwachen Köpfen Genie schien und nicht war; nur Talent; nur gelernt, nur nachgeahmt, nur Faktize war, nicht Geist war aus Geist; nicht quoll aus unlernbarem Drange der Seele; nicht war Kind der Liebe! Abdruck des innern Menschen! Ausgeburt und Ebenbild der verborgensten Kraft! Lauf alle Reihen der Menschen durch, die ganze Nationen und Jahrhunderte mit einer Stimme Genie nannten – oder deren Werke und Wirkungen unsterblich sind und fortleben von Geschlecht zu Geschlecht, und nie zu verkennen, nie auszulöschen sind – wenn noch so viele, noch so stürmende Stürme über sie brausen – Nenn unter allen einen – der nicht gerade um deswillen Genie hieß – und war – weil er Ungelerntes und Unlernbares empfand, sprach, dichtete, gab, schuf! Unnachahmlichkeit ist der Charakter des Genies und seiner Wirkungen, wie aller Werke und Wirkungen Gottes! Unnachahmlichkeit; Momentaneität; Offenbarung; Erscheinung; Gegebenheit, wenn ich so sagen darf! was wohl geahndet, aber nicht gewollt, nicht begehrt werden kann – oder was man hat im Augenblicke des Wollens und Begehrens – ohne zu wissen wie – was gegeben wird – nicht von Menschen; sondern von Gott, oder vom Satan!
Millionen Gegenstände der Natur sind, die uns affizieren, unsere Kräfte regen, unsere Liebe anziehen, unserm Glauben Kraft, unserer Hoffnung Flügel geben – Millionen Gegenstände, an denen sich die menschliche Schöpfungskraft üben, in die sich der menschliche Geist hineinwurzeln kann – und so gibt’s auch unzählige Arten von Genieen. Jeder Gegenstand der sichtbaren oder unsichtbaren Welt ist ein Element, worin ein Genie als in seiner Welt, seinem Reiche, weben und schweben, walten und herrschen kann – Eine Welt voll Erscheinungen für das Genie, dem die äußern und innern Sinne zu seiner unmittelbaren Erkennung und Berührung geöffnet sind. Von was Art aber immer ein Genie sein möge; aller Genieen Wesen und Natur ist – Übernatur – Überkunst, Übergelehrsamkeit, Übertalent – Selbstleben! – Sein Weg ist immer Weg des Blitzes, oder des Sturmwindes, oder des Adlers – Man staunt seinem wehenden Schweben nach! hört sein Brausen! sieht seine Herrlichkeit – aber wohin und woher weiß man nicht? und seine Fußstapfen findet man nicht.
Genie! – Tausendmal, und wann mehr als in unserer Aftergeniezeit weggeworfenes Wort – aber der Name bleibt nicht – jeder Hauch des Windes weht ihn weg – jedes kleine Talentmännchen nennt ein noch kleineres Genie – damit dasselbe hinwiederum zu kleinern herabrufe – seht an die Höhe hinan!
Der Cherub eilt mit vollen Flügeln
Und überfliegt dich – Libanon!
Aber Flieger, Rufer und Stauner – die sich einander wechselsweise hinauf- und herabräucherten, und – ver- genierten – die Sonne geht auf – und wenn sie untergegangen ist – wo seid ihr? – Genieen – Lichter der Welt! Salz der Erde! Substantive in der Grammatik der Menschheit! »Ebenbilder der Gottheit – an Ordnung, Schönheit und unsichtbaren Schöpferskräften! Schätze eures Zeitalters! Sterne im Dunkeln, die durch ihr Wesen erleuchten und scheinen, soviel es die Finsternis aufnimmt!« – Menschengötter! Schöpfer! Zerstörer! Offenbarer der Geheimnisse Gottes und der Menschen! Dolmetscher der...
Erscheint lt. Verlag | 12.5.2011 |
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Reihe/Serie | Fischer Klassik Plus |
Fischer Klassik Plus | |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Anthologien |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 18. Jahrhundert • achtzehntes • Anthologie • Clavigo • Deutschland • Epoche • Freundschaftskult • Friedrich Schiller • Genie • Geschichte • Griechenland • Jakob Michael Reinhold Lenz • Johann Gottfried Herder • Johann Wolfgang Goethe • Kindsmord • Moral • Werther |
ISBN-10 | 3-10-400878-7 / 3104008787 |
ISBN-13 | 978-3-10-400878-3 / 9783104008783 |
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