Ein langer Brief an September Nowak (eBook)
208 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-10631-4 (ISBN)
Markus Berges, geboren 1966 in Telgte, studierte Germanistik und Geschichte. Als Sänger und Songschreiber der Band «Erdmöbel» wurde er als «großer zeitgenössischer Lyriker» (taz) und Erzähler «wie traumverloren dahingeraunter Geschichten» (Die Zeit) bezeichnet. «Erdmöbel» veröffentlichten bislang vierzehn Alben, zuletzt «guten morgen, ragazzi». Markus Berges erster Roman, «Ein langer Brief an September Nowak», erschien 2010, sein zweiter, «Die Köchin von Bob Dylan», 2016. Markus Berges lebt mit seiner Familie in Köln.
Markus Berges, geboren 1966 in Telgte, studierte Germanistik und Geschichte. Als Sänger und Songschreiber der Band «Erdmöbel» wurde er als «großer zeitgenössischer Lyriker» (taz) und Erzähler «wie traumverloren dahingeraunter Geschichten» (Die Zeit) bezeichnet. «Erdmöbel» veröffentlichten bislang vierzehn Alben, zuletzt «guten morgen, ragazzi». Markus Berges erster Roman, «Ein langer Brief an September Nowak», erschien 2010, sein zweiter, «Die Köchin von Bob Dylan», 2016. Markus Berges lebt mit seiner Familie in Köln. Dieter E. Zimmer, geb. 1934, war freier Autor und Übersetzer. Von 1959–1999 war er Redakteur bei DIE ZEIT, davon 1973–1977 Leiter des Feuilletons, danach als Wissenschaftsjournalist mit den Schwerpunkten Psychologie, Biologie, Medizin und Linguistik. Neben zahlreichen weiteren Auszeichnungen erhielt er den Preis für Wissenschaftspublizistik der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Bei Rowohlt war er u. a. als Herausgeber und Übersetzer für die Nabokov-Gesamtausgabe verantwortlich. Dieter E. Zimmer starb 2020 in Berlin.
I
Es war die längste Zugfahrt ihres Lebens. In Urlaub waren sie immer mit dem Auto gefahren, mehrmals nach Tirol, zweimal an die jugoslawische, einmal an die italienische Adria. Nun war ihr Vater nicht mit zum Bahnhof gekommen. Er war gegen ihre Reise und hatte, als sie daran erinnerte, dass sie nicht nur volljährig, sondern schon ein Jahr drüber sei, gedroht, sie könne nach ihrer Rückkehr direkt wieder Koffer packen und ausziehen.
«Vergiss nie, woher du kommst!», sagte er im Streit.
«Woher ist das?», fragte sie zurück.
Laut hatte er immer wieder ihren Namen eingebaut in sein Pochen auf all das, was für sie keine Antwort war. Elisabeth. Nur ihre Eltern nannten sie noch so. Auf dem Weg zum Tischtennis hatte er zwar nicht die Tür geknallt, aber seine Jacke so von der Garderobe gerissen, dass Betti ihre Mutter sie am nächsten Abend vor dem Fernseher flicken sah. Sie hatten nicht mehr darüber gesprochen. Seine Drohung war absurd, denn wenige Wochen nach der Reise würde sie ihre Ausbildung zur Krankenschwester beginnen und in ein Wohnheim nach Unna ziehen. Am Morgen der Abreise verließ ihr Vater die Wohnung nach dem gemeinsamen Frühstück wie immer mit einem kurzen «Cześć», seinem einzigen täglichen polnischen Wort von vielleicht fünf, sechs, die er gelegentlich, selten eigentlich, einflocht. Er hatte sich nur den Hauch eines Akzents bewahrt.
Die Mutter begleitete Betti. Die knapp zwanzig Minuten zum Bahnhof gingen sie zu Fuß, sie mit dem großen Rucksack, ihre Mutter mit dem zweiten, kleineren auf dem Rücken, den Betti während der Reise vorne tragen wollte. Für den Rückweg hatte ihre Mutter ihre kunstlederne Einkaufstasche dabei. Blind für die Heimat, Pfarrheim, Aldi, Wunderpferddenkmal und den verklinkerten Bahnhof, der später abbrannte, unterhielten sie sich auf dem ganzen Weg über Bettis Reise, aber so, als hätten sie sich gerade erst kennengelernt. Eine Kegelschwester, sagte ihre Mutter, habe in Monaco mal fünf Mark für eine Tasse Kaffee bezahlt, kein Kännchen – Blumenriviera. Krk, in dem Jahr lagen die Ferien früh, habe ihr auch sehr gefallen. Als wären nicht immer beide dabei gewesen, besprach erst die Mutter ihre touristischen Vorlieben, dann Betti. Sie waren zu früh und mussten lange warten an einem der zwei Warendorfer Gleise. Fast hätten sie sich Berge und Buchten empfohlen.
Als der Regionalzug einfuhr, gaben sie sich die Hand. Dann zog die Mutter Betti an sich. Ich weiß nicht, ob Betti irgendetwas sagte in ihren Armen. Von ihrer Mutter, der Redseligen, kam nichts. Als der Zug anfuhr, zog sie ein knallgelbes Einstecktuch aus der linken Brusttasche ihres Blazers, das Betti nie zuvor aufgefallen war. Damit winkte sie. Dann drehte sie sich um und ging.
Betti musste mehrmals umsteigen. Ab Belgien wuchs ihre Aufregung. Sie war vorbereitet und vermied ihr schlechtes Französisch. In Paris musste sie die Bahnhöfe wechseln. Sie fand sich gleich am richtigen Ausgang wieder. Viel schneller als zu Hause auf dem Teppich kniend über dem in der Bibliothek kopierten Stadtplan, stand sie dann an der giftgrün markierten Stelle: Place de la République. Hier hob sie zum ersten Mal den Blick in Richtung Himmel und ließ ihn an den Häusern wieder hinabgleiten, danach über dem Gewimmel den Sockel aufwärts zu einer riesenhaften Bronze. Eine gigantische Pariserin, die ihrer Stadt mit sanfter Geste etwas Kleines, einen Zweig vielleicht, entgegenhielt.
An ihr war sie womöglich schon einmal vorbeigekommen. Bettis Erinnerungen an Paris beschränkten sich im Wesentlichen auf einige dumpf leuchtende Minuten Busfahrt bei Nacht im Regen. Vor zwei Jahren in der Elf war sie noch am Vormittag ihres Klassen-Tagesausflugs in einem Kaufhaus namens Samaritaine gegen eine Glastür gerannt und hatte, hieß es, in einer Blutlache gelegen. Erst im Krankenhaus war sie wieder zu sich gekommen. Die Wunde wurde genäht, und als der Lehrer ihre Eltern anrief, baten sie ihn inständig, Betti gegen französischen ärztlichen Rat mit nach Hause zu nehmen. Auf dem Weg zurück saß sie allein auf der freigeräumten Rückbank, damit sie sich jederzeit hinlegen konnte. Sie sah aus dem Fenster die Boulevards glänzen und spürte ihren Puls unter dem Verband. Da ist noch heute ein weißer Strich, wenn sie ihr Haar zurücknimmt. Es ging ihr gut am nächsten Tag.
Jetzt, zwei Jahre später, setzte sie sich am Place de la République in die dritte Tischreihe eines Cafés auf einem Bürgersteig, bestellte schmerzhaft knuspriges Baguette, beobachtete den Kaffeeschaum, Passanten, vier Spuren Verkehr und hatte genügend Zeit, das Buch auszupacken, das ihr September zum Geburtstag geschenkt hatte. Für diesen Moment hatte sie es aufgehoben.
In neonbuntem Schneekristallpapier steckte eine antiquarische Ausgabe: «Meister Floh. Ein Märchen in sieben Abentheuern zweier Freunde» von E.T.A. Hoffmann. Ohne diesen Autor zu kennen, hatte sie September letztes Jahr selbst ein E.T.A.-Hoffmann-Lesebuch geschickt, weil auf dem Umschlag gestanden hatte, es enthalte die Vorlage für das berühmte Nussknacker-Ballett von Tschaikowsky. Das Geschenk hätte ihr sehr gefallen, schrieb September. «Es war einmal –», fing Betti an zu lesen, «welcher Autor darf es jetzt wohl noch wagen, sein Geschichtlein also zu beginnen.»
Plötzlich lag etwas Eingeschweißtes auf dem Tisch, dazu ein handgeschriebener Zettel. Noch während sie ihn zu entziffern versuchte, streckte ihr ein Mädchen die offene Hand hin. Es sagte nichts. Die dunklen Augen und das ganze Gesicht starr, dazu ein schwarzer Zopf, schaukelte es seinen Oberkörper vor und zurück. Betti schien nicht zu begreifen. Das Mädchen raschelte mit dem Eingeschweißten. Betti wurde rot und fischte einen Franc-Schein aus dem Portemonnaie. Stumm tauschte es das Geld, viel zu viel, mit nur einer Hand gegen das Ding in Folie und wandte sich ab. Im Gefühl, schon die erste Prüfung nicht bestanden zu haben, riss Betti die Verpackung auf. Es war ein Schlüsselanhänger, ein gelber Delfin. Am Bauch ein rosa Knopf. Sie drückte ihn, es kam ein leises Keckern. Das ertönte dann auch an Nachbartischen, und als Betti ging, meinte sie, ihr würden zum Abschied noch ein paar hämische elektrische Grüße hinterhergeschickt.
Der Gare de Lyon sah von weitem weiß und irgendwie nördlich aus. Dabei kam man von diesem Kopfbahnhof nur in die andere Richtung. In der Halle hatten sie an alle Gleisenden zumindest Palmen in Kübeln gestellt.
Von hier war die Zugfahrt wie ein ins Endlose gezogener Wachtraum, der, kam Betti mal zu vollem Bewusstsein, zum Beispiel aufgeschreckt durch das Geklingel eines Kaffeeboys, immer nur Sekunden gedauert hatte. Sie las die Rückseite seines T-Shirts: Café, Infusion, Minute Maid …, las ihr Geschenk, trat wieder weg. Der Himmel wurde immer weißer, südwärts rauschte kühl der TGV, im Buch fiel Schnee, und «Knaben standen von ferne und verschlangen schweigend mit den Augen jede Gabe, wie sie aus der Hülle hervorkam, und konnten sich oft eines lauten Ausrufs der Freude und der Verwundrung nicht erwehren!». In diese deutsche Weihnacht sagte ein junger Mann namens George: «Vernehmt, daß ich selbst die Distel Zeherit bin.» Und Betti begriff: Alle, alle Menschen sind kämpfende Blumen. Und, ach, Dörtje Elverdink ist Prinzessin Gamaheh. So reiste sie, zwischen Dämmern, Lesen und Starren, bis sich endlich ihr eigenes Abentheuer wie ein stummer Zugestiegener neben sie setzte. Ab Lyon war der Wagen unklimatisiert, hinter Marseille fand sie keine Ruhe mehr.
Die Zugtoilette war ekelhaft. Doch eine halbe Stunde vor Ankunft ließ sie sich nicht mehr vermeiden. Sie war besetzt. Dann hielt Bettis Vorgänger ihr ungelenk die Tür auf, eine Höflichkeit, für die es zu eng war. Sie riss Jeans und Slip runter und schiss sich, die Ellenbogen auf den Knien, mit zehn Zentimetern Abstand die Angst aus dem Leib. Nacheinander fand sie erst den Fußschalter für die Spülung nicht, dann die Lichtschranke im Wasserhahn und die Papierhandtücher. Das Fach war leer. Betti musste fast lächeln. Nur für einen Moment war da Mut oder Lust, als sie wieder auf den Gang hinaustrat, aber von den Bauchschmerzen, die ihr die Aussicht auf Versagen immer gemacht hatte, schon nicht mehr zu unterscheiden, als sie wieder auf ihrem Platz am Fenster saß, mit Blick auf in Armeslänge Vorbeischießendes, Wälle, kurze Tunnel. Die Sonne ging unter. Kurz vor Nizza war es dunkel.
Als Betti, vorne und hinten bepackt, auf den hellerleuchteten Bahnsteig trat, erwartete sie, augenblicklich aus der Menge heraus angesprochen zu werden. Und das, obwohl eine völlig unkenntliche Selbstlomografie Bettis ironischer Schlusskommentar zum ewigen Bilderverbot ihrer Brieffreundin gewesen war. Auf diesem Erkennungsfoto im allerletzten Brief an September war von Bettis mit Kajal gemaltem Schnäuzer unter der Nase nur ein verwischter Strich in einer hellen Wolke geblieben.
Der Ankunftstumult legte sich. Nizza war Endstation. Sie stellte ihre Rucksäcke ab und schnallte sie wieder auf, wollte den Bahnsteig runterlaufen, in der Vorhalle Ausschau halten. Aber sie hatte Angst, den Treffpunkt zu verlassen. Dann fand sie eine Bank. Nach einer Stunde Warten oder länger versuchte sie verzweifelt zu lesen, nicht darauf vorbereitet, schon hier statt erst im dreißigsten Stock des Château Périgord zu scheitern. Sie nickte weg. In monegassische Verhältnisse, Stiefpenthäuser. Hatte sie sich nicht seit Jahren als eine Nowak vorgestellt? Auf Booten namens Betti. Nein, nicht wahr! Namens Kismet! Denn Boote gehen unter, sagt Papa. Aber doch mit einer schönen, seltsamen Schwester namens September.
«Betti?»
Im Halbschlaf hatte sie die Gestalten vom Ende...
Erscheint lt. Verlag | 17.9.2010 |
---|---|
Illustrationen | Andreas Gursky |
Übersetzer | Dieter E. Zimmer |
Zusatzinfo | Mit 8 s/w Abb. |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Brieffreundin • Côte d'Azur • Erdmöbel • Monaco • Road Trip • Südfrankreich • Täuschung |
ISBN-10 | 3-644-10631-2 / 3644106312 |
ISBN-13 | 978-3-644-10631-4 / 9783644106314 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |

Größe: 3,4 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich