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Purgatorio (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2010 | 1. Auflage
304 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-400948-3 (ISBN)
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9,99 inkl. MwSt
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Kann man einen Menschen herbeilieben? Eine Frau glaubt nicht, dass die Todesschwadron ihren Mann getötet hat. Sie ist fest überzeugt, dass er lebt, und folgt Spuren und Hinweisen von Buenos Aires nach Rio, von Nicaragua nach Mexiko, bis er schließlich in New Jersey auftaucht. Ist es ein Traum, oder hat die Sehnsucht ihn wirklich herbeigeliebt? ?Purgatorio? ist ein Bestseller aus Argentinien. Sinnlich und abgründig erzählt er die Odyssee einer Liebe zwischen Terror und Exil. Tomás Eloy Martínez ist ein Autor, vor dem der ganze Kontinent den Hut zieht: Selbst mit dem Tod bedroht, lebte er 20 Jahre im Exil. Seine Romane erscheinen in über 50 Ländern, García Márquez sagt: »Das will ich unbedingt lesen«, Vargas Llosa: »Meisterwerke«.

Tomás Eloy Martínez, 1934 in Argentinien geboren, zählt zu den bekanntesten Autoren seines Landes und war zeit seines Lebens als Journalist und Kritiker für »La Nación«, »El País«, die »New York Times« u.a. tätig. Weltweit bekannt wurde er mit seinem 1995 erschienenen Roman ?Santa Evita? über Evita Peron. Er unterrichtete in New Jersey, wo er Junot Díaz entdeckte. Er starb am 31. Januar 2010 in Buenos Aires. ?Purgatorio? (2010) ist sein erzählerisches Vermächtnis.

Tomás Eloy Martínez, 1934 in Argentinien geboren, zählt zu den bekanntesten Autoren seines Landes und war zeit seines Lebens als Journalist und Kritiker für »La Nación«, »El País«, die »New York Times« u.a. tätig. Weltweit bekannt wurde er mit seinem 1995 erschienenen Roman ›Santa Evita‹ über Evita Peron. Er unterrichtete in New Jersey, wo er Junot Díaz entdeckte. Er starb am 31. Januar 2010 in Buenos Aires. ›Purgatorio‹ (2010) ist sein erzählerisches Vermächtnis. Peter Schwaar, geboren 1947 in Zürich, studierte Germanistik und Musikwissenschaft in Zürich und Berlin und war Redakteur beim Zürcher »Tages-Anzeiger«. Seit 1987 arbeitet er als freier Journalist und Übersetzer (Eduardo Mendoza, Juan José Millás, Adolfo Bioy Casares, Álvaro Mutis, Tomás Eloy Martinéz, David Trueba u.a.). Er lebt in Barcelona.

2


Ein holdes Weib,
die einsam vor sich hinging
Purgatorio, 28. Gesang, Vers 40

Seit 1991 wohne ich wie Emilia in Highland Park, auf der trostlosesten Seite des Hügels, der den Flusslauf des Raritan überwacht. Mitte des 18. Jahrhunderts war der Raritan eine wichtige Wasserstraße, jetzt dagegen ist er nur noch ein spindeldürrer Faden, in dem Tausende kanadische Gänse nisten, deren Gekreisch die Stille der Kleinstadt zersplittert. Im September 1999 verschwanden sie schlagartig und ohne ersichtlichen Grund. Der Himmel war dunkel und die Natur stumm. Niemand war vorbereitet auf das, was geschah. In der Nacht kräuselten die Winde des Hurrikans Floyd den Raritan, der in wenigen Stunden anschwoll, wilde Bäche schuf und den Donaldson-Park, hundert Meter von meinem Haus entfernt, völlig überflutete. Die Gänsenester – schwere Ballen aus wildwachsendem Stroh – wurden von der Strömung fortgerissen. Die Keller aller Häuser, die auf den Park hinausgehen, wurden überschwemmt. Ganze Bibliotheken, Fotostudios und Karten mit dem Verlauf des Eruv, der für die gläubigen Einwohner des Ortes so wichtig ist, wurden vernichtet. Am nächsten Morgen traten die Menschen auf die Straße hinaus, um sich die Verwüstung anzusehen. Strahlend stand die Sonne am Himmel, und selbst die von der Katastrophe Heimgesuchten empfanden den Spaziergang als herbstliches Vergnügen. Letztlich konnte man ohnehin nichts mehr tun, außer ein Inventar der Schäden erstellen, fast sämtliche irreparabel. Eine Woche später war Highland Park wieder bei seiner alten Routine. Der Raritan zog sich in seinen armbrusthaften Lauf um den Ort zurück. Die geographische Fakultät der Universität ergänzte den Stadtplan im Büro der Bürgermeisterin um die beiden neuen Lehminselchen, die beim Abfließen des Wassers auftauchten. Gleichgültig widerstand die Zone den Angriffen des Wetters. Sehr wenig hatte sich verändert. Das Gebiet von Highland Park behielt die sechzig Häuserblocks von vor dem Sturm, und die beherbergten den Park, achtzehn Kirchen und rund fünfzehntausend Seelen.

Damals war meine beste Freundin Ziva Galili, Leiterin der historischen Fakultät der Rutgers University und in der Geschichte der russischen Revolution von 1917, wo es ja nicht eben an Fachleuten mangelt, eine der beeindruckendsten Gelehrten, die ich kenne. Wenigstens drei Monate jährlich verbringt Ziva damit, die Überraschungen durchzukämmen, die in den Archiven des erloschenen KGB noch immer zu finden sind. Wenn ich zu ihr gehe, höre ich sie ohne den geringsten Akzent in mehreren Sprachen sprechen, eingeschlossen Hebräisch, die Sprache ihrer Eltern und des Kibbuz, in dem sie aufwuchs. Sie ist immer noch meine beste Freundin, aber mittlerweile sehen wir uns nur noch selten, da sie 2006 zur stellvertretenden Dekanin der School of Arts and Sciences ernannt wurde und fast den ganzen Tag auswärts verbringt. Ein Viertel der Einwohner des Orts sind afrikanische Einwanderer, die vorsorglich vor den Gemetzeln in Ruanda und Sierra Leone geflohen waren. Ein weiteres Viertel stellen die hier wohnenden Dozenten, zu denen ich mich zähle und die aus absehbaren und unabsehbaren Ländern stammen: Tschechen, Chinesen, Inder, Birmanen, Russen, Bulgaren, Belgier, Israelis, Mexikaner, Brasilianer, Argentinier. Und so weiter und so fort. Die Hälfte der Bevölkerung, die absolute Mehrheit, besteht aus strenggläubigen, zum Teil extrem orthodoxen Juden. Das erklärt, warum überall in Sichtweite eine Synagoge steht und warum eine der angesehensten Rabbinerschulen von New Jersey ihren Sitz in der Umgebung des Ortes hat, in der Woodbridge Avenue, weniger als zweihundert Meter von der Brücke über die Route 1 entfernt. Im Winter wie im Sommer sieht man freitags beim Dunkelwerden und samstags vom Morgen an die jungen Studenten in langen schwarzen Mänteln, unter denen der weiße Stoff des Tallit hervorlugt, durch die Woodbridge Avenue defilieren. Im Ort selbst herrscht bei den Synagogen allenthalben ein Kommen und Gehen von – Hunderten – jungen Müttern in ihren Galakleidern und mit Hüten britischen Schnitts und offenkundigen Perücken. Mit Elan schieben sie Wägelchen vor sich her, in denen sich zwei oder drei ihrer Kinder progressiven Alters befinden (sie selbst sind im Allgemeinen mit dem nächsten schwanger) und kommentieren mit heiterem Pathos die Mahlzeiten, die sie vor dem Sabbat zubereitet haben. Ihre Männer begleiten die Familie nur selten – sie widmen den Feiertag dem Gebet und dem Studium der Gebote Gottes. Sie sind sehr fromm und friedlich und haben ihr Glück in einem Örtchen gefunden, in dem sich nichts ereignet. Die Polizisten langweilen sich. Ihre Hauptbeschäftigung besteht darin, die wenigen Autofahrer zu verfolgen, die das 25-Meilen-Limit (nahe den Schulen 15) zu überschreiten wagen oder vergessen haben, sich anzuschnallen. Am Ende der Gottesdienste werden Freundschaften geknüpft und bei Mittagessen mit Gemeinschaftsgebet gefestigt. Katholiken, Protestanten, Juden – die Einwohner von Highland Park sind Gläubige, für die der Glaube Lebensmittelpunkt ist. Da ich mich dafür entschieden hatte, nicht mit Gott zu leben, kenne ich niemanden, und niemand sucht mich. So ist es nur natürlich, dass ich erst nach längerem von Emilia Dupuy erfuhr, die man sowohl in Chris Nolans Friseursalon wie in Vijay Maktals Apotheke als Millie kannte, was für die angelsächsische Diktion leichter auszusprechen ist als Emilia mit ihren tödlichen Vokalen.

Anfänglich begegnete ich ihr gegen Abend im Stop & Shop, als der Supermarkt noch Food Town hieß. Bevor wir herausfanden, dass wir beide Argentinier sind, und uns misstrauisch und höflich zu grüßen begannen, stellte ich mich tunlichst nicht vor derselben Kasse an wie Emilia, denn wie die meisten älteren Frauen des Ortes nahm sie sich nicht nur alle Zeit der Welt, die Reife der Tomaten zu ertasten und die Pfirsiche zu beriechen, sondern überhäufte die Kassiererin zudem mit Rabattmarken. Sie legte sie eine nach der anderen hin, im selben Rhythmus, wie die Kassiererin den Broccoli und das Diäteis einpackte, das mit einem Rabatt von zwei Dollar auf den angegebenen Preis angeboten wurde. Im Allgemeinen wollte sie hundert Unzen Eis mit einer einzigen Marke mitnehmen, und da das nicht zulässig war, verwickelte sie sich mit der Kassiererin in ein Wortgefecht, das sich erst mäßigte, wenn die Aufseherin herbeieilte, um Ordnung zu schaffen. Mittlerweile hatte sich die ganze Schlange auf andere, weniger betriebsame Kassen aufgeteilt. Wenn ich mit Emilia im Supermarkt zusammentraf, verließ ich ihn, auch wenn ich später gekommen war, immer schon vor ihr wieder, um derartige Situationen zu vermeiden. Ihre damals über fünfzig Jahre sah man ihr nicht an. Jedermann hätte sie für zehn Jahre jünger gehalten. Sie war eher großgewachsen, schlank, elastisch, mit diesem für viele Argentinierinnen typischen Aussehen eines Teenagers, der vorsätzlich zu wachsen aufgehört hat. Sie war tief gebräunt von der Strahlkraft der Solarien (im Ort gibt es etwa sieben einschlägige Unternehmen) und versuchte unter einem fragilen Lackgerüst die Schütterheit ihrer Haare zu verbergen. Am meisten fielen mir ihre leuchtenden, fast durchsichtig blauen Augen auf, die mit unermüdlicher Neugier das gemächliche Atmen einer Welt betrachteten, die sich in Highland Park träge wie eine Schildkröte bewegte. Sie hatte kleine Brüste und ein wohlgeformtes Gesäß, das ihre Beine verlängerte. Sie war attraktiv und wusste es.

Ich lernte sie kennen, weil ich mich für die Welt der Kartographen interessierte, die in ihrem Bestreben, die Wirklichkeit zu korrigieren, derjenigen der Romanciers so sehr gleicht. Meinen Lernprozess in Bezug auf Labyrinthe und alte Seekarten begann ich an der geographischen Fakultät von Rutgers, aber da dort keine historischen und komparativen Karten erstellt wurden – die ersten, die meine Neugier geweckt hatten –, gelangte ich zur Hammond Corporation, als sich ihre Büros noch in der Progress Street in Union befanden, bevor sie nach Springfield umzog. An diesem Mittag sah ich Emilia Dupuy in einem der Räumchen der Programmierer und erfuhr, dass sie in meinem Ort wohnte, eine halbe Meile von mir entfernt.

Die Arbeitsatmosphäre verwandelte sie. Die Frau, die mir bei Hammond vorgestellt wurde, glich fast in nichts der mühsamen Fünfzigerin von Stop & Shop. Eher war sie das Gegenteil: anmutig, hilfsbereit, sanft. Sie trug einen Faltenrock, dank dem sie ohne Angeberei ihre wundervollen Beine zeigen konnte, und die Haare zu einem einfachen Kranz hochgesteckt, der ihren eleganten Nacken betonte. Später, als ich sie besser kannte, wagte ich ihr zu sagen, ich hätte sie nie so schön gesehen wie an jenem Tag und sie solle sich doch immer so schlicht anziehen, aber meine Bemerkung brachte sie auf. Die Kartographin, die du in der Union kennengelernt hast, war nicht ich, sagte sie. Ich war seit einer Woche nicht mehr beim Friseur gewesen. Ich widersprach ihr nicht, obwohl ich immer gedacht habe, dass sich in den Schönheitssalons der Main Street von Highland Park – drei pro Häuserblock – Frauen wie Emilia die Schönheit rauben lassen, mit der die Natur sie ausgestattet hat. Mehrere von ihnen habe ich diese Lokale mit hochgetürmten Haaren, unter dem Gewicht der Tusche geknickten Wimpern und überdesignten Nägeln verlassen sehen, was ihnen zusammen mit den weiten, grellbunten Kleidern in den Filmen von Federico Fellini eine Rolle als Statistin verschafft hätte, hätte Fellini sie gekannt.

An einem Samstagnachmittag lud mich Emilia in ihre Wohnung in der North Fourth...

Erscheint lt. Verlag 13.8.2010
Übersetzer Peter Schwaar
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Amerika • Anspruchsvolle Literatur • Argentinien • Liebe • Mexiko • Südamerika • Tod • Tomas Eloy Martinez • Trauer • USA • Valentinstag • Verlust
ISBN-10 3-10-400948-1 / 3104009481
ISBN-13 978-3-10-400948-3 / 9783104009483
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