Ein theatralisches Zeitalter -  Peter W. Marx

Ein theatralisches Zeitalter (eBook)

Bürgerliche Selbstinszenierungen von 1870 bis 1933
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2008 | 1. Auflage
421 Seiten
Narr Francke Attempto (Verlag)
978-3-7720-5220-0 (ISBN)
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Als im Januar 1927 in Köln Harry Domela verhaftet wird, der als vermeintlicher Prinz von Preußen zwei Jahre lang durch verschiedene deutsche Städte gereist war, stand der immer noch jungen Republik schlaglichtartig vor Augen, wie groß die Sehnsucht nach der verloren gegangenen Monarchie in fast allen gesellschaftlichen Schichten noch war. In der Maske des Hochstaplers aber wurden auch die Züge bürgerlicher Selbstinszenierung deutlich: Im Gefüge einer Gesellschaft, die sich durch Binnenmigration und sprunghafte Urbanisierung in ihren Grundfesten änderte, nahmen symbolische Selbstdarstellungen auf der Bühne, aber auch im 'wirklichen Leben' einen zentralen Platz ein. Die vorliegende Arbeit untersucht die unterschiedlichen Formen dieser Selbstinszenierungen, die schwanken zwischen der Sehnsucht nach ländlicher Ursprünglichkeit und weltstädtischer Weitläufigkeit. "Vom Weissen Rössel" über "Wilhelm Tell" bis hin zu Phänomen wie der Revue und dem Warenhaus als sozialer Bühne wird so die kulturelle Ökonomie des Spektakels als Mittel der Selbstdarstellung und Selbsterfindung erkennbar.

Inhalt 8
Vorwort 10
Hochstapler, Selbstdarsteller und Schauspieler. Eine Einleitung 12
Maskenspiele 12
Reisewege 22
Methodische Überlegungen zu den Bedingungen bürgerlicher (Selbst-) Darstellung 28
Die Bühne als Schauplatz und Objekt bürgerlicher Selbstdarstellung 40
Ein theatralisches Zeitalter? 45
Kanon und Politik: Tell, Nathan und Shylock 52
Wilhelm Tell – Sohn der Berge, Held aus der Mitte des Volkes 58
„Ein nationaler Gottesdienst, bei welchem die angesehendsten Gemeindebürger ministrieren…“ 70
Der Kampf um den „eisernen Bestand der Dichtung“: „Wilhelm Tell“ in Berlin 1913 79
Zwischenspiel mit Überraschung: „Wilhelm Tell“ – ein Stummfilm 1923 89
„Treibt sie auseinander!“ Versuch einer radikalen Lesart: Jessner 1919 98
„Rein ist der Boden.“ (V,1): Achaz 1933 108
Abschließende / überleitende Bemerkungen 116
Nathan & Shylock: Ansätze einer Genealogie jenseits des Mainstreams
Durch die Maske des Fremden: Sender Glatteis liest Nathan und Shylock. „Der Pojaz“ (1905) 125
Nathan & Shylock: Denkfiguren, Karikaturen, Masken
Die Vor-Geschichte: Die großen Virtuosen Devrient, Dawison, Possart 147
„Bei Sonnenthal hört der Antisemitismus auf…“ – Adolf von Sonnenthal: „Nathan der Weise“ 159
Der ‚authentische’ Shylock: Schildkraut, Granach 166
Werner Krauß und die Judenmaske: Nathan, Shylock, „Jud Süß“ 181
Fritz Kortner: Shylock (1927) im Angesicht des Antisemitismus 193
Kanon und Politik: Abschließende Bemerkungen 200
„Normallodenstück“ und bayerische Ausstattungsrevue: Die Konjunktur des Bauerntheaters 204
Vorgeschichte (1): Wurzelsuche 206
Vorgeschichte (2): Die Hochgebirgsmeininger: Die „Münchener“ (1879-1893) 211
„Die oberbayerischen Stücke den Oberbayern“: Die „Schlierseer“ 216
Repertoire und Selbstinszenierung 221
Rezeption 228
Conrad Dreher meets Buffalo Bill: Bajuwarenschau oder Volkstheater? 233
Fremdkörper im Revier 237
Das Lachen von Parvenupolis 252
Vorgeschichte: „Auf der Eisenbahn…“ 255
Theater für Parvenupolis 260
Ein „Theater für die Lebenwollenden“: Das Lessing-Theater 266
Das Warenhaus 274
Das Theater als Vergnügungs-Warenhaus 287
Schaulust und Begehren: Das Publikum 295
Der Parvenu als Trickster 306
Die kulturelle Ökonomie des Spektakels 312
Theater und Spektakel 328
DerMann, der Sherlock Holmes war: Ferdinand Bonn 335
„Pferdinand“ Bonn: Shakespeare im Zirkus 342
Spektakel der Macht 351
Epilog 372
Literatur 378
Quellen 378
Forschungsliteratur 385
Filmverzeichnis 416
Quellen im Internet 416
Abbildungsverzeichnis 417
Register 418

Wilhelm Tell – Sohn der Berge, Held aus der Mitte des Volkes (S. 57-58)


Einer Situation, wie der gegenwärtigen, entspricht nichts besser, als der ‚Tell’. Er enthält kaum eine Seite, gewiß keine Szene, die nicht völlig zwanglos auf die Gegenwart, auf unser Recht und unseren Kampf gedeutet werden könnte, und wir müssen uns des guten Taktes des Publikums freuen, das nicht stichwortbegierig mit seinem Beifall im Anschlag lag, sondern ihm nur Ausdruck gab, wo Schweigen ein Fehler der Affektion gewesen wäre. Theodor Fontane


Theodor Fontanes enthusiastische Aufnahme des „Wilhelm Tell“, die er 1870 weniger durch ästhetische Maßstäbe als durch die spezifische Aktualität oder die Fähigkeit zur Aktualität begründet, ist durchaus exemplarisch für die Aufnahme des Textes im späten 19. Jahrhundert. Seit der Uraufführung dieses letzten von Schiller vollendeten dramatischen Textes im Jahr 1804 in Weimar hatte er nicht nur einen festen Platz im Repertoire des deutschsprachigen Theaters gewonnen, er galt immer schon als ein Schnittpunkt zwischen Kunst und Politik. Von den Napoleonischen Kriegen, über die Reichsgründung 1871, die Begründung der Weimarer Republik bis hin zum Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft lassen sich die Spuren einer Rezeption dieses Textes finden, die ihn als ‚nationales Festspiel’ verstehen. Obgleich der Stoff selbst seit längerem bekannt und auch in verschiedenen Bearbeitungen auf der Bühne gespielt worden war, gewann er diese spezifische Wirkung erst durch die Schiller’sche Fassung.

Die von Schiller ausgehende Wirkungsgeschichte blieb nicht allein auf die Sphäre des Theaters beschränkt; sie griff auch auf andere Medien und Lebensbereich über: So findet sich etwa in der Malerei des 19. Jahrhunderts eine regelrechte Tell-Ikonographie, die sich in der Auswahl ihrer Motive deutlich an Schiller orientierte. Neben regelmäßigen Freiluftaufführungen, auf die an anderer Stelle ausführlicher eingegangen werden soll, beeinflusste Schiller auch den aufkommenden Fremdenverkehr in der Schweiz. Mettler/ Lippuner zeigen anhand der ersten Baedeker-Ausgabe für die Schweiz von 1844 auf, wie Schiller als Quelle für die Beschreibung des Vierwaldstätter Sees verwandt wird.

Die Schilderungen, die dem Reisenden als Wegweiser seiner eigenen Erfahrungen dienen sollen, erzeugen eine Überblendung der unmittelbaren individuellen Erlebnisse mit den Strukturen und Prägungen des kanonischen Textes. Dadurch kann ein doppelter Effekt erzielt werden: Auf der einen Seite wird der Text in der Lebenswelt des Reisenden implementiert und durch die touristischen Erlebnisse als authentisch bezeugt – die Wahrhaftigkeit des Ortes steht (idealiter) für die Wahrheit des Mythos selbst –, auf der anderen Seite gewinnt die Reise eine weitere Bedeutungsebene, denn der Reisende selbst tritt (natürlich vollkommen ungefährdet und nur in seiner Fantasie) in die Fußstapfen der mythischen Figur. Die sich seinerzeit etablierende kulturelle Praxis des touristischen Reisens kann als paradigmatisches Beispiel für die zahlreichen Versuche angesehen werden, eine möglichst direkt erfahrbare Verbindung von Kanon und Lebenswelt herzustellen.

Erscheint lt. Verlag 1.1.2008
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte 1918 bis 1945
Geschichte Teilgebiete der Geschichte Kulturgeschichte
ISBN-10 3-7720-5220-7 / 3772052207
ISBN-13 978-3-7720-5220-0 / 9783772052200
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