Vier Äpfel (eBook)
160 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00481-8 (ISBN)
David Wagner, 1971 geboren, debütierte mit dem Roman «Meine nachtblaue Hose». Es folgten der Erzählungsband «Was alles fehlt», das Prosabuch «Spricht das Kind», die Essaysammlungen «Welche Farbe hat Berlin» und «Mauer Park», die Kindheitserinnerungen «Drüben und drüben» (mit Jochen Schmidt), der Roman «Vier Äpfel», der auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand, und «Ein Zimmer im Hotel». 2013 wurde ihm für sein Buch «Leben» der Preis der Leipziger Buchmesse verliehen, 2014 erhielt er den Kranichsteiner Literaturpreis und war erster «Friedrich-Dürrenmatt-Gastprofessor für Weltliteratur» an der Universität Bern. «Der vergessliche Riese» brachte ihm 2019 den Bayerischen Buchpreis und eine Platzierung auf der Shortlist für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis ein. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Er lebt in Berlin.
David Wagner, 1971 geboren, debütierte mit dem Roman «Meine nachtblaue Hose». Es folgten der Erzählungsband «Was alles fehlt», das Prosabuch «Spricht das Kind», die Essaysammlungen «Welche Farbe hat Berlin» und «Mauer Park», die Kindheitserinnerungen «Drüben und drüben» (mit Jochen Schmidt), der Roman «Vier Äpfel», der auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand, und «Ein Zimmer im Hotel». 2013 wurde ihm für sein Buch «Leben» der Preis der Leipziger Buchmesse verliehen, 2014 erhielt er den Kranichsteiner Literaturpreis und war erster «Friedrich-Dürrenmatt-Gastprofessor für Weltliteratur» an der Universität Bern. «Der vergessliche Riese» brachte ihm 2019 den Bayerischen Buchpreis und eine Platzierung auf der Shortlist für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis ein. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Er lebt in Berlin.
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Wer oder was bestimmt über mich? Ich glaube, ich bin eine Biene, die durch den Supermarktgarten fliegt, die Verpackungen sind meine Blüten, Form und Farben, Schrift und Geruch verführen mich. Geruch? Aber ich rieche doch gar nichts, ist ja alles verpackt. Ich bin dressiert darauf, auf Formen, Farben und Schriften zu reagieren, bin vielleicht kein perfekter, alles in allem jedoch ein zuverlässiger Konsument, denn ich kaufe die Marken, die ich kenne und schätze und schon immer kaufe, und bin mit ihnen glücklicher als mit den Produkten ohne Namen, meine Marken sind noch bei mir, L. ist es nicht.
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L. hat mir einmal gestanden, sie habe sehr lange, fast bis gegen Ende ihres Studiums, nicht einen einzigen ihrer vielen Lippen- und Kajalstifte bezahlt, viel zu teuer, das habe sie nicht eingesehen. So kleine Sachen zu klauen sei nicht schwierig gewesen, damals habe es ja auch noch nicht auf jedem Produkt ein Sicherheitsetikett und an jedem Ausgang elektronische Schranken gegeben. Kleidung zu stehlen habe da schon mehr herausgefordert – eine Hose unter einer anderen Hose anlassen oder einen Rock unter einem längeren Rock, so sei sie zu ihren schönsten Stücken gekommen, in Umkleidekabinen gebe es keine Kameras. Ich hingegen war nie gut im Klauen. Ich könnte mir nicht einmal die Fleischwarentüte in den Hosenbund schieben, sie fiele mir sicher kurz vor oder hinter der Kasse heraus. Zwar überkommt mich manchmal die Versuchung, heimlich etwas einzustecken, aber da ich weiß, daß ich an geklauten Dingen wenig Freude habe, widerstehe ich ihr. Ich weiß es von der Platte, einer Single, die ich einmal in einem Kaufhaus habe mitgehen lassen, ich war zwölf oder dreizehn, und wahrscheinlich war es eine Art Mutprobe. Wir waren zu dritt unterwegs, zwei Freunde und ich, schauten die Schallplatten durch, alles Vinyl, und hingen eine halbe Stunde oder länger in der Musikabteilung herum. Als wir wieder draußen waren, überraschte ich die anderen mit der Single, die ich mir einfach unter den Arm geklemmt hatte. Zwischen kopierten Notenblättern, die ich dabei hatte, weil ich danach, das war mir peinlich, noch in die Musikschule mußte, war sie gar nicht aufgefallen. Das Lied Tainted Love von Soft Cell gefiel mir gut – erinnerte mich dann aber immer wieder daran, daß ich die Single gestohlen hatte. Das geht mir noch heute so, wenn ich es zufällig irgendwo höre, einmal war es auch hier, in diesem Supermarkt der Fall, ich stand gerade bei den Fleischwaren an. Später habe ich, wie um es wiedergutzumachen, fast alle Alben von Marc Almond gekauft.21 L., der ich das einmal erzählte, fand die Geschichte harmlos, sie hatte ganz andere Dinge angestellt, allerdings verriet sie mir nicht alle. Geblieben war ihr die Gewohnheit, nach unabgeschlossenen Fahrrädern Ausschau zu halten, die, wenn sie denn eines entdeckt hatte, eine Weile zu beobachten und schließlich seelenruhig davonzuschieben, als ob sie es bloß zur Seite stellen wollte. Eines Tages, das hat sie oft angekündigt, wollte sie sich aus all diesen geklauten Rädern, meist waren es Damenräder, die unabgeschlossen an Laternenpfählen oder Hauswänden lehnten, ein oder zwei neue zusammenbauen – wozu es jedoch nie kam. Sie stehen bestimmt immer noch unten im Haus, im Fahrradraum, in dem ich schon über ein Jahr nicht mehr gewesen bin. Vielleicht aber hat sie auch jemand geklaut.
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Viel öfter als heute hingen in den Läden früher gewölbte Beobachtungsspiegel, in denen meist der halbe Raum, wenn auch verkleinert und verzerrt, zu sehen war. Sie hingen da, so mein Verdacht, weniger zur tatsächlichen Überwachung als zur Erzeugung eines Gefühls von Überwachung. Jede Bewegung, sollte man denken, könnte beobachtet werden.
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Ob ich jemals zur Kasse finden werde, weiß ich nicht. Ich könnte immer wieder dieselbe Runde durch die drei, vier Gänge drehen – gegen den Uhrzeigersinn und immer wieder an den Fertignudelsoßen, dem Zucker und den Tütensuppen vorbei – und nie, Stunden, Tage, Jahre nicht, zur Kasse finden. Angst, mich zu verlaufen, habe ich keine, ich habe hier ja alles, alles ist da. Liefe ich mit einem undichten Farbeimer in der Hand herum, ich hätte meine eigene Spur schon oft gekreuzt, und von oben betrachtet wäre vielleicht zu erkennen, daß ich, ganz ohne es zu wollen, große Buchstaben auf den Supermarktboden getröpfelt hätte, die, zusammengesetzt, eine Botschaft ergäben, eine von denen, die L. nie lesen wird.
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Schräg gegenüber, auf der anderen Seite des Kühlregals, sehe ich einen Mann, der, obwohl er gar nicht alt, wahrscheinlich erst Ende Vierzig, ist, aussieht, als ob er bald sterben muß. Bald ist natürlich eine relative Zeitangabe, sterben müssen wir ja alle, nur gelingt es den meisten Menschen, diese Tatsache fast immer so zu überspielen, daß weder sie selbst noch alle anderen rings um sie herum an sie denken. Um so erschreckender, es plötzlich dann doch zu sehen: Dem Mann, der sich jetzt über das Speiseeis beugt, steht es auf die Stirn geschrieben, er hat bestimmt nur noch ein paar Tage, höchstens eine Woche zu leben – aber vielleicht wirkt er bloß ein wenig ungesund. Ich weiß noch, wie sehr mich als Kind die Erkenntnis, daß in allen Menschen ein Knochengerüst, ein Totengerippe steckt, in maßloses Erstaunen versetzte. Der Tod verbirgt sich also in uns allen, wußte ich von da an, es liegt nur ein wenig Fleisch darüber, beim einen mehr, beim anderen weniger.22
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Und wenn ich nun selbst ein Android oder ein Replikant bin, wie die Automaten im Bladerunner heißen? Einer, der nicht weiß, daß er einer ist? Wäre ich aber als hochentwickelte Maschine nicht darauf programmiert, Angst vor anderen Maschinen zu haben? Ist es nicht so, daß nur der Android, der wie ein Mensch Angst vor Androiden hat, ein guter Android ist? Könnte dieser Nachmittag also der Nachmittag eines Einkaufsroboters sein, ist auch meine Sentimentalität bloß programmiert? Lieber stelle ich mir vor, hier schwebten Engel durch die Gänge, Seelenkörbe vor sich her schiebend, bewegten sich auf ein gleißendes Licht zu, versunken und gleichzeitig verzückt. Auch ich könnte einer von ihnen sein, keine Ahnung, wann ich gestorben bin oder ob überhaupt, ich erinnere mich nicht, hier gibt es keine Vergangenheit, und die Zukunft reicht nur bis – zum Mindesthaltbarkeitsdatum, ein Gedanke, den ich L. verdanke, ja es kommt mir so vor, als hätte sie das gerade gesagt, um mich aus meiner Schwärmerei zu holen, mach deine Einkäufe, sie hat ja immer so getan, als stünde sie mit beiden Beinen auf dem Boden.
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Ich höre die Frau an der Fleisch- und Wursttheke Koteletts hacken oder Schnitzel klopfen, aber, weiß ich doch, da war ich ja bereits. Die Aufschnittüte, in der die rosafarbenen Päckchen schimmern, liegt im Einkaufswagen vor mir, daneben sehe ich die losen, tanzenden Zitronen, die Milch, den Honig und die vier Äpfel. Die Fleischfachverkäuferin hackt, ich kann das nun beobachten, mit einem kleinen Edelstahlbeil auf einen hölzernen, von Metallbändern umschlossenen Hackblock ein, sie zerteilt ein Stück Fleisch, in dem Knochen stecken. Während ich weiter gebannt in ihre Richtung starre, finde ich, meine Hände wühlen sich durch die Taschen meines Mantels, einen Zettel, halte ihn mir vor die Augen und versuche zu lesen, was da steht – kann aber meine eigene Schrift nicht entziffern. Immerhin erkenne ich, daß es sich nicht um meinen Einkaufszettel handelt, es ist irgendeine andere Liste auf einem weißen Stück Papier.
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Ich rolle weiter, als wäre ich, ohne davon zu wissen, auf Schienen unterwegs, als bliebe mir gar nichts anderes übrig, als so und nicht anders durch den Supermarkt zu ziehen. Der Einkaufswagen hat mich sicher längst durchschaut, kennt dank eines hochempfindlichen Sensors in der Schiebestange nicht nur meine Fingerabdrücke, sondern hat mittels Handschweißanalyse auch meinen emotionalen Zustand bestimmt, weiß somit wahrscheinlich, ganz im Gegensatz zu mir, was ich wünsche oder brauche oder darüber hinaus in meinen Einkaufswagen legen würde, käme ich nur daran vorbei. Ich vermute, die Gänge sind mit einem unmerklichen, knapp unterhalb der Wahrnehmungsgrenze liegenden Gefälle angelegt worden, das mich ganz langsam, wie ein Floß auf einem mäandernden Fluß, Richtung Kasse gleiten läßt, der Wagen schwimmt vor mir her, und ich treibe an den Spielsachen vorbei, an Bauklötzen und Stofftieren und Puppenköpfen, die sich schminken und frisieren lassen, an Barbie-Pferden, deren Ohren und Schweif bei Berührung aufleuchten, und Baggern mit aufgemalten Gesichtern. Und ich sehe Merchandisingprodukte von Zeichentrickfilmen, die ich, falls es sich nicht um urvertraute, allseits bekannte Comicfiguren handelt, nur aus diesem Supermarktregal kenne.
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Während des Einkaufens entwickelte L. gern Theorien, ich erinnere mich beispielsweise an ihre Bärentheorie, auf die sie vor einem Schaufenster voller Stofftiere kam, weil sie fand, daß Teddybären neuerdings immer älter, dünner und schmalschnauziger wirkten. Teddybären, sagte sie, sähen mittlerweile fast so aus, wie sie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ausgesehen hätten, mit hängenden Mundwinkeln und kränklichem Gesichtsausdruck, so wie die, die in Spielfilmen zum Thema Kinderlandverschickung von kleinen, dünnbeinigen Mädchen in karierten Baumwollkleidern herumgetragen würden. In ihrer Kindheit in den siebziger Jahren, sagte L., seien Teddybären viel dicker und vollmondgesichtiger gewesen, hätten kurze, dicke, runde Schnauzen gehabt und ein breites Dauergrinsen über ihren hervorstehenden Bäuchen zur Schau getragen. Naturalistische Darstellung, das fällt mir dazu ein, ist heute nur bei Eisbären...
Erscheint lt. Verlag | 5.10.2009 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Alltag • Alltagsbeobachtung • Kindheitserinnerungen • Langweile • magische Momente • Melancholie • Monotonie • Rückblick • Schönheit • Supermarkt |
ISBN-10 | 3-644-00481-1 / 3644004811 |
ISBN-13 | 978-3-644-00481-8 / 9783644004818 |
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