Verlangen nach Drachen (eBook)
448 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30103-8 (ISBN)
Verena Roßbacher, geboren 1979 in Bludenz/Vorarlberg, aufgewachsen in Österreich und der Schweiz, studierte einige Semester Philosophie, Germanistik und Theologie in Zürich, dann am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. »Mon Chéri und unsere demolierten Seelen« ist nach ihrem Debüt »Verlangen nach Drachen« (2009), »Schwätzen und Schlachten« (2014) und »Ich war Diener im Hause Hobbs« (2018) ihr vierter Roman bei Kiepenheuer & Witsch.
Verena Roßbacher, geboren 1979 in Bludenz/Vorarlberg, aufgewachsen in Österreich und der Schweiz, studierte einige Semester Philosophie, Germanistik und Theologie in Zürich, dann am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. »Mon Chéri und unsere demolierten Seelen« ist nach ihrem Debüt »Verlangen nach Drachen« (2009), »Schwätzen und Schlachten« (2014) und »Ich war Diener im Hause Hobbs« (2018) ihr vierter Roman bei Kiepenheuer & Witsch.
2. Kron.
Die Erinnerung.
Er schnitt den Karton auf, wickelte das Glas aus dem Papier, hielt es ans Licht. Eingelegt in Formaldehyd, ein Fötus, schwebend, ein winziges Menschlein.
Ich verstehe immer noch nicht, was wir hier eigentlich wollen, Kron schaute in die kahlen Wipfel der Bäume, lange Finger in der Dunkelheit.
Lenau trat das Schilf zur Seite, legte den Weg frei. Er reichte Kron die Spitzhacke und ging voraus, ging vorsichtig über das Eis, zählte die Schritte ab.
Hier waren wir einmal im Sommer, Kron ging hinter Lenau her, auf dem Eis lag eine feste Schicht Schnee, er stieg über die restlichen Schilfstangen und trat hinaus auf den gefrorenen Teich. Kein Mond, er sah Lenau als dunkle Silhouette in der Mitte des Teiches, er schob den Schnee vom Eis.
Spitzhacke, sagte Lenau, Kron reichte ihm die Spitzhacke, da kommt nie jemand her, man ist ganz für sich, sagte Kron.
Lenau begann, mit weit ausholenden Schlägen das Eis zu bearbeiten, die grauen Haare wie ein Sturm über dem Kopf. Kron zog den Mantel enger um sich, die Äste fingerten sich ineinander, ein dichtes, feines Netz im Himmel. Der Teich lag dämmrig und ungut in einem mürben Licht. Lenau bückte sich, schaufelte das Eis aus dem Loch.
Quer durch den Wald und über die Wiese, dann ist man beim Achleitner, eine Stunde oder eineinhalb zu Fuß. Kron schob mit der Schuhspitze den Schnee zu einem Haufen. Er schaute zwischen die Bäume, horchte, ab und zu Geräusche. Ob in dem Gartenhaus wieder jemand wohnt? Wahrscheinlich nicht. Das war vor mir auch nicht benutzt worden, die Kinder vom Achleitner haben da manchmal gespielt, sonst nichts. Er ließ sich in die Hocke nieder, sah die Eisstücke fliegen. Das Gartenhaus. Die Wohnung war ein Fehler, ich hätte das wissen müssen. Ich gehöre da nicht hin. Vorher habe ich die Winter auch überlebt, im Gartenhaus. Wir hatten diese Wohnung genommen und das war, als würde nichts mehr glattlaufen. Ich habe schon gewusst, warum ich ins Gartenhaus gezogen bin, das war ja kein Zufall. Ich habe mich da sicher gefühlt, ruhig. Mit dieser Wohnung konnte ich nicht mehr mithalten, mir ist das entglitten. Schon allein diese ständige Stadt um mich herum, der Lärm und die vielen Leute immer, ich mag das nicht. Und zwischen uns ist auch irgendwas passiert, ich weiß nicht was. Aber vielleicht lag das alles nur an mir. Ich bin mir nicht mehr hinterhergekommen, verstehst du? Zum Beispiel diese Zimmer, gut, die Wohnung war nicht groß, eine Küche und ein Wohnzimmer und ein Schlafzimmer, aber mir war das zu viel. Das Wohnzimmer haben wir gar nie benutzt, weil ich es nicht geschafft habe. Ich konnte mein Gartenhauszimmer einrichten und es war schön. In der Wohnung war nichts schön, meine Dinge, die ich immer mochte, waren ganz verloren und schäbig darin. Manchmal denke ich, sie hat diese plötzliche Hilflosigkeit erschreckt. Das hat sie auf einmal gespürt. Dass ich nicht darüberstehe. Über allem.
Plötzliche Hilflosigkeit, murmelte Lenau, so so. Er richtete sich wieder auf, bald sind wir durch, er drückte Kron den Spaten in die Hand, holte aus, in dem Licht sah er aus wie ein Schlächter, Kron legte sich zurück, schaute in den Himmel. Er sah Lenau zuschlagen, ausholen, die Spitzhacke vor dunklem Himmel, zuschlagen, spürte die Kälte durch den Mantel dringen.
Andererseits, sagte er laut über das Eishacken hinweg, manchmal denke ich, wir hätten sowieso keine Chance gehabt. Das vorher im Garten vom Achleitner, das war Schonzeit, das war nicht wirklich.
Lenau legte die Spitzhacke beiseite, schaufelte Eisbrocken heraus und stieß mit dem Spaten durch die restliche dünne Eisschicht, Wasser, das Geräusch von Wasser. Er kniete sich vor das Loch, neigte sich darüber.
Da wären wir, sagte er, Kron richtete sich auf, schaute in das Eisloch. Das Wasser lag wieder ruhig und schwarz, Lenau hob den Glasballon aus dem Rucksack, befestigte den Strick am Flaschenhals und ließ den Ballon hinuntergleiten, schickte stückweise das Seil nach. Mal sehen, sagte er, er begutachtete die Seilrolle, die Schlinge für Schlinge in dem Loch verschwand, ich hoffe, ich habe mich nicht getäuscht.
Warum holst du ihn nicht einfach wieder herauf, er ist doch längst voll.
Das Seil hatte sich bis auf die letzten drei Schlingen abgewickelt, Lenau ließ ein weiteres Stück in dem Loch verschwinden, natürlich, sagte er, der Ballon füllt sich sofort, aber, er zupfte kurz am Seil, schob noch ein Stück nach, auf den Grund, Kron, einmal soll er die Tiefe ergründen, er wanderte mit den Augen über die Eisfläche, maß die Entfernung zum Ufer, womöglich habe ich mich getäuscht, das wäre natürlich fatal, die letzte Seilwinde glitt hinab, Lenau schien zu lauschen, gut, sagte er. Die letzten dreißig Zentimeter Strick lagen schlaff auf dem Eis, Lenau wickelte sich das Ende davon ums Handgelenk, setzte sich neben Kron.
Und ich verstehe den Schluss nicht, sagte Kron, ich habe irgendwann aufgehört zu begreifen, was passiert. Ich weiß nicht, wann. Vielleicht habe ich nie begriffen. Bin immer nur hinterhergetaumelt, von Anfang an. Damals stand sie beim Achleitner auf dem Hof, auf einmal, die Kette am Fahrrad war ihr gerissen. Die langen Haare. Die zarte Haut. Lachte. Ich habe sie angeschaut und gewusst, ich habe das einfach gewusst, dass wir gut sein könnten zusammen. Sie war so pur. Das hat mir gefallen. Ich habe mich einfach verliebt, schnell, in dem Moment. Ich kam mit den Setzlingen aus dem Glashaus und habe mich verliebt. Es war ganz einfach. Ich habe es mir einfach vorgestellt. Schön. Ich dachte, ich sähe ein schönes Leben, Klara und ich. Ich dachte, wir wohnen in dem Gartenhaus, für immer. Er lachte, formte einen Schneeball und warf ihn in die Luft. Ich dachte das wirklich. Und irgendwann war sie dann weg. Wie ohne Zusammenhang. Ich habe nicht mehr verstanden. Seit wir in der Wohnung wohnten, wurde das Tempo schneller. Es wurde irgendwie jeden Tag schneller, ich habe nicht mehr mithalten können. Manchmal hat sie mich was gefragt, ganz banale Sachen nur, ob mir die oder jene Tasse gefällt, die sie kaufen möchte, und ich sage, ja, gut, gefällt mir gut, und zwei Tage später merke ich erst, dass wir jetzt eine Tasse haben, die mir nicht gefällt. Sie fragt mich, ob wir da und dorthin gehen, irgendein Fest, und ich sage, natürlich, das machen wir, und ich stehe da und wollte nie hin. Ich habe immer gewusst, was gut für mich ist und wie viel ich vertragen kann, ich habe das einschätzen können. Und auf einmal wusste ich nichts mehr. Das ist wie wenn man weiß, dass man keine Erdbeeren essen darf, weil man allergisch darauf ist. Man isst sie dann einfach nicht. Man vergisst irgendwie, warum man sie nicht isst, man vergisst, dass es Erdbeeren überhaupt gibt. Und dann ist man zum Beispiel bei jemandem zu Besuch, ist zum Essen eingeladen und es gibt Erdbeerkuchen zum Nachtisch. Und man isst ihn einfach, wie aus Versehen, weil man zu Besuch ist und weil man nicht daran denkt oder weil man schon richtig vergessen hat, was passiert, wenn man Erdbeeren isst. So war das mit Klara. Mit Klara war alles wie eine Überforderung, ich musste mich so anstrengen, mitzukommen, dass ich ganz den Kontakt zu mir verloren habe. Ich hatte alles vergessen. Ich war nur noch damit beschäftigt, mithalten zu können. Ich habe nicht mehr überlegen können, gar nichts. Bin nur mehr gehetzt, damit ich den Anschluss nicht verliere. Er drehte sich zur Seite, fuhr mit der Hand in das Loch im Eis, das Wasser war beißend kalt und wie gierig, er zog die Hand wieder heraus, steckte sie unter den Mantel. Lenau schraubte den Deckel von der Thermoskanne, schenkte Tee in eine Tasse und reichte sie ihm. Kron trank einen Schluck, stellte sie neben sich auf das Eis, wärmte die Hände daran. An dem letzten Abend. Ich bin spät nach Hause gekommen, es war noch so viel zu tun. Der Achleitner hatte die ganze Woche schon lamentiert, Schnee und Frost und bitterkalt. Hat darauf beharrt, die Beete abzudecken und alles winterfest zu machen. Der hat einen frühen Schnee gerochen. Recht hat er gehabt. Jedenfalls war’s an dem Samstag schon spät, sieben oder noch später, ich weiß es nicht mehr. Ich kam die Treppe hoch, und die Brödel stand in der Tür, hatte die Katze auf dem Arm.
So geweint hat sie, die Nachbarin wiegte den Kopf, die Katze glitt zu Boden, stromerte ihm entgegen, die Nachbarin raffte ihre Strickjacke über der Brust zusammen, Herr Kron, sie können sich gar nicht vorstellen, was die Minna geweint hat vor der Tür. Ich weiß ja nicht, was das Fräulein macht, aber überhören tut man das nicht –
Guten Abend, Frau Brödel, Kron hievte die Kiste auf den linken Arm, stellte die Tüte obenauf und suchte in der Tasche nach dem Schlüssel, das ist lieb, dass sie sich um die Minna gekümmert haben.
Und einen Hunger hat sie gehabt, und gefroren hat sie, richtig gezittert, bis zum Schwanz, und so dunkel im Stiegenhaus, Herrschaftszeiten, hab ich mir irgendwann gedacht, jetzt muss ich halt doch einmal schauen gehen –
Sie haben ihr aber nichts zu fressen gegeben, oder, das haben wir doch –
Das Licht im Stiegenhaus erlosch.
Nein, nein –
Kron suchte nach dem Lichtschalter.
Gar nichts hat die Minna, das Licht ging wieder an, hinausgehen tut das Fräulein wohl gar nicht, nicht dass mich das etwas angehen würde, aber ich könnte schwören, dass das Fräulein den ganzen Tag in der Wohnung ist, und wie sie dann die Minna –
Schauen Sie einmal, Frau Brödel, was ich heute gefunden habe, haben Sie schon einmal einen gesehen, er tastete mit der einen Hand in der Tüte, holte einen durchsichtigen Plastikbeutel...
Erscheint lt. Verlag | 21.9.2009 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Affären • Belletristik • Beziehungen • Debütroman • Debüt-Roman • Drachen • Entdeckung • Kaffeehaus • Kellnerin • Kiepenheuer & Witsch • Konflikt • Liebe • Männer • Roman • Schwätzen und Schlachten • Sprachkunst • Sprunghaft • Verena Rossbacher |
ISBN-10 | 3-462-30103-9 / 3462301039 |
ISBN-13 | 978-3-462-30103-8 / 9783462301038 |
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