Lemmings Zorn: Lemmings vierter Fall (eBook)
304 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-40351-2 (ISBN)
Stefan Slupetzky, 1962 in Wien geboren, schrieb und illustrierte mehr als ein Dutzend Kinder- und Jugendbücher, für die er zahlreiche Preise erhielt. Seit einiger Zeit widmet er sich vorwiegend der Literatur für Erwachsene und verfasst Bühnenstücke, Kurzgeschichten und Romane. Für den ersten Krimi um seinen Antihelden Leopold Wallisch, 'Der Fall des Lemming', erhielt Stefan Slupetzky 2005 den Glauser-Preis, für 'Lemmings Himmelfahrt' den Burgdorfer Krimipreis. 'Lemmings Zorn' wurde 2010 mit dem Leo-Perutz-Preis ausgezeichnet. Im selben Jahr gründete Slupetzky ein Wienerliedtrio, das Trio Lepschi, mit dem er seither als Texter und Sänger durch die Lande tourt. Stefan Slupetzky lebt mit seiner Familie in Wien.
Stefan Slupetzky, 1962 in Wien geboren, schrieb und illustrierte mehr als ein Dutzend Kinder- und Jugendbücher, für die er zahlreiche Preise erhielt. Seit einiger Zeit widmet er sich vorwiegend der Literatur für Erwachsene und verfasst Bühnenstücke, Kurzgeschichten und Romane. Für den ersten Krimi um seinen Antihelden Leopold Wallisch, "Der Fall des Lemming", erhielt Stefan Slupetzky 2005 den Glauser-Preis, für "Lemmings Himmelfahrt" den Burgdorfer Krimipreis. "Lemmings Zorn" wurde 2010 mit dem Leo-Perutz-Preis ausgezeichnet. Im selben Jahr gründete Slupetzky ein Wienerliedtrio, das Trio Lepschi, mit dem er seither als Texter und Sänger durch die Lande tourt. Stefan Slupetzky lebt mit seiner Familie in Wien.
1
Geboren werden ist wie in Rente gehen. Man leert den Schreibtisch und räumt das Büro. Man händigt dem Portier die Schlüssel aus, verlässt zum letzten Mal die Firma und bricht in eine ungewisse Zukunft auf. Es wird schwierig sein, sich in sein neues Leben hineinzufinden. Mit jedem Schritt aber, den man tiefer in dieses neue Leben macht, vergisst man das alte: Noch ehe man gelernt hat, aus einer Schnabeltasse zu trinken, ist alles Vergangene ausgelöscht.
Geboren werden heißt, den Sinn für die Einheit der Welt zu verlieren. Um jede Erinnerung an ein Vorher zu tilgen, hat die Natur eine Schleuse eingerichtet, in der man neun Monate lang verharren muss, ehe man in die materielle Welt entlassen wird. Diese Wartezeit verstreicht nicht ungenutzt, sie dient der Auslöschung unserer kosmischen Software. Im Umerziehungslager Mutterbauch werden die Festplatten neu bespielt; hier lernt man alles, was man braucht, um sich als stoffliches Einzelwesen gegen andere zu behaupten. Die Sinne spalten sich auf und werden von innen nach außen gestülpt: die Augen, um zu sehen, was man besitzen will, die Ohren, um zu hören, wer es einem streitig macht. Die Nase zum Aufspüren des Feindes, die Hände zum Töten, der Mund zum Zerfleischen.
Die Geburt eines Kindes ist also ein großes Vergessen: Was immer davor war, es zählt nicht mehr. Und das gilt ganz besonders für die Eltern, da können sie noch so geplant und getüftelt, phantasiert und orakelt haben. Kein Luftschloss hält den Urgewalten stand, die drei Kilo Mensch in ihr Leben bringen, kein vorab ersonnener Zeitplan und kein liebevoll möbliertes Kinderzimmer. Eine Spieluhr, die Vivaldi spielt? Das Kind wird Mozart hören wollen. Wiege, Stubenwagen, Babykorb? Das Kind wird im Ehebett liegen. Rosa Tapeten? Das Kind wird ein Bub sein. Ganz abgesehen davon, dass es sein eigenes Zimmer – egal, wie es gestaltet ist – mit ähnlichem Enthusiasmus bewohnen wird wie Hannibal Lecter sein panzerverglastes Verlies.
«Wart einmal, Poldi …» Klara greift nach dem Arm des Lemming und verlangsamt ihre Schritte. «Wart kurz …» Sie bleibt stehen, senkt den Kopf. Lauscht tief in sich hinein. Unfassbar schön ist sie, denkt – wie so oft in letzter Zeit – der Lemming. Schön sind die ruhigen, leuchtenden Augen, schön auch die prallen Brüste über dem mächtig gerundeten Bauch. Schön ist das ganze blühende, duftende, vollreife Weib. Sogar der etwas entenhafte Gang, mit dem sie die Last zweier Körper trägt, ist wunderschön. Das Herz des Lemming schlägt höher, wie das eines Kindes, dem vom festlichen Gabentisch her ein verheißungsvolles Paket entgegenlacht.
«Nein, es war nichts.» Klara schüttelt den Kopf. «Nur so ein Ziehen: Senkwehen, du weißt schon.»
Selbstverständlich weiß der Lemming, was Senkwehen sind. In den vergangenen Monaten hat er ein halbes geburtsmedizinisches Studium absolviert. Mit Austreibungsphasen und Steißlagen, Spinal- und Periduralanästhesien, Kardiotokographien und vorzeitigen Blasensprüngen ist er auf Du und Du. Auch sein Geschick bei der Handhabung unverzichtbarer Accessoires wie indischer Tragetücher oder japanischer Fläschchenwärmer hat er perfektioniert. Seine Wickeltechnik ist ebenso unübertroffen wie seine Fertigkeit bei der Zwei-Finger-Bäuchleinmassage. Kurz gesagt: Der Lemming ist bereit. Mehr als bereit. Er fiebert dem Augenblick entgegen, da er all das Gelernte auch anwenden kann. Nicht an einer zerschlissenen Stoffpuppe wie bisher, sondern (bei diesem Gedanken hüpft wieder sein Herz) an seinem eigenen warmen, lebendigen Kind.
Über eines aber ist der Lemming nicht im Bilde, und das ist der Zeitpunkt dieses alles verändernden Augenblicks. Wüsste er, was ihn in Kürze erwartet, er stünde wohl nicht so verträumt auf dem Gehsteig …
«Kommst du?» Klara schenkt ihm ein unergründliches Lächeln und watschelt voraus, die menschenleere Berggasse hinab in die Senke der Rossau.
Ein wunderbar friedlicher Frühlingsmorgen liegt über den Dächern der Stadt. Vom wolkenlosen Himmel strahlt die Sonne und wärmt den – für gewöhnlich mit Autos verbarrikadierten – Asphalt. Gott lacht sich ins Fäustchen, er weiß, warum er den Wienern justament heute ein klassisches Kaiserwetter beschert: Es ist der Erste Mai, und für den alljährlichen Maiaufmarsch der Sozialdemokraten kann es kein schlechteres Wetter geben. Proletarisches Wirgefühl hin oder her: Den arbeitsfreien Tag der Arbeit im sonnigen Grünen zu verbringen, ist nun einmal erbaulicher, als Parolen skandierend den Ring entlangzumarschieren. Nur die armen Parteifunktionäre müssen in Wien bleiben, statt in ihren Datschen und Chalets nach dem Rechten zu sehen. Und auch der Lemming und Klara: Sie müssen in der Wohnung des Lemming nach dem Rechten sehen, statt in Klaras Ottakringer Häuschen zu bleiben.
«Scheiße … Schon wieder …» Klara hält abermals an. Sie schließt die Augen und beugt sich vor. «Ich bin mir … nicht sicher, Poldi, aber … Ich glaub fast, es geht los.»
«Es … Es geht … Was?» Der Lemming erstarrt. Für einen Moment glotzt er Klara verständnislos an, dann aber durchzuckt ihn der Blitz der Erkenntnis. «Mein Gott, wir müssen … Wir müssen sofort in die Klinik!»
«Nicht werd mir gleich panisch», stößt Klara mit gepresster Stimme hervor. «Wir haben doch Zeit.» Sie atmet ein paarmal kräftig durch und richtet sich auf. «Die täten sich schön bedanken im Krankenhaus, wenn ich ihnen bis morgen den Kreißsaal blockier.»
Eröffnungsphase, natürlich, rekapituliert der Lemming. Bis Muttermund und Zervix zur Genüge ausgeweitet sind, dauert es bei erstgebärenden Frauen im Durchschnitt zehn Stunden. Zunächst macht sich der Fötus reisefertig. Er prüft die Lage der Glieder und kontrolliert den Sitz der Nabelschnur. Er rückt den Kopf in Position und legt noch ein Nickerchen ein, bevor er sich gemächlich zur Abschussrampe begibt. Erst, wenn er im Cockpit Platz genommen, sich in den Schalensitz geschmiegt und angeschnallt hat, kann der Countdown – die sogenannte Austreibungsphase – beginnen.
Andererseits: Was zählen schon statistische Mittelwerte? Fühlt man sich durchschnittlich wohl, wenn man oben verbrennt und unten erfriert?
«Ja aber … Was willst du denn sonst tun?»
«Gar nix, mein Lieber. Wir gehen jetzt in aller Ruhe deine Post holen, wie geplant. Und dann schauen wir weiter.» Knapp zweihundert Meter liegen noch zwischen ihnen und der Servitengasse, in der das Wohnhaus des Lemming steht. Zweihundert Meter, für die sie eine gute Stunde brauchen werden.
«Ist dir klar, was das bedeutet?» Der Lemming reißt die Augen auf und starrt auf die Uhr seines Handys, während sich Klara keuchend gegen ein Straßenschild lehnt. «Drei Minuten, verstehst du? Drei Minuten seit der letzten Wehe! Vergiss die Post! Ich ruf jetzt ein Taxi!»
«Ja … Wahrscheinlich hast … du recht …»
Während der Lemming mit fiebrigen Fingern die Nummer in das Telefon tippt, ertönt – ganz leise zunächst, dann immer durchdringender – ein Brummen über den Häusern.
«Taxifunk, grüß Gott», meldet sich eine barsche weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung.
«Ja, grüß Sie auch, ich hätt gern …», der Lemming hält sich mit der freien Hand das rechte Ohr zu, «ich hätt gern einen Wagen, und zwar möglichst …», er dreht den Kopf und sieht nach oben, wo gerade ein Hubschrauber über der Dachkante auftaucht. «Möglichst rasch! Verstehen Sie? Können Sie mich … In die Berggasse! Nein, Berg! Berg wie Tal! Verdammt! Der Trampel hat aufg’legt!»
Ein kurzer, hilfloser Blick zu Klara, die in gekrümmter Haltung den Pfosten umklammert, dann wieder zum tiefblauen Himmel hinauf: Wie eine hässliche, stählerne Wolke hängt dort der Helikopter und verwandelt die Straße in eine dröhnende Höllenschlucht.
«Schleich dich!» Mit hektischen Gebärden springt der Lemming hoch, als könne er den Störenfried auf diese Art verscheuchen. «Weg! Verschwind doch! Schleich dich endlich!» Ein eleganter Schlenker, die Maschine dreht ab und gleitet Richtung Rathausplatz. Zitternd vor Wut drückt der Lemming die Wiederwahltaste. Presst den Hörer an sein Ohr und lauscht.
«Scheiße! Besetzt!»
Jetzt ist er es, der durchatmen muss. Verbindung trennen. Wiederwahl. Freizeichen.
«Hallo? Taxi? Hören Sie, es ist wirklich dringend! Ich brauche sofort einen Wagen in die … Wie? Ich kann Sie nicht … Sie können was? Sie können mich nicht … Verflucht!»
Abermals schiebt sich der Hubschrauber über die Häuserzeile. Der Pilot scheint Gefallen am neunten Bezirk gefunden zu haben.
«Maiaufmarsch!» Klara deutet nach oben; mit all ihrer Stimmkraft versucht sie, den Radau zu übertönen. Der Lemming kann trotzdem nur einzelne Wortfetzen hören. «Polizei … Überwachungshub … Ministerium …» Zwar begreift eine ferne, verborgene Kammer seines Gehirns, was Klara ihm sagen will, doch ändert das nichts an der Art der Gedanken, die sein Bewusstsein beherrschen: Mörser! Panzerfaust! Raketenwerfer!
Nichts, hat Stefan Zweig einmal geschrieben, macht einen wütender, als wenn man wehrlos ist gegen etwas, das man nicht fassen kann, gegen das, was von den Menschen kommt und doch nicht von einem einzelnen, dem man an die Gurgel fahren kann. Und so tut er nun etwas, der Lemming, das er Sekunden später schon bereuen wird. Er kann nicht anders, er muss...
Erscheint lt. Verlag | 5.10.2009 |
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Reihe/Serie | Privatdetektiv Lemming ermittelt |
Privatdetektiv Lemming ermittelt | |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Krimi • Leopold Wallisch • Schwarzer Humor • Wien |
ISBN-10 | 3-644-40351-1 / 3644403511 |
ISBN-13 | 978-3-644-40351-2 / 9783644403512 |
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