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Am Hang (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2009 | 1. Auflage
192 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-400083-1 (ISBN)
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'Markus Werner ist einer der ganz Großen ... Die Romane dieses Schriftstellers ... sind Gipfelpunkte der Literatur.' Helmut Böttiger, Frankfurter Rundschau Der junge Scheidungsanwalt Clarin freut sich auf ein ungestörtes Pfingstwochenende in seinem Tessiner Ferienhaus, wo er einen Aufsatz für eine Fachzeitschrift schreiben möchte. Am ersten Abend lernt er auf der Terrasse des Hotels Bellavista einen älteren Mann kennen, einen scheinbar Verwirrten, einen Verrückten vielleicht. Sie reden und debattieren bis tief in die Nacht, und allmählich erzählen sie sich auch ihre Geschichten und Liebesgeschichten. Was als stockendes Gespräch zwischen Zufallsbekannten begonnen hat, entwickelt eine fiebrige, beklemmende Dynamik, der sich weder Clarin noch der Leser entziehen kann. Es sind zweifelhafte Umstände, unter denen Loos seine geliebte, fast vergötterte Frau verloren hat, und dieser Verlust scheint ihm die Welt schwer und verhasst zu machen. Clarin hingegen lebt leicht und gern. - Ferner könnten zwei Menschen einander nicht sein. Wie nah sie sich sind, stellt sich erst spät heraus.

Markus Werner wurde 1944 in der Schweiz, in Eschlikon im Kanton Thurgau, geboren und starb 2016 in Schaffhausen. Er studierte in Zürich Germanistik, arbeitete bis 1990 als Lehrer und dann als freier Schriftsteller. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Er veröffentlichte die Romane ?Zündels Abgang?, ?Froschnacht?, ?Die kalte Schulter?, ?Bis bald?, ?Festland?, ?Der ägyptische Heinrich? und ?Am Hang?. Zu seinem Werk erschien der von Martin Ebel herausgegebene Band ?»Allein das Zögern ist human«?. Literaturpreise: Joseph-Breitbach-Preis (2000) Johann-Peter-Hebel-Preis (2002) Schillerpreis der Schweizerischen Schillerstiftung (2005) Bodensee-Literaturpreis der Stadt Überlingen (2006) ProLitteris Preis 2016

Markus Werner wurde 1944 in der Schweiz, in Eschlikon im Kanton Thurgau, geboren und starb 2016 in Schaffhausen. Er studierte in Zürich Germanistik, arbeitete bis 1990 als Lehrer und dann als freier Schriftsteller. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Er veröffentlichte die Romane ›Zündels Abgang‹, ›Froschnacht‹, ›Die kalte Schulter‹, ›Bis bald‹, ›Festland‹, ›Der ägyptische Heinrich‹ und ›Am Hang‹. Zu seinem Werk erschien der von Martin Ebel herausgegebene Band ›»Allein das Zögern ist human«‹. Literaturpreise: Joseph-Breitbach-Preis (2000) Johann-Peter-Hebel-Preis (2002) Schillerpreis der Schweizerischen Schillerstiftung (2005) Bodensee-Literaturpreis der Stadt Überlingen (2006) ProLitteris Preis 2016

[...] die Geschichte hat kein Ablaufdatum [...]

I


Alles dreht sich. Und alles dreht sich um ihn. Verrückterweise bin ich sogar versucht mir einzubilden, er schleiche in diesem Augenblick ums Haus – mit oder ohne Dolch. Dabei ist er ja abgereist, heißt es, und ich höre nur Grillen und aus der Ferne nächtliches Hundegebell.

Da fährt man über Pfingsten ins Tessin, um sich in Ruhe zu vertiefen in die Geschichte des Scheidungsrechts, und dann kommt einem dieser Unbekannte in die Quere, dieser Loos, und bringt es fertig, mich so aufzuwühlen, daß alle Sammlung hin ist. Den Rest hat mir Eva gegeben, drüben in Cademario, heute, ich bin in ziemlicher Verwirrung hierher zurückgefahren und habe die Juristen-Zeitung angerufen beziehungsweise, da ja Pfingstsonntag ist, den Redaktor privat, um mitzuteilen, daß ich mich außerstande sähe, den Beitrag termingerecht abzuliefern. Eine akute, von Fieber begleitete Stirnhöhlenentzündung lege mich lahm, habe ich gesagt und mir während des kurzen Gesprächs mit Daumen und Zeigefinger die Nase zugehalten. Man höre förmlich, hat der Redaktor gesagt, wie bös es um mich stehe.

Ja, eher bös. Zwar sind die Höhlen intakt, auch bin ich fieberfrei, und doch könnte ich das, was mir zusetzt, als eine Art Stirnfieber bezeichnen. Die Schläfen jedenfalls, auf die ich meine Finger presse, um den Tumult dahinter zu dämpfen, sind heiß, so als erzeugten die hektisch ums immer Gleiche kreisenden Gedanken Reibungswärme.

Schlafen wär schön jetzt, Loos abschütteln, Loos’ Sätze, die wie Fusseln haften, aus dem Gehirn ausbürsten. Er selber hat zu mir gesagt: Vergessen Sie das Vergessen nicht, sonst werden Sie verrückt. – Er muß es wissen. Er sagte aber auch, freilich in einem anderen Zusammenhang, von allen Seuchen der Jetztzeit sei die Vergeßlichkeit die schleichendste und also schlimmste.

Nun gut und so oder so, ich werde diesen Mann nicht los, indem ich mir befehle, nicht mehr an ihn zu denken. So würde er sich nur noch breiter machen und mein Bewußtsein noch irritierender verengen. Ich kenne das Phänomen, seit mich Andrea, es ist fünfzehn Jahre her und ich war zwanzig, wie einen Schirm hat stehenlassen. Inzwischen weiß ich eigentlich, wie man den Mechanismus unterläuft und wie mit einem Durcheinander von verfilzten Fäden methodisch zu verfahren wäre. Den Anfang suchen. Den Knäuel sorgsam entknoten, entwirren. Das Garn abwickeln, ohne Hast, und zugleich ordentlich und straff aufwickeln auf eine Spule.

Leicht gesagt, nicht wahr, mein lieber Loos? Dir jedenfalls ist das gründlich mißlungen, falls du es überhaupt versucht hast. Hast du? Oder bist du mit deinem Knäuel, deinem Garn schon immer so – wie soll ich sagen – so wunderlich umgegangen wie auf der Bellevue-Terrasse?

 

Am Freitag vor Pfingsten hat sich der Stau am Gotthard in Grenzen gehalten, ich bin schon gegen sechs hier angekommen, habe wie üblich zuerst den Wasserhaupthahn aufgedreht, die Sicherungsschalter gekippt, Boiler und Kühlschrank angestellt und mich dann kalt geduscht. Wie üblich habe ich die leeren Flaschen, die mein Anwaltskollege und Miteigentümer des Hauses an Ostern hier zurückgelassen hat, entsorgt. Ein Feuer im Kamin zu machen hat sich nicht aufgedrängt, der Juniabend war lau. So lau, daß ich um acht nochmals ins Auto stieg, von Agra hinunter nach Montagnola fuhr und vor dem Hotel Bellevue oder Bellavista parkte. Enttäuscht habe ich feststellen müssen, daß es auf der Terrasse keinen freien Tisch mehr gab, und da ich mich nicht in den verglasten Vorbau habe setzen wollen, blieb ich unschlüssig stehen, Ausschau haltend nach stühlerückenden Gästen. Da habe ich ihn entdeckt. Er saß als einziger allein, und zwar an einem Vierertisch in der linken Terrassenecke, ich habe mich aufgerafft, bin zu ihm hingegangen – er studierte die Speisekarte – und habe ihn auf italienisch gefragt, ob er gestatte. Er hat kurz aufgeschaut und nichts gesagt. Ich habe die Frage auf deutsch wiederholt und nach seinem abwesenden Nicken ihm gegenüber Platz genommen.

Es ist mir aufgefallen, daß er, während ich auf die Speisekarte wartete, von der seinigen von Zeit zu Zeit aufblickte, den Kopf etwas drehte und seine Augen ruhen ließ auf den Hügeln und Hängen jenseits des Tals. Sein Kopf war ein Schädel, groß und starkknochig, unbehaart bis auf einen dichten, aber geschorenen Halbkranz von Schläfe zu Schläfe und einen ebenso dichten und graumelierten Dreitagebart. Schwer schien der Kopf, schwer und massig der ganze Mann, aber die Masse wirkte nicht so, als schwappe sie über die Körpergrenze, sie wirkte kompakt. Ich schätzte ihn auf gut fünfzig. Als mir der Kellner die Karte brachte, bestellte der Fremde mit tiefer, leicht näselnder Stimme sein Essen. Eine Karaffe mit Weißwein stand bereits vor ihm, er griff jetzt nach seinem Glas und trank es, den Blick wieder auf die Hügel gerichtet, langsam aus. Von mir nahm er keine Notiz. Ich blätterte in der Karte, mein Zeigefinger blieb auf dem Filetto di coniglio stehn, und ich erschrak ein wenig. Bis zu diesem Moment hatte ich nicht eine Sekunde an Valerie gedacht und daran, daß wir beide hier vor längerer Zeit Kaninchenfilet gegessen hatten, Valerie noch munter, ich eher würgend und wortarm, da innerlich damit beschäftigt, mir schonende Sätze zurechtzulegen, ich wollte mich trennen von ihr.

Die Sonne sank, und während der See unter uns schon an Farbe verlor, funkelte der Wein in der Karaffe des Fremden. Welch ein Goldgelb, hörte ich mich sagen, darf ich fragen, was Sie trinken? – Er wandte sich mir zu, verzögert, und schaute mich so an, als nähme er mich jetzt erst wahr. Nicht abweisend, nicht unfreundlich, nur überrascht sah er mich an mit hellgrauen Augen, unter denen, es ist mir sofort aufgefallen, Schatten lagen. Es waren keine Übermüdungsringe und keine Tränensäcke, es war die dunkle, wie hingehauchte Tönung der Haut, die ich bisher fast nur an indischen Menschen beobachtet hatte. Entschuldigung, sagte der Fremde, was haben Sie gefragt? – Ich will Sie nicht stören, sagte ich, ich habe nach dem Wein, den Sie trinken, gefragt. – Es ist ein Weißwein, sagte er. Obwohl ich nicht unbedingt annahm, daß er mich auf den Arm nehmen wollte, wehrte ich mich und sagte: Das sehe ich irgendwie. – Wie bitte? fragte er. Ich biß mir auf die Lippen und fragte, ob er mir seinen Wein empfehlen könne. Er überlegte eine Weile und sagte dann: Wir haben ihn immer als stimmig empfunden.

Ich bestellte Saltimbocca mit Reis, so wie mein Gegenüber, und einen halben Weißen. Mein Gegenüber rauchte abgewandt. Ich schloß nicht aus, daß wir uns beide nur halb verstanden hatten, von Stille konnte nämlich keine Rede sein an diesem Ort. Nicht nur umgab uns Geklapper und Stimmengewirr, es landete und startete unten in Agno von Zeit zu Zeit auch ein Flugzeug mit üblichem Gedröhn, und selbst der ferne Autolärm im Tal, vom See verstärkt und reflektiert, war hier oben noch als Rauschen vernehmbar. Als mein Wein kam, nutzte ich die Gelegenheit, um mich dem Fremden erneut zu nähern – ich bin ein kontaktfreudiger Mensch und finde es unnatürlich, zu zweit an einem Tisch zu sitzen und zu schweigen –, ich hob mein Glas und sagte: Zum Wohl, mein Name ist Clarin. – Er zuckte zusammen, so daß die Zigarettenasche, die abzustreifen er vergessen hatte, auf seine Serviette fiel. Er griff mit der linken Hand nach seinem Glas und sagte: Freut mich. – Aber darauf, sich seinerseits vorzustellen, schien er verzichten zu wollen. Ich sah, daß er am Ringfinger zwei Ringe trug, schlichte Eheringe, und folgerte daraus, daß er wahrscheinlich Witwer war. Ein Anhaltspunkt immerhin, sagte ich mir, wenn er sich sonst schon nicht erschließen läßt wie andere Menschen, die man nach einer Viertelstunde, auch ohne mit ihnen zu reden, ein wenig einordnen kann, zumindest in die Rubrik sympathisch oder unsympathisch. Doch selbst in dieser Hinsicht kam ich zu keinem Urteil. Ich wußte nur: er interessiert mich. Ich mußte wieder an Valerie denken, an ihre Undurchsichtigkeit, die mich am Anfang fasziniert und gegen Ende abgestoßen hatte. Da fragte mich mein Gegenüber: Wie finden Sie ihn? – Nun zuckte ich zusammen. Den Wein? fragte ich. Nein, sagte er, den Blick, den Ausblick. – Ich sagte, ich fände ihn schön, gerade auch jetzt, wo die Sonne untergegangen sei und das Panorama gegenüber nur noch aus dunklen Blautönen bestehe, im übrigen sei mir die Landschaft seit Jahren vertraut. Er nickte befriedigt, er sagte: Seit Jahren vertraut – das ist eine einnehmende Wendung, und was die Blautöne angeht: Sie sind nicht etwa Maler? – Nein, sagte ich, ich bin Jurist, Anwalt, und Sie? – So, sagte er mit einer leichten und, wie mir schien, fast verächtlichen Dehnung, auf die Gegenfrage ging er nicht ein, er hatte sie wohl überhört, weil eben das Essen gebracht wurde.

Bevor er zu Messer und Gabel griff, senkte er den Kopf und schloß ganz kurz die Augen. Natürlich, dachte ich, er ist ein Pfarrer, schwarze Hose, schwarze Jacke, ich hätte früher darauf kommen können. – Er aß langsam und in sich gekehrt, ich sprach ihn trotzdem wieder an. Heute, als ich im Stau am Gotthard stand, sagte ich, ist mir plötzlich eingefallen, daß ich vergessen habe, was Pfingsten bedeutet, ich meine, was an Pfingsten gefeiert wird, ist das nicht peinlich? – Er hörte auf zu kauen, schluckte dann und sagte: Über Staumeldungen freue ich mich stets besonders herzlich, an Pfingsten aber züngeln Flammen. – Er aß weiter, während ich, im Wissen, daß man auf Spinner eingehen muß, nach einer Pause fragte: Wo züngeln sie denn, die Flammen? – Er ließ sich Zeit, schenkte sich Wein nach, trank. Sie züngeln, sagte er dann, über den Häuptern der zwölf Apostel, und sie symbolisieren den Heiligen Geist, der...

Erscheint lt. Verlag 5.10.2009
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anspruchsvolle Literatur • Liebe • Nähe • Schweiz • Tessin • Valentinstag • Verlust
ISBN-10 3-10-400083-2 / 3104000832
ISBN-13 978-3-10-400083-1 / 9783104000831
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