Blaue Wunder (eBook)
256 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-20131-6 (ISBN)
Ildikó von Kürthy ist Journalistin und eine der meistgelesenen deutschen Schriftstellerinnen. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg. Ihre Bücher sind Nummer-1-Bestseller, wurden mehr als sieben Millionen Mal verkauft und in 21 Sprachen übersetzt. Ildikó von Kürthy ist Gastgeberin des Podcasts «Frauenstimmen», sie berichtet auf Facebook und Instagram über Wichtiges und Nichtiges und schreibt einen regelmäßigen Newsletter. Neuigkeiten und aktuelle Tourdaten auf: www.ildikovonkuerthy.de
Ildikó von Kürthy ist Journalistin und eine der meistgelesenen deutschen Schriftstellerinnen. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg. Ihre Bücher sind Nummer-1-Bestseller, wurden mehr als sieben Millionen Mal verkauft und in 21 Sprachen übersetzt. Ildikó von Kürthy ist Gastgeberin des Podcasts «Frauenstimmen», sie berichtet auf Facebook und Instagram über Wichtiges und Nichtiges und schreibt einen regelmäßigen Newsletter. Neuigkeiten und aktuelle Tourdaten auf: www.ildikovonkuerthy.de
«Warum den Mann, den man liebt, gleich zu Anfang überfordern?»
Entweder mache ich mir Sorgen oder was zu essen. So war das eigentlich immer in meinem Leben. Appetit, außer auf alles, was gesund ist, und Probleme, meist in Form von Männern, die Sachen sagen wie: «Elli, es liegt nicht an dir, ich bin einfach noch nicht bereit für eine neue feste Beziehung» – das waren jahrelang meine zuverlässigsten Weggefährten. Jetzt haben mich diese beiden Begleiter urplötzlich verlassen. Ich habe keinen Hunger und keine Probleme mehr. Schwer zu glauben.
Ich betrachte wohlwollend meine Oberschenkel und die fremde Stadt, die mir zu Füßen liegt. Wahrscheinlich ist es schon nach zehn und eigentlich zu kalt, um hier draußen im Dunkeln zu sitzen. Aber ich kann nicht genug bekommen von dem Anblick. Keine Stadt noch meine Schenkel haben jemals besser ausgesehen. Der Blick von hier oben reicht bis zur Alster. Die Baumkronen enden weit unter meinem exklusiven Hochsitz, und ich kann in helle, edle Wohnungen mit Parkettboden und indirekter Beleuchtung schauen. Über mir gibt’s nur noch Himmel. Und eigentlich, wenn ich an dieser Stelle mal so rührselig sein darf, ist für mich derzeit überall Himmel.
Vor vierzehn Tagen, sieben Stunden und vierunddreißig Minuten hat sich mein Leben verändert. Das weiß ich deshalb so genau, weil meine Uhr bei dem Unfall stehen geblieben ist. Und bei dem Unfall habe ich mich verliebt. In einen Mann mit rötlichen Haaren und Dachterrasse. Unbekanntes Terrain für mich, das eine wie das andere. Vor schierer Aufregung habe ich in kürzester Zeit massiv an Umfang verloren, habe Oberschenkel wie zuletzt als Sechzehnjährige, als ich noch regelmäßig Sport trieb, und einen Körperfettanteil wie zu Zeiten, als man den noch gar nicht messen konnte. Alles ist gut. Ich bin glücklich. Und das ist mir schon lange nicht mehr passiert.
«Hast du einen besonderen Wunsch?»
Ich tauche träge aus meinen Dachterrassen-Gedanken auf.
«Mmmmh, ich bin gerade so glücklich. Irgendwas mit möglichst vielen Toten wäre schön.»
«Elisabeth, du bist wirklich seltsam. Aber großartig seltsam. Bin in zehn Minuten wieder da. Bis gleich!»
Die Tür fällt ins Schloss, und ich lausche seinen Schritten im Treppenhaus hinterher.
Niemand, außer meinem Erdkundelehrer, hat mich je ungestraft Elisabeth genannt. Aber auf einmal gefällt mir sogar mein eigener Name. Auf einmal gefällt mir alles. Ich bin eine völlig verrückte Verliebte, und ich denke, dümmlich vor mich hin lächelnd, an die Armee dunkelblauer und dunkelgrauer Pullunder, die in seinem Schrank hängt.
Ich konnte Pullunder noch nie leiden. Ich finde, darin sieht jeder Mann aus wie der Bundespräsident, wenn er morgens im Frühstücksraum von Schloss Bellevue zusammen mit seiner Gemahlin für den Fotografen einer Frauenzeitschrift so tut, als schenke er sich gerade Kaffee nach. Mit Martin und seinen Pullundern ist das aber komischerweise ganz anders. Sie verleihen ihm zwar eine seriöse Ausstrahlung, wirken aber dennoch an ihm wie Reizwäsche, erregend und seine natürliche Männlichkeit hervorhebend.
Oder nehmen wir sein Autokennzeichen: HH-WC 2. Das ist natürlich völlig indiskutabel. Und die Tatsache, dass sein Vater mit HH-WC 1 rumfährt, macht die Sache nur noch schlimmer. Aber bei meinem Liebsten empfinde ich diese Autonummer als überlegene, selbstironische Anspielung auf seine berufliche Tätigkeit, von der er sich dadurch liebevoll distanziert. Martin ist Juniorchef eines Sanitärgroßhandels. Sein Vater ist, durch das Kennzeichen WC 1 unschwer zu erahnen, der Seniorchef. Tja, mein neuer Freund ist Herr über Mischbatterien und Toilettenspülungen.
Was soll ich sagen? Auch kein Beruf, den ich in der Spalte «Welcher Arbeit sollte Ihr Traummann nachgehen?» eingetragen hätte. Aber wie egal einem so was alles wird, wenn das Herz vor Liebesglück weich und milde gestimmt ist. Mit einem Mal überlegst du, warum dir nicht längst aufgefallen ist, wie faszinierend das Sanitärbedarfgewerbe im Grunde genommen ist. Und du fragst dich, warum es dir bisher entgehen konnte, wie zauberhaft Haare mit einem leichten Rotstich im Licht der Morgensonne glänzen.
Mir ist völlig klar, dass ich den Verstand verloren habe. Natürlich habe auch ich in Frauenzeitschriften gelernt, dass die erste Phase der Verliebtheit Serotoninmangel im Gehirn verursacht. Dass Wahrnehmung und Verhalten gestört sind und die Symptome insgesamt einer ernsthaften psychischen Störung ähneln. Aber mir ist egal, ob ich krank bin, wenn die Begleiterscheinungen – an dieser Stelle sei das Zauberwort Appetitlosigkeit erwähnt – allesamt so attraktiv sind. Ich meine, ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal gesagt habe: «Ich bin satt.» Schon gar nicht, während ich vor einem Teller Lasagne gesessen habe. Wann bin ich das letzte Mal lächelnd aufgewacht? Wann habe ich das letzte Mal auf dem Klo gesungen? Wann hat eine Tafel Vollmilchschokolade mit ganzen Nüssen in meiner Gegenwart länger überlebt als ein paar Stunden? Das sind doch Beschwerden, die man möglichst ein Leben lang behalten will!
Ich sollte mir eine Decke holen, aber ich bin zu faul und zu glücklich, um jetzt die Treppe zum Wohnzimmer runterzusteigen. Nehme lieber noch ein Schlückchen Wein, bestimmt ein guter.
Ich stelle mir vor, wie Martin den Abendrothsweg entlanggeht. Fünfhundert Meter bis zur Kreuzung. Wie er die sechsspurige Hoheluftchaussee überquert. Wie er die Videothek betritt und keine Ahnung hat, dass mein Zimmer direkt darüber liegt. Warum hätte ich ihm davon erzählen sollen? Diese Bleibe ist sowieso nur eine Übergangslösung, wie ich hoffe. Und Martin hat nie nachgefragt. Als wir uns kennen lernten, hatte ich meine genaue Adresse nicht parat, und als wir uns besser kennen lernten, schämte ich mich für meine genaue Adresse ein bisschen.
«Ich wohne vorübergehend bei einer Freundin, bis ich was Eigenes habe.» Damit hatte er sich zufrieden gegeben. Dass es sich bei der Freundin um einen untersetzten und massiv neurotisch veranlagten halbtürkischen Homosexuellen handelt, hatte ich vorsichtshalber verschwiegen. Auch hatte ich nicht erwähnt, dass ich nur sechshundert Meter Luftlinie von Martins Dachgeschosswohnung entfernt lebe, aber dennoch in einer anderen Welt, nämlich auf achtzehn Quadratmetern, im ersten Stock. Mein Zimmer ist das nach vorne raus, mit Doppelverglasung und Aussicht auf die zwei Busspuren und die Aral-Tankstelle gegenüber.
Warum den Mann, den man liebt, gleich zu Anfang überfordern? Man erzählt ja auch nicht beim ersten Date, dass man einen eingewachsenen Zehennagel hat, vier Jahre vergebliche Therapieerfahrung und einen Vetter, der bei Jeanette Biedermann Schlagzeuger ist. Solcherlei die knospende Beziehung unnötig belastenden Informationen muss man behutsam dosieren. Außerdem hege ich die heftige Hoffnung, dass meine Geheimniskrämerei in absehbarer Zeit von ganz allein unnötig werden wird.
Nicht, dass ich diese Hoffnung zu diesem Zeitpunkt irgendeinem Menschen gegenüber laut ausgesprochen hätte, aber für mich stellen sich die Tatsachen derzeit folgendermaßen dar: Unsere Liebe ist groß und seine Wohnung auch, und in den letzten zwei Wochen war ich sowieso kaum in meinem eigenen Zimmer. Natürlich habe ich gelesen, dass man eine junge Beziehung nicht mit zu hohen Erwartungen überfrachten soll. Aber was soll ich machen? Soll ich die Lässige spielen, die an ihrer Unabhängigkeit und ihrem Beruf hängt? Die die ganze Sache lieber langsam angehen lassen und sich zunächst allein durchschlagen möchte? Soll ich, wenn er mir anbietet, bei ihm einzuziehen, sagen: «Danke, Liebling, aber ich will mich nicht ins gemachte Nest setzen»?
Verdammt, was ist so schlimm an gemachten Nestern? Warum darf man es nicht gut haben, ohne dass man es vorher schlecht hatte? Ich habe keine Lust auf Umwege. Warum achtzehn Stunden Wehen aushalten, wenn mit einem Kaiserschnitt alles in dreißig Minuten erledigt ist? Ist doch wahr. Mich hat der Blitz getroffen. Ich will alles überstürzen. Ich will unvernünftig sein. Ehrlich, ich würde nichts lieber tun als auf dieser Dachterrasse bis an mein Lebensende Solitärpfanzen in Terrakottagefäße topfen und umschulen von Reisebürokauffrau auf Spätgebärende.
Ich schaue nochmal in die Weite mit einem Blick, wie ich ihn von den Hauptdarstellerinnen aus ZDF-Filmen kenne, die ‹Wagnis des Begehrens› oder ‹Sommerliebe an der Küste Cornwalls› heißen, und nehme mein Tagebuch vom Tisch. Eigentlich könnte ich die Zeit nutzen, um ein paar Zeilen zu schreiben. Ich habe früher nie Tagebuch geführt. Ehrlich gesagt, habe ich die Tagebuchschreiberinnen aus meiner Klasse sogar verachtet. Vielleicht, denke ich heute, habe ich sie auch beneidet, weil sie ganz anders waren als ich. Ich wollte im Grunde genommen nämlich auch ganz gerne ganz anders sein als ich.
Tagebuchmädchen, das waren die, die geflochtene Zöpfe und Kniestrümpfe trugen, die Glanzbilder auf dem Pausenhof tauschten, erröteten, wenn eine Lehrerin sie direkt ansprach, und sich ihre Poesiealben untereinander ausliehen, in die sie dann reinschrieben:
«Sei wie das Veilchen im Moose, sittsam, bescheiden und rein,
und nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein.»
Ein einziges Mal war auch mir ein Poesiealbum ausgehändigt worden. «Könntest du mir übers Wochenende was reinschreiben?», bat mich schüchtern Monika Gassmann aus der Parallelklasse. Ich fühlte mich wahnsinnig geehrt, gab mir entsprechend Mühe und malte auf mehreren Doppelseiten das, was mich gerade am meisten...
Erscheint lt. Verlag | 5.10.2009 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 30+ • Beziehung • Frau • Frauenroman • Hamburg • Konkurrenz • Liebe • Liebeskummer • Partner • Rivalität • Trennung |
ISBN-10 | 3-644-20131-5 / 3644201315 |
ISBN-13 | 978-3-644-20131-6 / 9783644201316 |
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