Der Fotograf (eBook)
688 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-40016-6 (ISBN)
John Katzenbach, geboren 1950, war ursprünglich Gerichtsreporter für den »Miami Herald« und die »Miami News«. Bei Droemer Knaur sind inzwischen zahlreiche Kriminalromane von ihm erschienen, darunter die Bestseller »Die Anstalt«, »Der Patient«, »Der Professor« und »Der Bruder'. Zweimal war Katzenbach für den Edgar Award, den renommiertesten Krimipreis der USA, nominiert. Er lebt mit seiner Familie in Amherst im Westen des US-Bundesstaates Massachusetts.Weitere Informationen unter www.john-katzenbach.de und www.johnkatzenbach.com
John Katzenbach, geboren 1950, war ursprünglich Gerichtsreporter für den »Miami Herald« und die »Miami News«. Bei Droemer Knaur sind inzwischen zahlreiche Kriminalromane von ihm erschienen, darunter die Bestseller »Die Anstalt«, »Der Patient«, »Der Professor« und »Der Bruder". Zweimal war Katzenbach für den Edgar Award, den renommiertesten Krimipreis der USA, nominiert. Er lebt mit seiner Familie in Amherst im Westen des US-Bundesstaates Massachusetts. Weitere Informationen unter www.john-katzenbach.de und www.johnkatzenbach.com
1. Kapitel
Die Gründe für Detective Barrens Obsession
1.
Sie träumte schlecht.
Sie sah ein treibendes Boot, zuerst von fern, dann plötzlich aus der Nähe, bis sie merkte, dass sie selbst in diesem Boot saß und ringsum von Wasser eingeschlossen war. Zuerst empfand sie Panik; sie wollte nach jemandem suchen und ihm klarmachen, dass sie nicht schwimmen konnte, doch jedes Mal, wenn sie sich umsah, verlor sie fast den Halt, die Jolle hob sich auf dem bewegten Wasser und verharrte einen Moment lang auf einem Wellenkamm, bevor sie beängstigend tief hinuntertauchte. Als sie sich mit aller Macht am Mast festklammerte, schrillte plötzlich eine Sirene, und sie wusste, dass dies ein Leck im Rumpf signalisierte und dass ihr jeden Moment das Wasser bis zu den Knöcheln stehen würde. Die Sirene dröhnte weiter, und sie machte den Mund auf, um verzweifelt um Hilfe zu rufen, während sie sich auf dem schwankenden Boden mühsam aufrecht hielt.
Im Traum legte sich die Jolle plötzlich schräg, und sie herrschte ihr schlafendes Selbst an, Wach auf! Wach auf! Bring dich in Sicherheit!
Genau das tat sie auch.
Sie schnappte nach Luft, riss sich aus dem Halbschlaf und saß im nächsten Moment senkrecht, während sie mit der rechten Hand das Bettgestell packte – ein fester Halt inmitten der diffusen Ängste aus ihrem Traum. Erst jetzt merkte sie, dass das Telefon klingelte.
Sie fluchte, rieb sich die Augen und fand den Apparat ein Stück weit entfernt auf dem Boden. Mit einem Räuspern meldete sie sich: »Detective Barren. Was gibt’s?«
Ihr blieb keine Zeit, sich zu fragen, was passiert sein könnte. Sie lebte allein – kein Ehemann, keine Kinder, die Eltern längst tot, und so konnte sie ein Anruf mitten in der Nacht nicht so leicht wie die meisten Menschen, die beim ersten Klingeln im Dunkeln eine schlimme Nachricht befürchtet hätten, in Angst und Schrecken versetzen. Da sich Verbrechen nicht an die Bürozeiten hielten, musste eine Kripobeamtin damit rechnen, nachts aus dem Bett geholt zu werden. Deshalb vermutete sie, dass im Zuge einer Ermittlung ihr fachliches Können als Kriminaltechnikerin gefragt war.
»Merce? Haben Sie schon geschlafen?«
»Ja, aber macht nichts. Wer ist da bitte?«
»Merce, Robert Wills vom Morddezernat, ich …« Er brach mitten im Satz ab. Detective Barren wartete.
»Wie kann ich helfen?«, fragte sie.
»Merce, es tut mir sehr leid, dass ich es Ihnen sagen muss …«
Wie in einer Momentaufnahme sah sie Bob Wills an seinem Schreibtisch im Morddezernat sitzen. Es war ein karges, nüchternes Großraumbüro im grellen Neonlicht, mit Aktenschränken aus Metall und orange leuchtenden Schreibtischen, deren Signalfarbe auf ihre Weise die entsetzlichen Geschichten spiegelte, die sie in den Gesprächen der Kollegen untereinander oder auch bei Zeugenbefragungen anhören mussten.
»Was?«
Für einen Moment war sie seltsam erregt – im Gegensatz zu der hilflosen Panik in ihrem Alptraum spürte sie jetzt so etwas wie einen Nervenkitzel, eine gespannte Erwartung. Als ihr Anrufer weiterhin schwieg, breitete sich ein Vakuum in ihrem Magen aus, dann ein flaues Gefühl. »Worum geht es?«, fragte sie und merkte, wie sich die neue Empfindung in ihrer Stimme niederschlug.
»Merce, Sie haben eine Nichte …«
»Ja, verdammt. Susan Lewis. Sie studiert an der Uni. Was ist mit ihr? Hatte sie einen Unfall?«
In diesem Moment traf sie die Erkenntnis mit aller Wucht: Bob Wills vom Morddezernat. Mord. Mord. Mord. Und sie wusste, worum es bei dem Anruf ging.
»Es tut mir leid«, wiederholte Wills, doch seine Stimme kam wie aus der Ferne, und einen Moment lang wünschte sie sich in ihren Traum zurück.
Detective Mercedes Barren zog sich rasch an und machte sich durch die spätsommerliche Nacht zu der Adresse auf den Weg, die eine fremde Hand notiert zu haben schien; obwohl ihr Herz raste, hatte diese Hand sorgfältig auf dem Block Zahlen und Buchstaben aneinandergereiht. Auch das Gespräch mit dem Kollegen vom Morddezernat hatte jemand anders beendet. Währenddessen hatte Merce miterlebt, wie jemand mit ihrer eigenen, ausdruckslos gepressten Stimme nach den näheren Umständen, nach dem Ermittlungsstand, den Namen der mit dem Fall befassten Beamten, nach dem vermutlichen Tathergang und ersten Theorien fragte, die man verfolgen wollte. Nach Zeugenaussagen. Beweismaterial. Hartnäckig widersetzte sich dieser Jemand Detective Wills Ausweichmanövern und begriff sehr schnell, dass der zwar nicht zuständig war, ihr aber sagen konnte, was sie wissen wollte. Dabei schrie alles in ihr auf, und es kostete sie die größte Kraft, ihre Qual zu unterdrücken, die sich in einem lauten Schluchzen Luft machen wollte.
Sie gestattete sich nicht einen einzigen Gedanken an ihre Nichte.
Einmal wurde sie auf ihrem Weg durchs Stadtzentrum eine Sekunde lang von den Scheinwerfern eines Sattelschleppers geblendet, der mit wildem Hupkonzert gefährlich nah aufgefahren war, und sie ertappte sich dabei, wie sie die Angst vor einer Kollision durch die Erinnerung an ihre letzte Begegnung mit Susan vor zwei Wochen verdrängte. Sie hatten sich am Pool des kleinen Apartmenthauses gesonnt, in dem Detective Barren wohnte, und Susan hatte ihren Dienstrevolver entdeckt, der sich etwas unpassend zwischen Handtüchern, Sonnenmilch, einer Frisbee-Scheibe und einem Taschenbuchroman im Strandbeutel befand. Detective Barren musste an die Reaktion des Teenagers denken: Sie hatte die Waffe als abstoßend bezeichnet, was es in den Augen ihrer Besitzerin präzise traf.
»Wieso musst du sie überhaupt mitschleppen?«
»Weil wir genau genommen nie außer Dienst sind. Falls mir ein Verbrechen unter die Augen kommt, muss ich wie eine Polizistin reagieren.«
»Aber ich dachte, das brauchst du jetzt nicht mehr, ich meine, seit …«
»Stimmt. Seit der Schießerei nicht mehr. Nein, ich bin jetzt eine ziemlich gezähmte Polizistin. Bis ich zu einem Verbrechen gerufen werde, ist alles schon gelaufen.«
»Igitt. Leichen, oder?«
»Richtig. Igitt ist ebenfalls richtig.«
Sie hatten gelacht.
»Wär schon komisch«, hatte Susan gemeint.
»Was wäre komisch?«
»Von einer Polizistin im Bikini verhaftet zu werden.«
Sie hatten wieder gelacht. Ihre Nichte war aufgestanden und kopfüber in das blaue Wasser des Pools gesprungen. Detective Barren hatte Susan dabei beobachtet, wie sie mühelos unter Wasser bis zum gegenüberliegenden Beckenrand glitt, dann, ohne einmal aufzutauchen, wendete und wieder zum Ausgangspunkt zurückschwamm. Der Anflug von Eifersucht auf ihre Jugend war ebenso schnell verflogen, wie er gekommen war; schließlich war sie selbst auch ganz gut in Form.
Susan hatte die Arme auf dem Beckenrand verschränkt und ihre Tante gefragt: »Merce, wie kommt es eigentlich, dass du direkt am Meer wohnst und nicht schwimmen kannst?«
»Das bleibt mein süßes Geheimnis«, hatte sie erwidert.
»Kann ich nicht nachvollziehen«, hatte Susan erklärt, während sie aus dem Pool stieg und das Wasser von ihrem schlanken Körper floss. »Habe ich dir übrigens erzählt, dass ich diesen Herbst Meereskunde als Hauptfach wähle? Mit Sicherheit glitschige Fische.« Sie hatte gelacht. »Stachelige Krustentiere. Riesige Säuger. Jacques Cousteau, jetzt komm ich.«
»Das ist großartig«, hatte die Polizistin geantwortet. »Bei deiner Liebe zum Wasser.«
»Allerdings. Oh for a life of the sun, the sand, the deep blue sea and fish guts for me«, hatte Susan geträllert.
Wieder hatten sie gelacht.
Susan hatte immer gelacht, dachte die Polizistin und gab Gas. Sie tauchte in das Lichtermeer des Stadtzentrums ein und bahnte sich ihren Weg zwischen den Hochhäusern, die in den südlichen Himmel ragten. Obwohl ihr ein heißer Stich mitten durchs Herz ging, so dass ihr die Luft wegblieb, zwang sich Detective Barren, konzentriert zu fahren und sämtliche Erinnerungen aus dem Kopf zu verbannen, um klar denken zu können: Sieh dir alles genau an, mach dich gleich auf die Suche. Sie musste nur darauf achten, den Anblick, der sie erwartete, streng von ihren Erinnerungen zu trennen.
Detective Barren bog von der Route I ab und gelangte in eine Wohngegend. Es war spät, schon weit nach Mitternacht, und bis zum Morgengrauen blieben nur wenige Stunden. Es herrschte wenig Verkehr, und sie war schnell gefahren – getrieben von dem Gefühl der außerordentlichen Dringlichkeit, das einen gewaltsamen Tod stets begleitet. Wenige Kilometer vor dem Ziel drosselte sie jedoch unvermittelt das Tempo, bis ihr unscheinbarer Mittelklassewagen nur noch im Schneckentempo kroch. Sie suchte die Reihen der gepflegten, gutbürgerlichen Häuser nach Lebenszeichen ab. Die Straßen waren leer, die Häuser dunkel. Hier und da brannte in einem Zimmer noch Licht, und Merce fragte sich, welches Buch oder Fernsehprogramm, welcher Streit oder welche Sorgen den Bewohner vom Schlaf abhielten. Am liebsten hätte sie vor einem dieser Häuser angehalten, geklingelt und gefragt: »Haben Sie Kummer? Quält Sie eine Erinnerung, sind Sie deshalb noch wach? Möchten Sie vielleicht darüber reden?«
Sie bog in die Old Cutler Road ein und wusste, dass der Eingang zum Park nach wenigen hundert Metern kommen musste. Das Dunkel schien im Laub zu nisten; große Teebäume und Weiden versteckten zwischen ihren Blättern und Zweigen etwas von der Nacht. Wie Arme streckten sie ihre Äste über die Straße. Detective Barren hatte plötzlich das unheimliche Gefühl, vollkommen allein auf der Welt zu sein – die einzige Überlebende, die ziellos durch die Finsternis irrte. Die verblassten Buchstaben auf dem kleinen...
Erscheint lt. Verlag | 31.12.2009 |
---|---|
Übersetzer | Anke Kreutzer |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | amerikanische Psychothriller • Anne Hampton • Campus-Killer • detective • Dokumentation • Doug Jeffers • Entführung • John Katzenbach Bücher • Kriegsfotograf • Martin Jeffers • Mercedes Barren • Miami • Morde • Polizei Krimis/Thriller • Psychiater • Psychopath • Psychothriller • Serienkiller • Studentin • thriller entführung • Thriller Serienkiller • Thriller und Psychothriller • Thriller USA |
ISBN-10 | 3-426-40016-2 / 3426400162 |
ISBN-13 | 978-3-426-40016-6 / 9783426400166 |
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