Um unsere Webseiten für Sie optimal zu gestalten und fortlaufend zu verbessern, verwenden wir Cookies. Durch Bestätigen des Buttons »Akzeptieren« stimmen Sie der Verwendung zu. Über den Button »Einstellungen« können Sie auswählen, welche Cookies Sie zulassen wollen.

AkzeptierenEinstellungen

Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein (eBook)

Eine Erzählung
eBook Download: EPUB
2009 | 1. Auflage
144 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-400039-8 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
»Diese Erzählung greift einige Themen und Begebenheiten auf, die meine Kindheit für mich bereithielt. Die Oberhand beim Schreiben hatte allerdings die Phantasie.« André Heller Paul wünscht sich nichts dringlicher, als dem erzkatholischen Internat zu entfliehen, auf und davon, um endlich ein solch eleganter und freier Mensch zu werden wie sein skurriler Onkel aus New York. Als Pauls Vater, der Süßwarenfabrikant und Kommerzialrat Roman Silberstein, zu Tode kommt, darf der Junge in die Familie zurückkehren. Die jüdischen Onkel aus Übersee sind zur Beerdigung angereist und übertreffen einander im Schildern von Anekdoten aus dem merkwürdigen Leben der Silbersteins. Aus dieser schillernden Gesellschaft des Wiener Großbürgertums, in der die versunkene k. u. k. Welt weiterlebt, siedelt Paul über in das selbstgeschaffene Reich des Unsichtbaren, der vorüberhuschenden Träume und fernen Zukunftsvisionen.

André Heller wurde 1947 in Wien geboren. Er publizierte verschiedene Bücher, darunter die Prosabände »Die Ernte der Schlaflosigkeit in Wien« und »Auf und davon«, es folgten der Roman »Schattentaucher«, der Erzählungsband »Schlamassel« und »Als ich ein Hund war. Liebesgeschichten und weitere rätselhafte Vorfälle«. Der Autor lebt heute in Wien, am Gardasee und in Marokko. Mehr zum Künstler unter: www.andreheller.com

André Heller wurde 1947 in Wien geboren. Er publizierte verschiedene Bücher, darunter die Prosabände »Die Ernte der Schlaflosigkeit in Wien« und »Auf und davon«, es folgten der Roman »Schattentaucher«, der Erzählungsband »Schlamassel« und »Als ich ein Hund war. Liebesgeschichten und weitere rätselhafte Vorfälle«. Der Autor lebt heute in Wien, am Gardasee und in Marokko. Mehr zum Künstler unter: www.andreheller.com

1


Zuerst starb der Papst. Das war eine ernste Angelegenheit. Der Generalpräfekt versammelte um sechs Uhr dreißig vor der Frühmesse alle Präfekten, Vizepräfekten und Zöglinge im ungeheizten Theatersaal und verkündete: »Der Heilige Vater ist tot. Jetzt sind wir Waisen. Lasst uns für seine Seele beten, und dass uns die Dreifaltigkeit Trost gewähre.« Einige Mitschüler waren klug genug zu weinen. Sie erhielten nach der Trauerveranstaltung von der Schwester Immaculata als Anerkennung ein Stollwerck-Bonbon. Die Schwester war die einzige sichtbare, lebendige Frau im Kollegium. Sie leitete die Krankenabteilung. Dort roch es nach Wundbenzin und Kampfer. Genauso, dachte ich, muss es zuletzt im Schlafzimmer des Papstes gerochen haben. Pius XII. – was für ein schöner Name. Eugenio Pacelli klang noch schöner. Aber so hatte er nur bis zu seiner Wahl als Nachfolger Petri heißen dürfen. Dass die Päpste nicht aus Fleisch, Knochen und Blut bestanden, sondern aus Stein, wusste ich, denn Jesus hatte seinen Stellvertreter mit den Worten ernannt: »Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen.« Aber rätselhaft blieb, wieso Felsen sterben können und warum ich deshalb jetzt ein Waisenkind sein sollte. Offenbar gab es für jeden von uns einen heiligen Vater und einen unheiligen. Den unheiligen nannte man auch den leiblichen. Es zählt zu den nachhaltigsten Traurigkeiten meiner Kindheit, dass Mutter mich nicht unbefleckt empfangen hat. Was besaß die Mutter Gottes, dachte ich damals, das meiner Mutter fehlte? Sie konnte doch kein seideneres Haar haben, keine größere Sanftmut und kein einnehmenderes Lachen. Dass derjenige, der Mutter befleckte, nach der himmlischen Logik als unheilig galt, war zu verstehen, aber nicht ganz. Denn wie wäre ich wohl in diese Welt gekommen, wenn Vater das Beflecken nicht gelungen wäre, und wer hätte dann dem Paul Kaltner die Ohrfeige gegeben, die er von mir im Streit bekam und die ihn schlagartig von seinem heftigen Stottern befreite – von anderen Wundern und Heldentaten, die von mir wahrscheinlich in Zukunft noch zu erwarten waren, ganz zu schweigen.

 

Die zwei Stunden Freizeit nach dem Mittagessen entfielen. Die Präfekten berichteten stattdessen den Schülern aller Stufen vom Leben Pius’ XII.: dass er ein nobler Italiener war, der so ausgezeichnet Deutsch sprach, dass es sogar Herrn Hitler imponiert hatte, und dass er von Anfang an aus nichts als Gutem und Güte bestand. »Schaut euch auf dieser Fotografie seine Hände an. Wie von Dürer. Was der Pontifex berührt hat, bleibt gesegnet bis zum Jüngsten Tag.« Dafür war es nun zu spät. Mich würde er nicht mehr berühren können. Das bedeutete ziemlich schlechte Voraussetzungen für den Tag der Auferstehung. Aber immerhin hatte die Sopranistin Lotte Lehmann in der Drehtür des Hotels Bristol neben der Staatsoper einmal meine Schulter gestupst, weil es ihr zu langsam voran ging. Der Musikprofessor hatte uns von der herzzerreißenden Stimme der Lehmann erzählt und dass der Komponist Richard Strauss darüber schrieb: »Sie sang, dass es die Sterne rührte.« Ich hoffte innig, dass diese Lehmann-Berührung in der Stunde der Wahrheit am Ende der Zeiten ebenso viel zählte wie jene des Papstes.

 

Abends, nach dem Auslöschen der Lichter, lagen die vom frommen Leben erschöpften Buben in ihren Militäreisenbetten. Fünf Reihen mit je zehn Zöglingen, die häufig aus Träumen aufschrien oder in dem hohen Schlafsaal eine Kuppel aus Seufzern errichteten. Ich wusste nicht, wie es geschieht, dass man einschläft. Du liegst wach und denkst, dass es nicht gelingen wird, und dann überlistet dich irgendetwas in deinem Gehirn Verborgenes und hebt dich unbemerkt in eine Entrücktheit. Ein größeres Rätsel kannte ich nicht als dieses gleichzeitig Bei-sich- und Außer-sich-sein.

Im Traum war ich einmal so groß wie der Stephansdom, und wir haben uns in die Augen geschaut, der Nordturm und ich. Dann hat er zu mir gesagt: »Elfriede, pass gut auf deine Glocken auf.« Wenn es stimmt, dass jeder Traum einen Sinn hat, dann soll mir bitte jemand den Sinn dieses Stephansdom-Traumes erklären.

 

In der Nacht nach dem Tod des Papstes gelang es mir nicht einzuschlafen. Der Präfekt Pater Mokloszi ging stets gegen zweiundzwanzig Uhr durch die Bettenstraßen und erfasste mit der Taschenlampe kurz, Gesicht für Gesicht, die ihm anvertrauten Zöglinge. Der Leuchtturm, dachte ich immer, wenn ich ihn sah. In meiner Einbildung schliefen wir auf einem Amphibienboot, und der Leuchtturm bewahrte uns zu Wasser und zu Lande vor Schiffbruch. Denn ich war überzeugt, dass man überall auf Erden untergehen konnte, außer vielleicht in den Umarmungen meiner Mutter.

Als der Präfekt mich mit dem Licht streifte, schloss ich rasch die Augen. Aber er bemerkte mein Wachsein, stellte die Lampe auf die schwächste Stufe, befestigte sie mit einer Lederschlaufe an einem Knopf seiner Soutane in Brusthöhe und trat an das Betthaupt. Dann begann er, mich wortlos an den Schläfen zu streicheln. Seine Finger rochen stark nach Tabak, und da er ein Jesuit war und dieser Orden die »Gesellschaft Jesu« heißt, stellte ich mir auch Jesus und die zwölf Apostel als Kettenraucher vor und den Vatikan als eine Art unermesslich große Tabaktrafik, in der die Kapläne und Pfarrer, die Prälaten und Pröpste, die Monsignores und Bischöfe, die Erzbischöfe und Kardinäle ihre Smart- und Jonny-Filter-Päckchen erhielten. Ich schmiegte mich in die Hände des Präfekten und wusste, dass der Lichtkegel des Leuchtturms jetzt nur für mich in das Dunkel schnitt und ich mich für die Dauer seiner Zuwendungen in Sicherheit wiegen konnte.

 

Was mir stets gegen Abend Angst bereitete, war meine Überzeugung, dass ich mich schon zu lange gezwungenermaßen am falschen Ort und bei den falschen Leuten aufhielt. Das meiste schien hier aus Grobheit und Kälte gemacht, und selbst im Juni und September fröstelte mich, und die einzige Musik, die wir hören und singen durften, waren Kirchenlieder während der Messe und Volkslieder während der Gesangsstunden, und hätte ich nicht manchmal heimlich für Minuten auf der Toilette ein Detektorradio, das nur aus Drähten und einem einzelnen Kopfhörer bestand, an die Wasserleitungsröhren angeschlossen, wären mir die großartigen Existenzen von Bo Diddley und Fats Domino verborgen geblieben, die dem Generalpräfekten mit Sicherheit als sündig gegolten hätten.

Überall stieß man auf das Wort »Sünde«. Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und dieses Wort heißt Sünde, dachte ich. Wenn man bei der täglichen Kommunion während der Frühmesse irrtümlich auf die Hostie biss, war es eine Sünde. Und wenn ich sagte, dass ich lieber eine Schwalbe wäre als der Zögling Nummer 42, war es eine Sünde. Und zu widersprechen war eine Sünde, aber die schwerste Sünde überhaupt war, laut zu behaupten, dass man nicht an die Sünde glaubte. »Hände auf den Rücken«, schrien die Präfekten bei jedem Vergehen. Wenn man es tat, schlugen sie einem ins Gesicht, und wenn man es, wie ich, nicht tat und sich augenblicklich zu Boden fallen ließ, traten sie einen mit den Schuhen.

Am falschen Ort und bei den falschen Leuten: Kollegium Attweg. Mit der Straßenbahnlinie 60 bis zur Endstation Kepplergasse und dann mit dem Autobus bis zum Rodauner Hauptplatz. Von dort zu Fuß durch die Gansterergasse und auf die Holzbrücke, über den Liesingbach, in dem sich Äschen und Forellen tummelten, geradewegs in die Heimwehfestung. Künftige Kirchenfürsten und Minister der christlichen Volkspartei, Generaldirektoren bürgerlicher Großbanken und Universitätsprofessoren züchtete man dort.

Aber ich hatte anderes mit mir vor. In einem Asbest-Anzug als erster Mensch in das Innere des Vesuvs hinabzusteigen, um in der glühenden Lava nach Feuerfischen zu suchen, war einer meiner Pläne. Inhaber des Eichkatzl-Fütterungsmonopols im Park von Schönbrunn ein anderer, und der dritte lautete: Weltmeister im Unsichtbarsein. Auf nichts davon wurde man im Kollegium vorbereitet. Am falschen Ort und bei den falschen Leuten.

 

Der Präfekt hatte aufgehört, meine Schläfen zu streicheln. Jetzt beugte er sich über mich und küsste meine Stirn. »Niemandem etwas erzählen«, sagte er, »Verrat ist eine Sünde.« Am nächsten Morgen beteten wir schon vor der Frühmesse einen Rosenkranz für Pius XII. und einen weiteren für den fehlbaren Menschen Eugenio Pacelli, der auch noch irgendwie im, bei Bedarf unfehlbaren, Papst gesteckt hatte. Außerdem verordnete uns der Generalpräfekt einen Trauerfasttag, und eine ganze Woche durften wir in der Freizeit zwischen dem ersten und zweiten Studium keinen Sport treiben. Dies war das Einzige, das mich Dankbarkeit gegenüber der prächtig gewandeten, gesalbten und geschminkten Leiche empfinden ließ, an der in der Stadt Rom täglich Tausende andächtig vorüberzogen und deren zweiundachtzigjähriger Mund mit Weihrauchkörnern gefüllt war, wie uns der Chemieprofessor erzählte.

 

Fast jede Nacht trat der Leuchtturm an das Kopfende eines anderen Zöglings und blieb dort für eine Weile. Mir erschien das ungerecht, denn meine Not hielt ich für die bitterste, bis am 18.Oktober vor dem Abendgebet zwei Fratres aus der Tischlerei erschienen und das Bett vom Gabor Benedek aus dem Schlafsaal auf den Gang trugen. Der Gabor schrie: »Nein! Das könnt ihr mir nicht antun! Bitte nicht!« Dann fiel er auf die Knie und riss sich büschelweise die Haare aus, und das Blut tropfte ihm übers Gesicht. Aber es half nichts. »Du bist es nicht wert, bei den anderen zu schlafen. Du Kameradschaftsschwein hast einen Mitschüler bestohlen.« »Wen hat er...

Erscheint lt. Verlag 5.10.2009
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Erzählung • Familie • Internat • Judentum • Kind • Literatur • Österreich • Phantasie • Roman • Träume • Vater • Wien
ISBN-10 3-10-400039-5 / 3104000395
ISBN-13 978-3-10-400039-8 / 9783104000398
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 654 KB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von Wolf Haas

eBook Download (2025)
Carl Hanser Verlag München
18,99
Roman

von Chimamanda Ngozi Adichie

eBook Download (2025)
S. Fischer Verlag GmbH
19,99