Grosse, kleine Schwester (eBook)
352 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30084-0 (ISBN)
Peter Härtling, geboren 1933 in Chemnitz, gestorben 2017 in Rüsselsheim, arbeitete zunächst als Redakteur bei Zeitungen und Zeitschriften. 1967 wurde er Cheflektor des S. Fischer Verlages in Frankfurt am Main und war dort von 1968 bis 1973 Sprecher der Geschäftsführung. Ab 1974 arbeitete er als freier Schriftsteller. Peter Härtling wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Hessischen Kulturpreis 2014 und dem Elisabeth-Langgässer-Preis 2015. Das gesamte literarische Werk des Autors ist lieferbar im Verlag Kiepenheuer & Witsch, zuletzt erschien sein Roman »Gedankenspieler« (2018).
Peter Härtling, geboren 1933 in Chemnitz, gestorben 2017 in Rüsselsheim, arbeitete zunächst als Redakteur bei Zeitungen und Zeitschriften. 1967 wurde er Cheflektor des S. Fischer Verlages in Frankfurt am Main und war dort von 1968 bis 1973 Sprecher der Geschäftsführung. Ab 1974 arbeitete er als freier Schriftsteller. Peter Härtling wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Hessischen Kulturpreis 2014 und dem Elisabeth-Langgässer-Preis 2015. Das gesamte literarische Werk des Autors ist lieferbar im Verlag Kiepenheuer & Witsch, zuletzt erschien sein Roman »Gedankenspieler« (2018).
Die Maus
Im Sommer steht die hohe Tür zwischen Wohnzimmer und Terrasse offen. Wer sie morgens öffnet, weiß Ruth nicht. Wahrscheinlich Pan Lersch, der ein Zimmer im Souterrain bewohnt, meistens als erster aufsteht, um den Ofen im Badezimmer zu heizen. Vielleicht auch Zdenka oder sogar Vater, der, wie er behauptet, nur eine Mütze Schlaf braucht. Und Ruth versucht vergeblich, sich den Schlaf in der Mütze vorzustellen.
Wenn es regnet, ist im Wintergarten gedeckt.
Lea trödelt morgens. Sie muß von Zdenka oder Mutter zur Eile gemahnt werden, im Bad, auf dem Flur. So kommt Ruth stets vor ihr zum Frühstück, hat längst ihren Platz am runden Tisch eingenommen, ehe Mutter und Lea erscheinen.
Vater begrüßt sie mit einem runden kaffeenassen Kuß auf die Stirn und fragt, wo Lea denn bleibe. Darauf hat sie nur ein Mal Auskunft geben müssen, meistens verschanzt sich Vater sofort hinter der Zeitung. Ruth zieht sich auf dem Stuhl hoch, läßt die Beine baumeln, holt tief Atem und genießt den Vorzug, mit Vater allein zu sein. Auch wenn die Zeitung ihn verbirgt.
Carlo, den älteren Bruder, bekommt sie morgens nie zu Gesicht. Er ist früh in die Schule aufgebrochen, frühstückt mit Zdenka und Pan Lersch in der Küche. Der große Bruder hat viel mehr Aufgaben und Pflichten als sie und Lea.
Sie mustert die mit Marmelade bestrichenen Semmelhälften auf ihrem und auf Leas Teller. Falls Leas Portion üppiger ausgefallen ist, kann sie jetzt noch tauschen.
Ein paar Mal hat Vater sie deswegen gerügt. Sie sei futterneidisch, ob sie sich nicht schäme?
Lea würde es an ihrer Stelle genauso machen.
Sie blieb hartnäckig. Vater gab nach.
Jedes Mal, wenn sie in die Semmel beißt, wundert sie sich, wie es in ihrem Kopf prasselt und kracht.
Im Dompark unter der Terrasse sind schon Spaziergänger unterwegs. Sobald Ruth nicht mehr kaut, kann sie Schritte auf dem Kies hören, kurze und lange, eilige und schleifende, und sie zerstört diese Musik, wenn sie von neuem in die Semmel beißt.
Lea läuft Mutter voraus, hüpft, die Hände in den Hüften abgestützt.
Ruth schaut nicht ihnen entgegen, sondern auf Vater, und weiß im voraus, was geschieht: Vater senkt die Zeitung, wirft einen Blick über den Rand, nickt, als wolle er Lea ermuntern, noch alberner zu hüpfen, legt die Zeitung über Teller, Tassen und Kanne, öffnet die Arme, und Lea springt ihm auf den Schoß. Jeden Morgen, wenn sie das tut, zieht Ruth sich zusammen und kneift die Augen zu.
Ja, Mädelchen, guten Morgen! Vater drückt Lea kurz an sich und hebt sie dann auf ihren Stuhl.
Mädelchen zu sein, ist das unerklärte Vorrecht Leas. Ruth bleibt immer Ruth, obwohl sie, denkt sie, mehr ein Mädelchen ist als die jüngere Schwester, viel feiner und zarter.
Nachdem Vater beschlossen hat, Lea und sie gemeinsam zur Schule zu schicken, und sie ungerechterweise ein Jahr warten muß, ist sie allerdings von Pan Lersch triumphal getröstet worden. Auf dem Gang hat er sie abgefangen, ihr zugeflüstert: Gräm dich nicht. Die Lea ist um ein Jahr blöder als du, und deswegen kannst du noch ein Jahr faulenzen. Ist das nichts?
Geht ihr Lea besonders auf die Nerven, wird sie von Vater unnötig bevorzugt, wie jetzt, denkt sie an Pan Lerschs Zauberspruch, der sie wunderbar stärkt: Die Lea ist um ein Jahr blöder als ich.
Lea, die ihr gegenüber sitzt, kichernd, das Kinn mit Marmelade beschmiert, hat davon keine Ahnung.
Die Eltern unterhalten sich, selten in ganzen Sätzen. Vater schaut nur ausnahmsweise über die Zeitung zu Mutter hin.
Ruth beobachtet sie dabei.
Mutter achtet darauf, daß sie genausoviel kaut, wie sie spricht.
Ich hab den Besuch – sagt Vater.
Die Breslauer? – fragt Mutter.
Wie kommst du auf die? – fragt Vater.
No ja, ich dachte – sagt Mutter.
Du irrst dich – sagt Vater.
Ja? – fragt Mutter.
Du hast es einfach vergessen – sagt Vater.
Möglich – sagt Mutter.
Der Indigofärber aus Wien – sagt Vater.
Ja, richtig, sagt Mutter. Aber ja!
Vater faltet die Zeitung, legt sie zur Seite, zieht die Uhr aus der Tasche, läßt den Deckel springen, schaut in die Runde, klappt den Deckel wieder zu, schiebt die Uhr in die Tasche, erhebt sich, beugt sich aber sogleich wieder, um Mutter auf die Stirn zu küssen, Ruth mit dem Zeigefinger über die Backe zu fahren und Lea mit der ganzen Hand über das Haar zu streichen. Es gelingt ihm, alle wie in einem Sog hinter sich herzuziehen, nicht in seine Fabrik, doch in den Tag hinein.
Mutter putzt Lea den Marmeladenmund und wirft Ruth einen prüfenden Blick zu. Fertig? Sie klatscht in die Hände, was für Ruth und Lea bedeutet, gemeinsam aufzustehen und ins Haus zu laufen. Nun gehören sie wieder zusammen, nun trennen sie keine väterlichen Ungerechtigkeiten, schieben sich keine bösen Sätze zwischen sie.
Auf Lea wartet Zdenka und bringt sie hinunter in die Stadt zum Theater. Zwei Stunden lang wird Lea tanzen mit anderen Kindern und angewiesen von einer alten Ballerina, die schöne Schritte und Körper liebt, Kinder jedoch nicht ausstehen kann.
Auf Ruth, die schon das Notenheft unterm Arm hält, wartet Pan Lersch. Er muß sie nicht weit bringen, nur den Domberg hinunter. In einem der Häuser am Rande des Parks wird Ruth von Fräulein Stüberl, der Klavierlehrerin, erwartet, die, winzig und kugelrund, an Heimweh nach Wien seit beinahe einem halben Jahrhundert einzugehen droht und sich mit Unmengen von Knoblauch betäubt. Wenn sie spricht, hält Ruth sich die Hand vors Gesicht. Am Klavier allerdings ist ihr das nicht möglich.
Bevor Vater die tänzerische Begabung Leas feststellte, sie bei der alten Tänzerin, mit der die Eltern gut bekannt waren, anmeldete, hat Ruth schon Klavier gespielt.
Warum sollte sie nicht auch tanzen können? Ganz leise hat sie an einem Abend ins Zimmer gefragt, ohne sich an Vater und Mutter zu wenden: Warum darf ich nicht mit Lea tanzen lernen?
Schau – hört sie den Vater.
Du lernst doch schon seit einem halben Jahr Klavier, fällt Mutter ihm ins Wort.
Schau dich an – hört sie Vater.
Ich bitte dich – sagt Mutter.
Doch schon legen sich Vaters Hände fest auf ihre Schultern. Er schiebt sie vor sich her, hinaus in den Vorsaal vor den großen Garderobenspiegel: No, Kind, was siehst du? Du siehst die kleine, süße Ruth Böhmer, viel zu zart und zu dünn für den Tanz.
Sie steht vor sich, blickt sich zweifelnd, dann wütend und endlich beschämt vom Scheitel bis zur Sohle an, findet sich überhaupt nicht schwach und keineswegs besonders dünn, bis auf die Beine, wegen denen sie immer ausgelacht und gehänselt worden ist. Bis auf die Beine. Lea hat richtige Waden, die fehlen ihr.
Ungerufen hat sich Lea neben sie und Vater aufgestellt, zum Vergleich, und Vater, nun etwas verlegen, faltet seine Hände vor Ruths Brust, wie zum Schutz: Die Lea wird tanzen, du wirst Klavier spielen. Jedes Schustermädchen bleibt bei seinen Leisten. Er verschwindet ganz rasch aus dem Spiegel, in dem die Schwestern einen Augenblick stehen bleiben, jede für sich, auf ihr Spiegelbild starrend.
Beide sind sie Sommerkinder. Lea hat ihren Geburtstag im April, Ruth im Juni.
Am 2. Juni 1914 wird Ruth sieben, und Lea, die schon zwei Monate lang sechs ist, kann bald mit ihr zur Schule. Ruth wird gefeiert. Carlo spielt mit ihr vierhändig ein Stückchen von Czerny und überhört ihre Patzer. Vater will überhaupt nicht aufhören zu klatschen. Mizzi und Sarah Ribasch, die Töchter von Vaters Geschäftspartner, sind eingeladen.
Ruth darf die Torte anschneiden. Vater hält eine Rede. Ehe er dazu ansetzt, schimpft Mutter Lea aus, die sich mit Schokolade begossen hat, von Zdenka hinausgebracht und geputzt wird. Als sie kleinlaut wieder hereinschleicht, klopft Vater gegen das Glas.
Ruth ist viel zu aufgeregt, um richtig zuhören zu können. Er spricht von der Schule, aber auch von der Schwester. Zum Schluß ruft er: Pan Lersch, Ihr Auftritt.
Pan Lersch trägt ein großes, bunt eingepacktes Paket vor sich her und setzt es vor Ruth auf dem Boden ab. Glückwunsch, Ruth. Er macht eine Verneigung, als wäre sie erwachsen.
Das Geschenk muß Vater sehr wichtig sein. Er fordert sie ungeduldig auf, es auszupacken. Aus dem Papier schält sie unter den anfeuernden Rufen der Festgesellschaft zwei Ranzen. Zwei rote Ranzen.
Zwei? fragt sie.
Ja, zwei. Vater lacht. Lea braucht doch auch einen.
Aber sie hat doch nicht Geburtstag.
Vater seufzt, nimmt sie in den Arm und versucht, die Verdoppelung des Geburtstagsgeschenks zu erklären: Du wirst es nicht glauben, du mußt es mir glauben –
Mutter unterbricht ihn: Bei Leas Geburtstag im April ist uns der Ranzen noch nicht eingefallen. Obwohl er doch so wichtig für euch ist.
Und Vater setzt hinzu: Wichtig, Hella, wichtig für beide, möcht ich schon sagen, gleich wichtig.
Mizzi Ribasch findet die Ranzen entsetzlich elegant, und Carlo packt Ruth den ihren auf den Rücken.
Ein richtiges Schulmädel!
Fabelhaft.
Mutter dreht und wendet sie, damit jeder sie rundherum betrachten kann.
Womit für euch ein neuer Lebensabschnitt beginnt, sagt Vater. Er sagt nicht: für dich.
Lea zieht sich nun auch den Ranzen auf den Rücken, beginnt stolz und selbstvergessen im Zimmer zu kreisen, zu tanzen. Nach und nach werden alle auf sie aufmerksam. Carlo setzt sich ans Klavier und deutet einen Walzer an.
Auf einmal steht die Schwester im Mittelpunkt und wird gefeiert, als habe sie Geburtstag. Ruth beobachtet Lea, wie sie sich vorführt. Allmählich steigt ihr die Wut in den Hals oder das, was sie...
Erscheint lt. Verlag | 21.1.2010 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Belletristik • Familienschicksal • Faschismus • Geschwister • Kiepenheuer & Witsch • Künstlerbiografie • Lebensgeschichte • Liebe • Mähren • Peter Härtling • Privat-Leben • Roman • Schicksal • Schwester • Schwestern • Vergangenheit • Zeit-Geschichte |
ISBN-10 | 3-462-30084-9 / 3462300849 |
ISBN-13 | 978-3-462-30084-0 / 9783462300840 |
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