Sommer am Bosporus (eBook)
224 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30085-7 (ISBN)
Wolfgang Schorlau lebt und arbeitet als freier Autor in Stuttgart. Neben den zehn Dengler-Krimis »Die blaue Liste«, »Das dunkle Schweigen«, »Fremde Wasser«, »Brennende Kälte«, »Das München-Komplott«, »Die letzte Flucht«, »Am zwölften Tag«, »Die schützende Hand«, »Der große Plan« und »Kreuzberg Blues« hat er die Romane »Sommer am Bosporus« und »Rebellen« veröffentlicht - und zusammen mit Claudio Caiolo die Venedig-Krimis um Commissario Morello. 2006 wurde er mit dem Deutschen Krimipreis, 2012 und 2014 mit dem Stuttgarter Krimipreis sowie 2019 mit dem Stuttgarter Ebner-Stolz-Wirtschaftskrimipreis ausgezeichnet.
Wolfgang Schorlau lebt und arbeitet als freier Autor in Stuttgart. Neben den zehn Dengler-Krimis »Die blaue Liste«, »Das dunkle Schweigen«, »Fremde Wasser«, »Brennende Kälte«, »Das München-Komplott«, »Die letzte Flucht«, »Am zwölften Tag«, »Die schützende Hand«, »Der große Plan« und »Kreuzberg Blues« hat er die Romane »Sommer am Bosporus« und »Rebellen« veröffentlicht – und zusammen mit Claudio Caiolo die Venedig-Krimis um Commissario Morello. 2006 wurde er mit dem Deutschen Krimipreis, 2012 und 2014 mit dem Stuttgarter Krimipreis sowie 2019 mit dem Stuttgarter Ebner-Stolz-Wirtschaftskrimipreis ausgezeichnet.
Turbulenzen
Vor dem Schalter von Türkisch Airlines stauten sich die Passagiere bis zu dem Kiosk am Ausgang der Halle. Andreas Leuchtenberg holte das Ticket am Info-Deck der Fluggesellschaft ab und stellte sich hinter einen alten Türken mit grauem Bart in die Schlange. Der Mann trug einen braunen gesteppten Anorak, und über den Kopf hatte er eine grüne Pudelmütze gezogen, die besser zu einem Rapper gepasst hätte, wenn sie schwarz gewesen wäre. Hin und wieder, wenn die Schlange aufrückte, schob der Mann seinen Gepäckwagen ein Stück weiter, der überladen war mit fünf alten Koffern, die von grauen Gummibändern notdürftig zusammengehalten wurden. Neben ihm stand eine dicke ältere Frau, deren Vollmondgesicht unter einem hellblauen Kopftuch hervorlugte. Sie trug einen graubraunen Mantel, der sie bis zu den Füßen umschloss wie ein Rundzelt. Die Frau zog ständig ein Handy aus den Weiten dieses Mantels, überprüfte den Eingang neuer SMS, doch die Nachricht, auf die sie wartete, schien nicht einzutreffen.
Die Abfertigung zog sich endlos dahin. Es dauerte über eine Stunde, bis Leuchtenberg endlich im Flugzeug saß, einer zuverlässigen Boeing 737, wie er mit einem Blick durch das Fenster der Gangway feststellte. Er quetschte sich in seinen Sitz am Gang im hinteren Teil der Maschine. Neben ihm auf dem Fenster- und dem Mittelplatz saßen zwei Türkinnen mit schwarzen Kopftüchern. Sie unterhielten sich. Kaum hatte Leuchtenberg sich angeschnallt, drehte sich die Frau auf dem Mittelplatz zu ihm um. Leuchtenberg blickte in ein vom Dunkel des Kopftuches umrahmtes Mondgesicht, ein Eiterpickel leuchtete aus ihrem Mundwinkel. Sie sprach ihn auf Türkisch an.
»Entschuldigung«, sagte er, »ich kann leider kein Türkisch.«
Die Frau sprach schnell weiter, ihre Stimme wurde lauter, schriller und ging schließlich in ein leichtes Kreischen über. Auch die ältere Frau mit Brille auf dem Fensterplatz redete auf ihn ein.
Leuchtenberg versuchte es auf Englisch. Ohne Erfolg. Plötzlich stand ein junger Türke in einer schwarzen Plastikjacke neben ihm und zog an seinem Ärmel. Leuchtenberg verstand nicht, was die drei von ihm wollten, und war froh, als eine Stewardess dazukam und mit den beiden Frauen sprach.
Die Türkinnen steigerten ihre Lautstärke, und die alte Frau am Fenster wies mit dem Finger auf ihn und hob dann händeringend beide Arme in Richtung Flugzeugdecke.
Leuchtenberg dachte, etwas an ihm sei nicht in Ordnung, und prüfte mit einer schnellen Bewegung seinen Hosenschlitz. Er stand nicht offen, aber die beiden Frauen steigerten sofort ihr Lamento, und der junge Türke zerrte ihn schmerzhaft am Arm.
»Die beiden Damen fragen, ob Sie bereit sind, den Platz zu tauschen und sich irgendwo anders hinzusetzen? Sie möchten nicht neben einem unbekannten Mann sitzen.«
Leuchtenberg sah entgeistert die dicke Frau mit dem Mondgesicht und dem Pickel an, die nun schwieg.
»Sagen Sie den Damen«, sagte er zu der Stewardess, »von mir geht keine Gefahr aus. Sie haben nichts zu befürchten.«
Erneutes Übersetzen. Erneutes Lamento.
Eine zweite Stewardess trat hinzu und flüsterte mit ihrer Kollegin. Erneutes Gespräch mit den beiden Frauen.
Leuchtenberg schaute an sich herab. Was stimmte bloß mit ihm nicht? Die Passagiere im hinteren Teil des Flugzeugs starrten ihn an, und auch im vorderen Teil verdrehten einige die Hälse in seine Richtung.
»Wir setzen die beiden Damen nach vorne«, sagte die Stewardess schließlich, »entschuldigen Sie, aber sie möchten nicht neben einem Mann sitzen.«
Leuchtenberg stand auf, die beiden alten Frauen quälten sich aus ihren Sitzen und verschwanden im vorderen Teil der Boeing. Leuchtenberg empfand es beruhigend, dass stattdessen ein Mann, den er auf vierzig schätzte, den Gang entlangkam, der einen Buben hinter sich her zog. Der Junge setzte sich an den Fensterplatz, der Mann, dessen Haar bereits völlig ergraut war, auf den mittleren Sitz. Leuchtenberg schnallte sich erneut an. Der Junge trug eine große Brille, die seine Augen unnatürlich vergrößerte. Der Vater flüsterte leise auf Türkisch mit dem Kind, bis die Maschine abhob. Da juchzte der Junge und schlug vor Freude die Hände zusammen.
Der Flug verlief ruhig, doch über Rumänien geriet die Maschine in Turbulenzen. Leuchtenberg spürte, wie seine Handflächen feucht wurden, während das Flugzeug sich streckte, zitterte und ächzte. Einige murmelten stille Gebete. Allein der Junge schlug begeistert die Hände zusammen.
Nicht nur Leuchtenberg schienen die Turbulenzen geängstigt zu haben. Als die Boeing völlig ruhig auf der Landebahn des Kemal-Atatürk-Flughafens aufsetzte, applaudierten die meisten Passagiere.
Am Gepäckband purzelte sein grüner Koffer als dritter aus dem Schlund des Transportsystems. Leuchtenberg kam ohne Probleme durch Passkontrolle und Zoll und trat durch eine Glastür in die Ankunftshalle des Flughafens. Vor ihm, nur durch eine Metallstange getrennt, stand eine Menschenmenge und starrte ihn an. Einige hielten Firmenschilder hoch oder handgeschriebene Zettel mit deutschen, englischen und türkischen Namen.
»Möchten Sie ein Taxi in die Innenstadt?« Ein junger Mann stand neben ihm.
Leuchtenberg wunderte sich, dass er auf Deutsch angesprochen wurde. Sah man ihm seine Nationalität an?
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der junge Mann und griff nach Leuchtenbergs Koffer.
»Nein.« Leuchtenberg riss den Koffer wieder an sich.
»Taxi?« Ein großer, schwerer Türke gesellte sich zu ihnen. Er hatte einen Bart und trug eine schwarze Lederjacke.
»Taxi, Taxi«, schrie ein dicker Mann in einem braunen Pullunder und griff nach seinem Koffer.
»Nein«, schrie Leuchtenberg und zog das Gepäckstück eng zu sich.
»Taxi, kommen Sie mit mir!«, rief ein weiterer Taxifahrer mit kurzen grauen Haaren und einer Brille, dessen freundliches Lächeln irgendwie aufgesetzt wirkte.
»Nein, nein«, schrie Leuchtenberg und fühlte sich regelrecht umzingelt, weil mittlerweile ein ganzer Trupp türkischer Männer ihn umlagerte. Er versuchte sich aus dem Pulk herauszuarbeiten, den Koffer fest umschlungen, doch die Taxifahrer folgten ihm.
»Vielleicht wollen Sie erst Geld wechseln?«, sagte der junge Taxifahrer. »Soll ich Ihnen den Weg zur Bank zeigen? Sie ist nicht weit von hier.«
Leuchtenberg blieb stehen. Tatsächlich, er besaß nicht eine türkische Lira.
»Kommen Sie«, sagte der junge Mann, nahm seinen Koffer und durchschritt den Kreis der anderen Fahrer, die ihnen zu Leuchtenbergs Erleichterung nicht folgten. Er stiefelte hinter dem jungen Mann her, der seinen Koffer am Haltegriff hinter sich her zog. Leuchtenberg schloss schnell auf. Er bereitete sich auf einen Spurt vor, sollte der andere mit seinem Gepäckstück plötzlich fliehen.
Doch der schritt ruhig nach links durch die Menge, zielsicher zu einem der Schalter an der Außenseite der Halle. Nun sah Leuchtenberg bereits das vertraute »Change«-Zeichen. Er entspannte sich.
Andreas Leuchtenberg wechselte 300 Euro, und die Frau hinter dem Schalter reichte ihm ein Bündel Scheine: die unfassbare Summe von 560399400000 Türkische Lira.
Er zählte den Stapel Geldscheine durch. Der kleinste Schein leuchtete in hellem Braun, ein Ein-Millionen-Schein. Hilfesuchend drehte er sich zu dem jungen Mann um, der ihn freundlich angrinste.
»Was kostet eine Fahrt in die Stadt?«, fragte er ihn.
»Wo wollen Sie denn hin?«
»Hotel Pera Palas. Kennen Sie das?«
»Kennt jeder in Istanbul, die Fahrt dahin kostet ungefähr 18 Millionen. Aber machen Sie sich keine Sorgen, ich schalte den Taxameter ein. Alles korrekt.«
Alles korrekt – das klang gut.
Leuchtenberg folgte dem Mann, der bereits auf den Ausgang zueilte und Leuchtenbergs Koffer hinter sich her zog. Die Kunststoff-Rädchen erzeugten ein durchdringendes Geräusch und hinterließen, da sie zuweilen blockierten, eine fein gestrichelte Linie auf dem Steinboden.
Durch die Tür der Ankunftshalle trat Leuchtenberg unvermittelt ins Warme. Er blieb einen Augenblick stehen, die Tür des Flughafens zischte hinter ihm zu.
Er blinzelte in die Sonne, und plötzlich fühlte er sich frei von allen Bedrückungen und Sorgen. Er würde Sehin wiedersehen. Dieser Gedanke füllte ihn mit einer inneren Freude, er atmete frei und genoss die Wärme der Sonne auf seinem Gesicht, auf Stirn und Wangen.
Doch wo war der Fahrer? Und sein Koffer? Eine kurze Panik stieg in ihm auf, aber dann sah er den jungen Mann, der gerade sein Gepäck in den Kofferraum eines gelben Renault hievte. Er eilte zu ihm hinüber, öffnete die Wagentür und setzte sich auf die Rückbank. Es beruhigte ihn, dass der Fahrer sofort den Taxameter anschaltete. Dann fuhren sie los.
Bei der Ausfahrt aus dem Flughafengelände an einem großen Kreisverkehr sah er die erste Moschee mit zwei Minaretten, die sich schmal in den Himmel hoben. Kaum hundert Meter daneben, am anderen Ende seines Blickfelds, ragte steil und nackt ein Sendemast für Funktelefone in den Himmel. Leuchtenberg registrierte, dass dieser die Türme der Moschee überragte, und seltsamerweise beruhigte ihn diese Beobachtung.
Das Taxi kam gut voran. Nach zwanzig Minuten sah er zum ersten Mal das Wasser des Marmarameeres. Es lag still und glänzend in der Sonne. Leuchtenberg drehte das Fenster herunter, und eine warme Brise Meeresluft füllte das Wageninnere. Er atmete tief ein und freute sich über den salzigen Geschmack.
Der Fahrer wies mit dem Finger auf eine Mauer, oben am Berg, auf der linken Seite, die eine Art Grünanlage umschloss.
»Topkapi, Topkapi«, sagte der Fahrer und wies mit...
Erscheint lt. Verlag | 21.9.2009 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Belletristik • Dengler-Krimis • Grundmelodie • Kiepenheuer & Witsch • Liebe • Liebesgeschichte • Orient-Kultur • Rebellen • Reise • Roman • Sehnsucht • Sehnsuchtsroman • Suche • Türkei-Istanbul • Wolfgang Schorlau |
ISBN-10 | 3-462-30085-7 / 3462300857 |
ISBN-13 | 978-3-462-30085-7 / 9783462300857 |
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