Der Augenblick der Liebe (eBook)

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2009 | 1. Auflage
368 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00041-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Augenblick der Liebe -  Martin Walser
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«Walsers schönster Roman.» (Martin Lüdke, SWR) Gottlieb Zürn, Exmakler und Privatgelehrter mit Domizil am Bodensee, erhält Besuch von einer Doktorandin. Sie interessiert sich für seine Aufsätze über den französischen Philosophen La Mettrie und überreicht ihm, er ist erstaunt und merkwürdig geschmeichelt, eine Sonnenblume. Sie könnte seine Enkelin sein. Und doch vernimmt er sofort das Klirren erotischer Möglichkeiten. Sie hingegen weiß: 'Es gibt nichts, wofür man nicht gestraft werden kann.' Trotzdem, und weil er mit seiner Frau Anna längst im gleichen Wortschatz untergeht, folgt er der Doktorandin kurz darauf nach Kalifornien zu einem Kongreß. Dort erfüllt sich ihre Prophezeiung - auf eine Weise, die gleich in mehrfacher Hinsicht zum Eklat führt. Eros, Ehe und Erlebnishunger sind die äußeren Markierungspunkte dieses Romans, das Verhältnis von Leben, Literatur und Todeslust ist sein geheimes Motiv. «Ein Buch, das mit literarischer Brillanz und insistierender Intelligenz der Wahrheit unserer Empfindungen nachgeht.» (Ulrich Greiner, Die Zeit) «Martin Walser hat einige beste Bücher geschrieben. Sein jüngstes Werk gehört dazu. [...] ist ein schönes Buch - komisch, traurig, rabiat.» (Andrea Köhler, Neue Zürcher Zeitung) «Hochkomisch, sprachmächtig: Martin Walsers neuer Roman über Liebe im Alter ist ein Vergnügen. Wenn Walser je komisch war, wenn er je die Funken des Witzes aus Konstellationen des Unangemessenen, Unpassenden geschlagen hat, hier tut er's stärker.» (Tilman Krause, Literarische Welt) «Seite für Seite eröffnet Martin Walser uns ein Stilvergnügen, wie es nur wenige deutsche Autoren bieten können. Walser schreibt eben nicht nur die schönsten Sätze, er setzt sie auch in anregende Horizonte.» (Andreas Isenschmid, NZZ am Sonntag) Weitere Veröffentlichungen: Die Verwaltung des Nichts Angstblüte Leben und Schreiben 1. Tagebücher 1951 - 1962 Leben und Schreiben 2. Tagebücher 1963 - 1973 Ein liebender Mann Tod eines Kritikers

Martin Walser, 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, war einer der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l'Ordre des Arts et des Lettres» ernannt. Martin Walser starb am 26. Juli 2023 in Überlingen. 

Martin Walser, 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, war einer der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l'Ordre des Arts et des Lettres» ernannt. Martin Walser starb am 26. Juli 2023 in Überlingen. 

I. Kommen aber gehen


1.


Herr Zürn oder Herr Krall, wie hätten Sie’s gern? So fing sie an, so eröffnete sie.

Gottlieb sagte: In welche Sauce wir den Daumen, den wir lutschen müssen, vorher tunken, ist egal. Oder nicht? Und sie: Es gibt nichts, wofür man nicht gestraft werden kann. Und er: Aber die Möglichkeiten klirren. Und sie: Wenn Sie so wollen. Und er: Ich will. Gottlieb hatte das Gefühl, er sei begeistert. Wenn das Leben auf sich aufmerksam machte, fühlte er sich als Dichter, sogar als Komponist. Er war weder das eine noch das andere. Er war mit der Besucherin in ein Duett geraten. Sie hätten ihre Sätze gleichzeitig sagen können, das hätte die Wirkung nicht gemindert.

Anna blieb nichts anderes übrig, als zwischen der Besucherin und Gottlieb hin und her zu schauen wie beim Tennis. Also schaute sie, nach Gottliebs Ich will, die Besucherin an, weil die jetzt dran war. Aber die wollte oder konnte offenbar nicht weitermachen im Duett.

Dann starrten alle drei auf die Sonnenblume, die die Besucherin mitgebracht hatte, für die Gottlieb keine Vase gefunden hatte, die er dann in den größten Glaskrug gestellt und mitten auf dem Terrassentisch platziert hatte. Noch nie hatte jemand eine Sonnenblume mitgebracht. Anna hatte die gewaltige Blume entgegengenommen und hatte gesagt: Unglaublich. Und das stimmte ganz genau. So eine Prachtblume zu überreichen, die sofort die Szene beherrscht, und nichts dazu zu sagen, das war unglaublich. Das war eigentlich die Eröffnung des Duetts gewesen.

Anna schaute die Besucherin an, als müsse die ihr noch erklären, wie es überhaupt zu dieser Frage, ob Zürn oder Krall, komme. Gottlieb wußte, daß Anna, hätte sie sich äußern können, jetzt gleich noch einmal ihr Lieblingswort, ihr Passepartoutwort, gesagt hätte: Unglaublich. Das brauchte sie so oft, daß es auf Gottlieb überging. Und wenn es ihm unwillkürlich unterkam, merkte er, daß er wieder Annas Wort benutzte. Sollten Ehepaare einander im Lauf der Zeit ähnlicher werden – was er bei sich und Anna bestritt –, dann dürfen sie auch im selben Wortschatz untergehen. Hätte die Besucherin ihre Eröffnungsfrage eine Stunde später gestellt, nachdem Anna ihren Kaffee und die drei oder vier Gläschen Calvados schon getrunken gehabt hätte, dann hätte Anna höchstens noch ein wenig den Kopf geschüttelt, so langsam, daß es aussähe, als suche sie für ihren Kopf eine Lage, in der er bleiben könne. Jetzt aber, bei der ersten Tasse Kaffee und beim ersten Calvados, reagierte sie doch so neugierig, als sollte Gottlieb ihr in Gegenwart der Besucherin etwas erklären, was er ihr verschwiegen habe. Ach nein, doch nicht verschwiegen, einfach nicht gesagt hatte er ihr, daß vor Wochen ein Brief aus North Carolina eingetroffen war, geschrieben von einer Beate Gutbrod, die fragte, ob sie kommen dürfe, es handle sich um La Mettrie.

La Mettrie, das war einmal ein Thema gewesen. Eines der vielen Themen, mit denen Gottlieb sich die Zeit vertrieb, die er hatte, seit Anna das Geld verdiente. Er besorgte den Haushalt und das Schriftliche, Anna den Handel, den Immobilienhandel. Als er dieser Beate Gutbrod geschrieben hatte, sie könne, wenn sie nichts Besonderes von ihm erwarte, gern zu einem Kaffee auf der Terrasse kommen, hatte er es nicht für nötig gehalten, Anna zu sagen, da komme eine von einer Uni aus North Carolina, die in Langenargen eine Großtante besuche und ihn bei dieser Gelegenheit auch besuchen wolle, da sie eine Doktorarbeit darüber schreibe, wie La Mettrie in Deutschland aufgenommen worden sei. Wann aufgenommen, warum so spät und wie dann. Im Internet hatte diese Beate Gutbrod offenbar entdeckt, daß Gottlieb vor fünfzehn Jahren in einem Anfall von Begeisterung zwei Aufsätze über La Mettrie geschrieben hatte.

Hier heiße ich Zürn, sagte Gottlieb jetzt. Er tat, als bemerke er Annas kritische Neugier nicht. Die Besucherin sollte den Eindruck haben, seine Frau sei informiert darüber, daß er unter dem Namen Wendelin Krall über La Mettrie veröffentlicht hatte. Gewußt hatte sie es einmal. Vor fünfzehn oder sechzehn Jahren. Verwitterte Inschriften im Ehegestein. Vielleicht wußte Anna wirklich nicht mehr, daß ihr Mann jedes seiner wenigen Themen unter einem anderen Namen bearbeitet hatte. Und für La Mettrie war eben Wendelin Krall zuständig gewesen. Den Satz, daß er hier Zürn heiße, begleitete Gottlieb mit Gesten, die der Besucherin sagen mußten, hier am Tisch, hier beim Tee heiße ich Zürn. Warum sollte er dieser Besucherin die Innenansichten seiner Ehe präsentieren. Auch wenn Gottlieb nur sogenannte Tatsachen mitteilen würde, wüßte so eine Besucherin nichts über diese Ehe, sondern nur das, was er ihr über diese Ehe mitteilen wollte. Was verstünde denn eine Besucherin, wenn er jetzt Annas deutliches Informationsdefizit mit den Sprech- und Sprachgepflogenheiten dieser Ehe erklärte! Daß sie, wenn nicht gerade Kinder da sind, nach einander frühstücken, ist der Ausdruck einer Übereinstimmung, die eine Besucherin nicht begreifen kann. Überhaupt vollzieht sich das Gespräch zwischen ihm und Anna auf einer für eine Besucherin vor Höhe unhörbaren Frequenz. Die höchsten Töne sind die feinsten. Nur daß Sie’s wissen. Je weniger sie mit einander sprechen, desto besser verstehen sie einander. Das erklär mal einer Besucherin. Je länger sie nicht mit einander sprechen, desto näher kommen sie einander. Also wegen einer Besucherin, die zum Kaffee kommt, weil sich das mit dem Besuch der Großtante namens Mimi verbinden läßt, wegen einer solchen exemplarischen Unwichtigkeit das sich geradezu samtig anfühlende Einvernehmen des Schweigens dem Mißverständnis einer Touristin auszuliefern – nein, danke.

Andererseits hatte die so eröffnet, daß er hoch eingestiegen war. Das war ein Duett. Diesem Duett nachhörend saßen sie dann. Zu wissen, woran jetzt jeder an diesem Tisch denkt, brächte einen weiter. In der Menschenkenntnis. Die es nicht gibt. Weil keiner in den anderen hineinsieht. Wenn er der Besucherin sein und Annas einvernehmliches Nichtssagen erklären könnte, wüßte sie immer noch nicht, wie wichtig Anna für ihn wird, wenn sie dann einmal drauflosquatscht. Er sitzt, sie räumt auf, er kann nur sitzen, starren, sie aber redet, und das tut sie für ihn. Zustimmend schweigen, das kann er noch. Sie plappert bewußt, macht deutlich, daß sie jetzt nur plappert, damit demonstriert sie, man könne doch immer noch plappern, Quatsch reden. Es kann sein, sie versackt dann jäh. Dann wird es ziemlich still. Dann fängt er an. Er schafft nicht halb soviel Stimmung oder wenigstens Akustik wie sie. Und gibt auch gleich auf. Dann ist die Stille, die folgt, ein Ausdruck vollkommener Harmonie. Näher kann man einander nicht sein als in dieser wunderbaren Wüste gemeinsam erworbenen Schweigens.

Es war die Besucherin, die verfügte, daß er jetzt und wie er jetzt über Anna nachdachte. Wäre doch Anna ein wenig weniger lieb. Er merkte, daß er, wenn er, was vom Liebsein handelte, hochkommen ließ, schnell bei einem Generalverdacht landen würde. Wollte er etwas gegen Anna empfinden, intonierte er diesen Generalverdacht: Anna will nichts von dir, sie will nur, daß du etwas von ihr willst. Wurde aber in vorstellbarer Nähe ein Kind ermordet, durfte Geschlechtliches eine Schonzeit lang überhaupt nicht mehr vorkommen. Das war seine auf Klage oder Anklage getrimmte Vorwurfsroutine, gegen die Anna sich nicht verteidigen konnte, weil er ihr diese öfter in ihm ablaufende Vorwurfsplatte niemals vorgespielt hatte und wahrscheinlich niemals vorspielen würde. Die Platte lief. Und es war die Besucherin, die die Platte zum Laufen gebracht hatte.

Es ist nicht ausgeschlossen, daß Anna es neben einem aushielte, ohne einen zu berühren. Und wenn sie’s dann tut, dann vielleicht nur, weil sie glaubt, der andere wolle es. Sie will einem etwas zuliebe tun. Sie will einem alles zuliebe tun. Sie ist unerschöpflich unermüdlich im Einemetwaszuliebetun. Manchmal zöge man es vor, sie dächte mehr an sich. Fuhr er achtlos in eine Parklücke hinein, sagte, sobald er ausgestiegen war, Anna: Wenn du deutlicher links einparkst, hat noch einer Platz. Sie war andauernd humaner als er. Sie fühlte sich ihm wahrscheinlich überlegen. Das kann in ihr die Stimmung erzeugt haben, er müsse ihr für das lebenslängliche Bei-ihm-Bleiben dankbar sein. Es tat sicher gut zu wissen, daß er ihr immer ein bißchen oder mehr als ein bißchen schuldig blieb und für das, was er ihr schuldig blieb, dankbar zu sein hatte.

Gottlieb hatte serviert: Kaffee und Calvados für Anna, für die Besucherin und für ihn Tee. Und Apfelkuchen für alle. Daß er den Apfelkuchen heute vormittag selber gebacken hatte, sagte er mit dem gespielten Stolz, mit dem Männer auf ihre Küchenverdienste hinzuweisen haben. Und da sie ja aus dem Apple-Pie-Country kam, also vielleicht nicht wußte, was sie auf dem Teller hatte, sagte er, ganz ohne Nachdruck, noch dazu, daß es sich um eine Tarte Tatin handle, er serviere die aber heute, ohne sie gestürzt zu haben. Und warum heute nicht gestürzt, fragte sie. Genau so mußte sie reagieren, fand er, spürte er. Er wies auf die wellige, ganz glatte, kahle, hellfahle Oberfläche in der weißen Form, sagte aber nichts. Sie sagte: Wie eine freundliche Mondlandschaft. Ja, sagte er und nickte bedeutungsvoll, gestürzt, sähen wir jetzt die nassen Apfelinnereien. Und fing an auszuteilen.

Daß Anna deine...

Erscheint lt. Verlag 5.10.2009
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Ehe • Liebesbeziehung • privatgelehrter • Prophezeiung • Todeslust
ISBN-10 3-644-00041-7 / 3644000417
ISBN-13 978-3-644-00041-4 / 9783644000414
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