Blaufeuer (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2009 | 1. Auflage
316 Seiten
Hoffmann und Campe (Verlag)
978-3-455-40185-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Blaufeuer -  Alexandra Kui
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Es herrscht Ebbe an der Nordsee. Der Bootsbauer Erik Flecker fährt mit dem Jeep ins Watt hinaus, um eine Boje zu reparieren. Was als Routinearbeit beginnt, wird zum blutigen Kampf um Leben und Tod. Und ein Gewinner steht von Anfang an fest: die Flut. Nichts ist ohne Glanz, wenn das Meer am Ende des Tages die Sonne verschlingt ... Und der Tod? Janne Flecker hat sich bei den zweiten Geigen der Deutschen Philharmonie komfortabel eingerichtet. Da erschüttert die Nachricht vom Tod des Bruders Erik ihre Welt. In der Heimatstadt Cuxhaven erfährt Janne, dass ihr Bruder nicht durch einen Unfall ums Leben kam - er wurde Opfer eines grausamen Verbrechens im Watt. Die Tat stürzt Jannes Familie in tiefe Trauer und macht die ganze Stadt an der Nordseeküste ratlos. Wer könnte einen Grund gehabt haben, den allseits beliebten Juniorchef der Jachtenwerft so sadistisch hinzurichten? Dann überschlagen sich bei Eriks Beerdigung die Ereignisse. Und der Vater Paul bittet Janne um einen Gefallen, der ihr Leben nicht nur umkrempeln, sondern es auch in größte Gefahr bringen wird.

Alexandra Kui wurde 1973 in Buxtehude geboren. Sie studierte Soziologie in Hamburg und arbeitete für verschiedene Tageszeitungen, bevor sie ihren ersten Kriminalroman schrieb. Heute lebt sie als Autorin, Musikerin und Journalistin auf der Geest bei Hamburg. Zuletzt erschien 2008 bei Hoffmann und Campe ihr gefeierter Roman Blaufeuer.

Meersalz


JANNE

Daran, wie er ihren Namen sagt, erkennt Janne, dass es ihm ernst ist. Viel zu ernst für ihren Geschmack, und sie beeilt sich mit dem Milchkaffee, um dem gemeinsamen Tag im sommerheißen Berlin ein schnelles Ende bereiten zu können. Zu viel Zucker. Beim Trinken sieht sie auf die Uhr, was ihm nicht entgeht.

»Was ist los?«, fragt er. Er gibt sich ungezwungen, aber Janne registriert einen weinerlichen Unterton in seiner Stimme. »Nichts ist los. Aber ich will gleich heim.« »Kann ich mitkommen?« »Nein, besser nicht«, sagt sie.

Er zögert den Augenblick des Abschieds hinaus, indem er seinen Erdbeerkuchen mit der Gabel in dermaßen winzige Stücke zerteilt, dass Janne ihn lachend fragt, ob mit seinen Zähnen alles in Ordnung sei.

»Als Teenager hatte ich eine feste Spange«, sagt er.

»Also bis vor kurzem«, entgegnet Janne, und er verzieht das Gesicht.

»Das ist es also. Du findest, ich bin zu jung für dich.«

Janne lächelt und schweigt. Soll er doch glauben, ihre Zurückhaltung sei dem Altersunterschied zwischen ihnen geschuldet. Anfang oder Ende zwanzig – dazwischen liegen tatsächlich Welten. Allerdings kommt er ihr deutlich älter vor wegen seiner Verbindlichkeit, die sie so schreckt. So wie er war sie nie, auch nicht vor acht Jahren. Sie lässt es lieber entspannt angehen.

»Es war schön heute«, sagt sie munter und rückt ihren Stuhl aus dem Halbschatten. Sie will die Sonne genießen, solange es geht, bald ist der Sommer vorüber. Seit dem Frühstück im Cafe Adlon sind sie durch Berlin gezogen, vorbei an bröckelnden Mauern mit Einschusslöchern vom Häuserkampf, aufpolierten Baudenkmälern und postmodernen Glasfassaden, errichtet auf Minenfeldern – sie hatten nur Zeit für das Pflichtprogramm, aber das hat Janne nicht gestört. Sie verehrt die Hauptstadt mit ihrem weltstädtischen Glamour und all ihren Narben. An den Hackeschen Höfen hat er gesagt, er fühle sich nach so kurzer Zeit bereits heimisch, und Janne antwortete, sie sehe sich auch nach vier Jahren noch als Touristin. Sogleich hat er versucht, sie von dieser Ansicht abzubringen, weil er nicht ahnen konnte, dass das Gefühl von Fremdheit für sie mit dem höchst angenehmen Umstand verbunden ist, ihr Leben als eine Art Dauerurlaub zu betrachten, unterbrochen nur durch die nicht allzu anstrengenden Pflichten einer Orchestermusikerin. Er ist Gastsolist an der Deutschen Philharmonie, ein ehrgeiziger junger Geiger, dessen ehrgeizige Eltern schon bei der Taufe alles richtig gemacht haben: Zacharias Brügge – so ein Name perlt im Mund wie Champagner und schmückt jedes Konzertplakat. Janne neidet ihm seinen Erfolg nicht. Sie fühlt sich wohl bei den zweiten Geigen, denn ein Aufstieg zur Solistin passt nicht in ihr Konzept von der Leichtigkeit des Seins. Sie will nicht schuften, sondern leben. Sie übt nicht gern. Und sie hält sich lieber im Hintergrund.

»Hast du eigentlich ein Problem mit meinem Status im Orchester?«, fragt er, als wäre er ihren Überlegungen gefolgt.

»Was für ein Problem sollte das sein?«, entgegnet sie amüsiert über die Verlegenheit, die sich auf seinem hübschen Eliteschülergesicht abzeichnet. Die feste Spange war eine gute Investition.

»Na ja, ich habe gehört, als Mädchen hast du viel beachtete Solokonzerte gegeben und wurdest als Riesentalent gehandelt – aber auf einmal war Schluss damit. Keiner weiß warum.« Er mustert sie interessiert und mitleidig zugleich. Auf seiner Unterlippe kleben Kuchenkrümel, die Janne mit einem Kuss beseitigt. Zacharias errötet.

»Gerüchte«, sagt sie.

Wenig später verabschiedet sie sich mit einem knappen Gruß. Zacharias steht zackig von seinem Stuhl auf und winkt ihr nach, als stünde er am Bahngleis und sie führe mit dem Zug davon. Mit einem Lachen winkt sie zurück.

 

Auf dem Heimweg kauft Janne eine Flasche Rioja, französischen Käse und spanische Oliven beim Biohöker in ihrer Straße. Im Vorbeigehen betrachtet sie sich in den Schaufenstern entlang des Wegs: eine sehr schmale, sehr blonde Frau mit glattem, schulterlangem Haar, sommersprossig, hochgewachsen, gut angezogen – das luftige Kleid in hellen, kühlen Blautönen stammt von einer jungen isländischen Designerin, die hier in Berlin eine Boutique betreibt. Janne ist einverstanden mit ihrem Spiegelbild, und sie empfindet sich als privilegiert: Die Patrizierherkunft – oder der »gute Stall«, wie ihr Vater es nennt – ist ihr ebenso deutlich anzusehen wie dem Solisten, und Janne hat sogar besonderes Glück, denn sie muss sich nicht wie andere höhere Töchter abmühen, um entzückend und teuer auszusehen, sogar das helle Blond ist echt. Diese Kombination aus Geld und Liebreiz hat ihr schon viele Türen geöffnet, die andere erst eintreten müssen. Natürlich weiß Janne um die Ungerechtigkeit dieses Umstands, der sie manchmal wütend macht, aber im Alltag ist sie froh, mit der richtigen Pigmentierung auf der richtigen Seite der Gesellschaft geboren worden zu sein. Reine Glückssache. Natürlich schickt es sich nicht, dies offen zuzugeben.

Wie jeden Abend freut sie sich auf ihre Wohnung in dem sanierten Gründerzeitbau in Prenzlauer Berg: Luxus von heute, Eleganz von einst, so lässt es sich aushalten. Jannes Ansprüche sind hoch, wie sie es seit Kindertagen gewohnt ist. Aber sie mag es auch rustikal.

Als sie die Wohnungstür aufsperrt, durchflutet goldenes Abendlicht den Flur, und aus dem Wohnzimmer dringen Fado-Klänge. Es riecht nach Knoblauch, Chili – und ein wenig verbrannt. Janne zögert, bleibt mit der Papiertüte im Arm neben der Garderobe stehen. Sie weiß nicht, was es ist, aber irgendetwas in der Wohnung wirkt auf verstörende Weise verändert, obwohl alles an seinem Platz zu sein scheint und es durchaus mal vorkommen kann, dass ihrem Mitbewohner Nils ein Essen misslingt.

Dann nimmt sie das Geräusch wahr. Es passt zur Tragik der Musik, gehört jedoch nicht dazu. Eine Mischung aus Stöhnen und Schluchzen, ein durchdringender Laut. Sie hat das Gefühl, als würde in ihrem Kopf Kristall bersten.

Im Wohnzimmer kauert Nils auf der hellen Couch. Er hält das Gesicht in den Händen vergraben, und sein Körper vibriert. Neben ihm liegt das Telefon. Vor langer Zeit in einem anderen Leben hat Janne eine ähnliche Situation erlebt, damals war sie ein Kind und noch nicht in der Lage, die Vorzeichen zu deuten. Das hat sich gründlich geändert.

Sie tritt mit der Fußspitze gegen den Stand-by-Schalter der Stereoanlage. Die Musik bricht ab. Jetzt erst bemerkt er sie und ruft ihren Namen. Sie wappnet sich gegen die Umarmung, die unausweichlich ist, hält die Tüte wie ein Schutzschild vor ihrem Herzen. Nils ist schon aufgesprungen und reißt Janne mit solcher Heftigkeit an sich, dass die Einkäufe zu Boden fallen. Schwarze Oliven kullern über den Holzfußboden bis zum Fenster, während er sie viel zu fest drückt und dabei wieder und wieder ihren Namen fleht.

Janne macht nichts, sie wartet nur ab. Sie weiß, es wäre an der Zeit zu fragen, was vorgefallen ist, aber sie ist nicht bereit. Sie braucht Vorlauf. »In der Küche brennt was an«, sagt sie, und endlich lässt er sie los. Sie sieht ihm kurz in die geröteten Augen.

Er erwidert ihren Blick. »Janne, du musst mir jetzt zuhören«, sagt er leise.

»Nein, muss ich nicht.« Sie geht in die Küche und schaltet den Herd aus. In der Pfanne sind Fleisch und ein nicht mehr definierbares Gemüse zu einer brodelnden schwarzbraungrünen Masse verschmolzen. Die Farbe ähnelt dem Lavastein, aus dem die Arbeitsplatte geschliffen wurde.

»Die Pfanne können wir wegschmeißen«, ruft sie in Richtung Wohnzimmer.

Nils ist ihr gefolgt. Er steht hoch aufgerichtet im Türrahmen und deutet mit einer knappen Kopfbewegung auf einen der Küchenstühle. »Setz dich hin und hör mir zu.«

Janne will aus dem Raum fliehen, doch er lässt sie nicht vorbei, steht da wie festgemauert mit seiner Schreckensbotschaft im Anschlag und fordert sie erneut auf, sich zu setzen, worauf ihr Widerstand zusammenbricht und sie nur noch einen Wunsch hat: Es soll schnell gehen.

Nils atmet tief durch. »Dein Bruder ist ertrunken. Ein furchtbares Unglück.«

»Ach so«, sagt Janne, und während sie sich freut, wie gut sie diese Neuigkeit verkraftet, bricht eine nie gekannte Übelkeit über sie herein. Ihr wird schwarz vor Augen, doch sie fällt nicht in Ohnmacht. Sie steht auf und hält den Kopf über die Spüle, muss sich aber nicht übergeben. Auf ihrer Stirn steht kalter Schweiß. Dann rettet sie sich in einen Gedanken, der so unverzeihlich ist, dass sie erschrickt, und als ihre Blicke sich begegnen, spürt sie, wie Nils rätselt, was in ihr vorgeht – und wie nah er der Wahrheit kommt.

»Ich habe zwei Brüder. Von welchem spricht du?«, fragt sie mit schwacher Stimme.

Eine Pause entsteht. Nils büßt seine aufrechte Haltung ein. Schließlich sagt er: »Erik« und nennt damit den Namen seines besten Freundes. Es klingt beinahe entschuldigend, als stünde es in seiner Macht, das Todesurteil über den einen oder den anderen zu verhängen. Sein anschließender Versuch, Janne und sich selbst zu trösten, gerät zu einem hilflosen Gestammel, das sie kaum registriert.

 

Es fängt an zu regnen, sobald sie Berlin hinter sich gelassen haben, harte, satte Tropfen, gegen die der Scheibenwischer wenig ausrichten kann. Sie gleiten durch eine Wand aus Wasser. Nils sitzt hinter dem Steuer ihres Alfa. Er wollte es so, obwohl sie im Gegensatz zu ihm einige Stunden schlafen konnte. In ihrem Kopf herrscht kalte Stille. Sie schließt die Augen. Alles, was ihrer Familie nun bevorsteht, ist ihr zuwider, die ganze Dramaturgie eines Todesfalls: Gottesdienst und Grabredner, Lügen und Leichenschmaus. Zu viele Tränen, zu viele weiße...

Erscheint lt. Verlag 5.3.2009
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Ebbe • Mord • Nordsee • Wattenmeer
ISBN-10 3-455-40185-6 / 3455401856
ISBN-13 978-3-455-40185-1 / 9783455401851
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