Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts -  Wieland Freund

Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts (eBook)

Roman
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2009 | 1. Auflage
520 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-74131-8 (ISBN)
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»Ein opulenter und phantastischer Roman!« Literarische Welt 'Ich beschütze dich.', liest Jonas Nichts auf einem Zettel, den ihm der stumme Diener Ruben heimlich zusteckt. Und diesen Schutz hat Jonas bitter nötig, denn seitdem er das verschrobene Herrenhaus Wunderlich geerbt hat, versucht ihn jemand zu töten. Vor einem Anschlag flüchten er und Ruben in das Spielzimmer der verstorbenen Baronin Clara - und finden sich unversehens in Kanaria wieder, einem von seltsamen Menschen und Fabelwesen bevölkerten Land. Laut einer alten Prophezeiung wird ein Junge Kanarias herzlose Kaiserin stürzen. Erst nach vielen Abenteuern in der Flüsterstadt und dem Spinnenpalast erfährt Jonas, wie viel ungeahnte Macht er besitzt und in welch großer Gefahr er schwebt ... Wieland Freund entführt seine Leser auf eine bezaubernde Reise in das sagenumwobene Land Kanaria.

Wieland Freund, geboren 1969, lebt mit seiner Familie in Berlin. Bei Beltz & Gelberg erschienen von ihm 'Krakonos', 'Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts', 'Wecke niemals einen Schrat!', 'Träum niemals von der Wilden Jagd!', die drei Bände um 'Törtel, die Schildkröte aus dem McGrün', 'Ich,Toft und der Geisterhund von Sandkas' sowie das Pappbilderbuch 'Zuhause gesucht' (illustriert von Tine Schulz).

Das 1. Kapitel,
in dem sich alles verändert, weil eine Kutsche kommt


In der Nacht hatte es wieder gefroren. Die Felder biss der Frost, auf den Äckern klumpten harte Brocken Erde und in den Rinnen und Rillen des zerfurchten Hofs waren die Pfützen noch überfroren. Wie winzige Gletscher lagen sie unterhalb der brüchigen Gipfel, die die Karrenräder aufgetürmt hatten. Man musste nur klein genug sein, um das zu sehen.

Die Schweine standen im Koben. Von ihren mächtigen Leibern dampfte es in den Morgen, grunzend drängten sie sich um den Trog. Sie hatten Jonas Nichts schon gesehen. Er war aus der Hintertür gestolpert, seiner Atemwolke hinterher. Seine Holzschuhe brachen krachend das Eis auf den Pfützen und trugen die Gipfel über den Tälern der Spurrillen ab. Die Pampe im Bottich schwappte – Kartoffelschalen, Soßenreste, welkes oder zerkochtes Gemüse, Elsas Küche gab einiges her.

Die Schweine balgten sich schon um die besten Plätze. Über den Misthaufen stakste unbeteiligt der Hahn. Wenn es fror, stank der alte Mist nicht, bald jedoch, wenn Brand zu misten begonnen hätte, würde die feuchte Wärme des neuen aufsteigen wie Nebel. Aber Brand lag noch mit offenem Mund auf seinem Strohsack und dünstete Bier aus.

Jonas leerte den Bottich in den Trog, das Grunzen und Schmatzen der Schweine begleitete ihn zurück bis ins Haus. Er strich sich das fransige Haar aus der Stirn, streifte die Holzschuhe ab und lief auf oft gestopften Strümpfen in die Gaststube. Seit vielen Tagen hatte sich niemand mehr in diese Einöde verirrt. Jonas wischte trotzdem Tische und Bänke und streute Stroh auf dem gestampften Boden aus. Dann schlich er sich in die Küche.

Elsa stand schon über das Feuer gebeugt, in einer Schüssel ging Brotteig. Für einen stummen Moment trafen sich ihre Blicke. Elsas Augen waren noch klein, die von Jonas waren so groß und sonderbar wie immer. Sein linkes Auge war grün, sein rechtes von einem durchscheinenden, sehr hellen Blau. Elsa konnte sich nie genug darüber wundern, kaum ein Tag verging, an dem sie nicht davon sprach, aber am frühen Morgen hatte sie für seine »Geisteraugen« noch keine Zeit. Über die zerkratzte Tischplatte schob sie ihm einen Kanten Brot von gestern zu. Sie goss ihm auch einen Becher Milch ein, und Jonas aß und trank, und als er fertig war, holte er den Zettel hervor.

Das Papier war schon ganz brüchig, weil Jonas es immer mit sich herumtrug, und es wäre vernünftiger gewesen, den Zettel in der Küchenbank aufzubewahren, aber das brachte Jonas nicht fertig. Der Zettel und dessen Geschichte waren alles, was er besaß. Vorsichtig strich er ihn glatt, wie immer achtete er darauf, die wenigen Buchstaben nicht zu berühren. Sie waren mit Bleistift geschrieben, und Jonas hatte Angst, sie würden sich abtragen. Schon jetzt war die Schrift ganz blass, ein immer heller werdendes Grau auf dem immer dunkler werdenden Papier.

So stand das auf dem Zettel, untereinandergeschrieben, als hätte das eine Wort mit dem anderen nichts zu tun. Und doch ergaben beide Wörter zusammen Jonas’ Namen. Der Zettel war seine Geburtsurkunde, seine Taufbescheinigung und sein einziges Erbe. Brand hatte ihm den Zettel gegeben, und seitdem hatte Jonas die Geschichte, die zu dem Zettel gehörte, immer wieder hören wollen. Dann kauerte er sich zu Brands Füßen, nah an den Ofen der leeren Gaststube, und piesackte Brand mit Fragen, als könnte er dessen launischer Erinnerung so auf die Sprünge helfen.

Manches an Jonas’ Geschichte immerhin war gewiss, Brand änderte es nie. Die Kälte dieser Nacht vor zwölf Jahren, der Wind, der über die Hügel pfiff, das lange verlorene Lammfell, in das der winzige Jonas gewickelt gewesen war. Dazu die vornehme Kleidung des Reiters, der ihn gebracht hatte, der lange Mantel, die Lederstiefel, der Hut tief in der Stirn. Von Zeit zu Zeit glaubte Jonas sogar, dass Brand den Reiter kannte und wusste, wo er hergekommen war, aber in diesem Punkt verriet Brand sich nie. Manchmal ließ er den Reiter auf einem Schimmel kommen, manchmal auf einem großen Braunen, und wenn Brand mürrisch war oder einfach nicht betrunken genug, dann hatte das Pferd gar keine Farbe und die Geschichte war kurz.

War sie lang, ließ Brand zwischen zwei Mundvoll Bier einen Sturm heulen und die Fensterläden klappern, und ein einziges Mal hatte er sogar erzählt, dass der Reiter ihm Geld gegeben hatte dafür, dass er Jonas nahm. Aber das erwähnte Brand nie wieder, und Jonas kam auch nicht darauf zurück. Brand war nie gemein, aber launisch, und das Geld hätte aus dem Knecht Jonas einen Gast gemacht. Daran war Brand bestimmt nicht gelegen.

»Mehr?«, fragte Elsa, und als Jonas nickte, goss sie ihm Milch nach. Jonas trank in kleinen Schlucken.

Er hätte die Schrift auf dem Zettel jederzeit nachmachen können. Er kannte die Bögen, die Unterlänge, den Schwung des O und das Hin und Her des S. Auch mit geschlossenen Augen sah er, wie die beiden Worte schräg nach unten abfielen. Sie waren im Stehen geschrieben, bei sehr wenig Licht, Jonas hatte sich das oft beschreiben lassen. Kein Wort hatte der Schreiber gesprochen, stumm sei er gewesen, hatte Brand gesagt, und auf Brands Fragen hatte der Mann so lange mit einem Nicken oder einem Kopfschütteln oder gar nicht geantwortet, bis Brand gefragt hatte, wie das Baby hieß. Da hatte der Stumme den Zettel und den Bleistift aus seiner Manteltasche geholt und das erste Wort geschrieben.

Jonas.

»Und wie weiter?«, hatte Brand gefragt, aber keine Antwort bekommen. Der Stumme habe müde ausgesehen, erschöpft von einem langen Ritt, verzweifelt. Vielleicht, dachte Jonas oft, hat er mich nicht abgeben wollen. Vielleicht war er unglücklich darüber. Vielleicht war der Stumme ja sein Vater und fühlte wie alle Väter.

Aber Brand hatte nicht lockergelassen, er hatte den Mann am Handgelenk gepackt und, so hatte er es wenigstens einmal beschrieben, ihm tief in die Augen gesehen. Jonas stellte sich Brand dabei vor, die ewig roten Augen über den Tränensäcken aufgerissen.

»Was soll ich dem Jungen sagen, wo er herkommt, wenn er groß wird?«, hatte Brand gesagt.

Und dann hatte der Stumme das zweite Wort aufgeschrieben, es war bloß die Antwort auf diese Frage.

Nichts.

Natürlich ergab das zusammen keinen Namen, aber Brand hatte einen eigenartigen Humor und so hatte er einen Namen daraus gemacht.

»Jeder braucht einen«, hatte er geknurrt. »Einer ist so gut wie der andere.«

Als er Brand hinten im Haus rumoren hörte, trank Jonas aus und ging zurück in den Hof. Er hatte nie etwas anderes gesehen als diesen Flecken Erde, die Felder ringsum und die Häuser des Dorfs hügelabwärts, die sich an engen Gassen um die Kirche wanden. Manchmal, wenn er über die kahlen Hügel schaute und sah, wie der Wind an den Gräsern riss, dann packte ihn das Fernweh, und er stellte sich vor, wie der Stumme wiederkäme, um ihn in ein weit entferntes Land zu bringen. Wenn er sich das allzu genau vorstellte allerdings, bekam er Angst und lief eilig in den Stall mit seinen mistbeschmierten Wänden. Dann fasste er die Kuh an der feuchten Nase, lief zum Koben und kniff die Schweine oder zerbröselte altes Brot, um die Hühner zu füttern. Die Hühner mit ihren schwarzen Augen schienen auch immer in die Ferne zu sehen und kamen doch nur über den Hof hinaus, wenn der Fuchs sie holte.

Jonas war froh, als er Brand über den Hof schlurfen sah, das drahtige, graue Haar zerrauft, der Rücken noch krumm. Sie würden einfach anfangen zu misten. Wie jeden Tag.

Aber dieser war kein Tag wie andere. Mittags lag Brand mit seiner verdreckten Hose auf der Küchenbank und Jonas spielte im Hof. Die Tannenzapfen hatte er in den angetauten Boden gedrückt – Brand hatte sie einmal aus seiner Hosentasche gekramt. Das war der Räuberwald, in dem der Räuber Wieflinger lebte. Der Wieflinger war bloß ein Kiesel, aber für Jonas hatte dieser Kiesel ein Gesicht, und wenn es jemand hätte wissen wollen, dann hätte Jonas eine lange Geschichte über den Wieflinger erzählen können, eine endlos lange Kette von Geschichten. Wie der Wieflinger einmal den Kurier des Königs ausgeraubt hatte. Wie er später aus dem Hühnerstall-Gefängnis floh. Wie er beinahe im Meer einer Pfütze ertrunken wäre und nur davonkam, weil er sich auf ein vorbeitreibendes Floß rettete, das Jonas aus kleinen Zweigen und einem Bindfaden gebaut hatte. Manchmal träumte Jonas sogar vom Wieflinger. Der Räuber war ein unsichtbarer Freund.

Gerade trat er auf eine Lichtung im Tannenzapfenwald, da bemerkte er, weit hinten auf dem Hügelkamm, die Kutsche. Der Wieflinger lud die Muskete durch, Jonas schnalzte mit der Zunge. Noch war die Kutsche nicht größer als Jonas’ Daumennagel, ein Flecken Schwarz unter dem weiten Grau des Himmels, gerade groß genug für den Räuber. Der Wieflinger ging hinter einem Tannenzapfen in Deckung und schob sich den Hut aus der Stirn. Aber die Kutsche kam näher und hielt geradewegs auf den Hof zu. Bald war sie so groß wie Jonas’ Hand, zu groß für den Räuber, und Jonas stand auf, um Brand zu rufen. Der Wieflinger blieb allein in seinem Räuberwald zurück. Wer es nicht besser wusste, musste ihn für einen Kiesel halten.

Brand streckte das Becken vor, verschränkte die Arme vor der Brust und reckte das Kinn – er stand immer so da, wenn jemand kam. Nie sprach er das erste Wort, immer sah er misstrauisch aus, die Augen und die Lippen schmal. Jonas stand meist hinter ihm, einen Schritt versetzt, neugierig und ein wenig ängstlich, so wie jetzt. Er hörte schon die Hufe dumpf auf den gefrorenen Boden schlagen, sah die Räder sich drehen, dass die Speichen verschwammen, roch die sauren Pferdeleiber, als die Kutsche hielt. Glänzend schwarz lackiert war sie, mit elegant geschwungenen Laternen, die...

Erscheint lt. Verlag 11.3.2009
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Science Fiction
Kinder- / Jugendbuch
Geisteswissenschaften
ISBN-10 3-407-74131-6 / 3407741316
ISBN-13 978-3-407-74131-8 / 9783407741318
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