Abolitionismus (eBook)
619 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77032-0 (ISBN)
»Abolitionismus« bezeichnet sowohl einen theoretischen Ansatz als auch eine politische und soziale Bewegung, die sich für die Überwindung staatlicher Gewaltinstitutionen wie Gefängnis und Polizei einsetzt. In der Tradition des Kampfes gegen die Versklavung Schwarzer Menschen betonen Abolitionist:innen die rassistische Geschichte staatlicher Gewaltapparate und ihre Komplizenschaft mit Formen kapitalistischer Ausbeutung und patriarchaler Unterdrückung. Dieser Band macht erstmals die wichtigsten Stimmen dieser internationalen Diskussion in deutscher Sprache zugänglich. Mit Texten u. a. von Angela Davis, Michel Foucault, Mumia Abu-Jamal, Ruth Wilson Gilmore, Amna Akbar, Joy James, Klaus Günther, Assa Traoré, Geoffroy de Lagasnerie, Mimi E. Kim, Sarah Lamble, Robyn Maynard und Alex Vitale.
Daniel Loick ist Associate Professor für Politische Philosophie und Sozialphilosophie an der Universität Amsterdam. Vanessa E. Thompson ist Assistant Professor in Black Studies am Department für Gender Studies an der Queen's University Kanada.
7Daniel Loick und Vanessa E. Thompson
Was ist Abolitionismus?
Die Demonstrationen und Rebellionen für schwarze Leben im Sommer 2020 stellten die größte politische Bewegung in der Geschichte der USA dar.[1] Dabei war die Black-Lives-Matter-Bewegung nicht auf Nordamerika beschränkt, sondern reichte auch nach Lateinamerika, Europa, Australien und mehrere Länder Afrikas und mobilisierte damit auch weltweit die größten antirassistischen Proteste aller Zeiten. Im Zuge dieser globalen Aufstände wurden einer breiteren Öffentlichkeit Forderungen zugänglich gemacht, die aus dem theoretischen und praktischen Kontext des Abolitionismus stammen. Einer der weltweit resonierenden Slogans war Defund the Police: die Forderung, Ressourcen von der Polizei abzuziehen und diese in Strukturen der radikalen sozialen Gerechtigkeit (Wohnen, Gesundheitsversorgung, Bildung und Strukturen der Unterstützung) zu reinvestieren. Ebenso fordern Aktivist:innen die Entkriminalisierung von Armut, Migration oder Drogenkonsum als Teil eines breiteren Kampfes um das Zurückdrängen und Abbauen von Strafregimen und Kontrollinstitutionen wie Gefängnissen, Lagern, Polizeien und anderen Institutionen staatlicher Gewalt.[2]
8Aber was meint Abolitionismus eigentlich, was umfasst dieser Ansatz und wie wird Gesellschaft in den theoretischen und bewegungspolitischen Ansätzen des Abolitionismus gedacht?
Geschichte
Abolitionismus meint wörtlich Abschaffung und geht als soziale Bewegung und theoretische Perspektive historisch sehr weit zurück. Die Anfänge der Bewegung liegen bereits in den Kämpfen gegen die Versklavung in den USA und der Karibik im 19.Jahrhundert. Die Geschichte des Abolitionismus als spezifischer politischer Ansatz ist allerdings selbst umstritten. In den dominanten Narrativen werden hier oft die weißen liberalen Bewegungen gegen die Versklavung aus dem 18.Jahrhundert in Großbritannien und den USA angeführt, die, im Anschluss an die Quäker:innen, Versklavung nicht mehr aus religiösen Gründen, sondern aufgrund aufklärerischer Ideale ablehnten. In dieser gängigen Erzählung wird der Abolitionismus als die historisch erste transnationale soziale Bewegung dargestellt, deren Ziel die Abschaffung der Versklavung aus Afrika deportierter Menschen in den Kolonien Amerikas beziehungsweise des transatlantischen Versklavungshandels war. Unter Rückgriff auf herausragende Einzelpersonen wird Abolitionismus dabei als ein moralischer Fortschritt der Menschheit dargestellt, der insbesondere von weißen Männern wie Abraham Lincoln in den USA oder Victor Schœlcher in Frankreich und ihren liberalen Idealen vorangetrieben wurde. Obschon einige solcher Darstellungen auch ehemals versklavte Menschen wie etwa Frederick Douglass oder Sojourner Truth mit Bezug auf die USA oder Olaudah Equiano mit Bezug auf Großbritannien erwähnen und einbeziehen, zeichnen sie Abolitionismus vor allem als eine weiße aufklärerische Bewegung.
Gegenüber dieser Geschichtsschreibung verweisen die Wissensbestände der »Black Radical Tradition«[3] darauf, dass Abolitionismus vor allem eine Bewegung und Perspektive der schwarzen Massenwiderstände gegen den Plantagenkapitalismus war. Demnach unternehmen radikale Abolitionist:innen eine Lesart des Abolitionismus 9»von unten«. So argumentiert der schwarze Soziologe, Kommunist, Panafrikanist und Abolitionist W.E.B. Du Bois in seinem Magnum opus Black Reconstruction in America (1935)[4] – entgegen der These, dass die Abschaffung hauptsächlich eine Errungenschaft der Abolitionist:innen aus dem Norden sei –, dass schwarze versklavte Menschen, the dark proletariat, nicht nur den Dreh- und Angelpunkt andauernder kapitalistischer Akkumulation bilden,[5] sondern dass sie im Süden der USA mit einem Massenstreik von vier Millionen Menschen (1861 bis 1865) und ihrem Widerstand die grundlegende Rolle in der Abschaffung der Versklavung in den USA spielten.
Drei Jahre nach dem Erscheinen von Black Reconstruction veröffentlichte der schwarze radikale Historiker und Marxist C.L.R. James Die schwarzen Jakobiner, ein Grundlagenwerk über die haitianische Revolution, die als Manifestation abolitionistischen Widerstands zur Abschaffung der Plantagenökonomie zu verstehen ist. In der französischen Kolonie Saint-Domingue, der damals profitabelsten Plantagenökonomie der Welt, erkämpften die versklavten Menschen im Jahr 1793 gegen den Widerstand der westlichen Kolonialmächte die weltweit erste Abolition.[6] Die haitianische Revolution gilt in den Archiven schwarzer Befreiung und internationaler Kritik am kolonialen Kapitalismus als grundlegendes Ereignis des Abolitionismus, das weit über Haiti, aber auch über afrodiasporische Widerstandsbewegungen hinauswies, wie etwa die Bezugnahme indigener Gruppen im Pazifik, wie der Maori, oder auch lateinamerikanischer Bewegungen gegen Versklavung und Kolonialismus zeigen.[7]
Wenn auch die haitianische Revolution die erste erfolgreiche 10Revolution schwarzer versklavter Menschen war, ist es dennoch wichtig darauf zu verweisen, dass sich historischer Abolitionismus darüber hinaus auf die vielfältigen anderen Widerstände gegen Versklavung bezieht. Hier sind größere Aufstände zu nennen, wie die Rebellion um Nat Turner 1831, die New York slave revolt 1712, Rebellionen auf den Sklavenschiffen, wie die Amistad-Entführung oder das Igbo-Landing 1803, in dem sich nach der erfolglosen Befreiung eines Sklavenschiffes, angeführt von schwarzen Frauen, mehrere Igbo kollektiv umbrachten, indem sie von Bord sprangen. Auch die kollektive Flucht von den Plantagen in der Karibik und Lateinamerika und die Gründung alternativer Gesellschaftsformationen in Hügeln und Wäldern sind hier zu nennen. So haben versklavte Menschen in den Quilombos in Brasilien, der Palenque de San Basilio im heutigen Kolumbien oder den Maroon-Formationen auf Jamaika[8] alternative Welten fernab der kolonial-kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsweise erprobt und etabliert, deren utopische Dimensionen abolitionistische Kämpfe bis heute prägen. Palmares, eine der größten Quilombo-Siedlungen entflohener und freigeborener afrikanischer Menschen, gegründet um 1600 in den Hügeln Brasiliens, bestand zum Beispiel aus 25000 Bewohner:innen, die eine sich selbst versorgende Republik gegründet hatten.[9]
Solche abolitionistischen Praktiken umfassten historisch vor allem zwei Prinzipien: Erstens die Abwehr, den Entzug oder die Flucht (fugitivity) aus den Ökonomien der rassifizierten Überausbeutung,[10] die stets mit struktureller Gewalt und frühzeitigem Tod einherging, sowie zweitens die Bildung von neuen Verhältnissen, Rationalitäten, Beziehungs- und Produktionsweisen.[11] Du Bois bringt diese Doppelbewegung auf den Begriff der »abolitionistischen Demokratie« (abolition democracy). Er beschrieb damit eine 11spezifische Konstellation von gesellschaftlichen Kräften in der Zeit nach dem amerikanischen Bürgerkrieg, also zwischen 1860 und 1880.[12] Eine Allianz heterogener Gruppen versuchte damals, sowohl das Kapital als auch die Arbeiter:innen entschieden gegen jegliche Formen von Versklavung zu positionieren. Die Leitidee dieser Bewegung war es, dass eine bloß formale Emanzipation nicht ausreicht, sondern seitens der ehemals versklavten Menschen auch die reale Möglichkeit beinhalten muss, an der politischen Selbstregierung zu partizipieren. Die Bewegung drängte daher auf volle Staatsbürgerrechte für ehemals Versklavte und deren Beteiligung an der politischen Entscheidungsfindung. Die Bewegung erkannte zudem schnell, dass politische Macht nur dann richtig ausgeübt werden kann, wenn sie durch wirtschaftliche Macht ergänzt wird, was dazu führte, dass sie die ökonomischen Grundlagen der US-Gesellschaft selbst in Frage stellte....
Erscheint lt. Verlag | 18.7.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung |
Wirtschaft | |
Schlagworte | Gefängnisse • Gesellschaftskritik • neues Buch • Strafen • STW 2364 • STW2364 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2364 |
ISBN-10 | 3-518-77032-2 / 3518770322 |
ISBN-13 | 978-3-518-77032-0 / 9783518770320 |
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