Agiles Arbeiten - agile Führung (eBook)
152 Seiten
Vahlen (Verlag)
978-3-8006-6471-9 (ISBN)
Wo bleibt aber bei den ganzen Veränderungen der Mensch? Das Buch findet Antworten mit Hilfe benediktinischer Klosterregeln, die auf den ersten Blick widersprüchlich zur agilen Welt stehen, aber Organisationen auf das Wesentliche zurückführen: das richtige Maß an Freiheit und Führung.
28 Die neue schöne Arbeitswelt verblüfft so manchen Betrachter. Wenn ein heute 70-Jähriger Rentner in einem Büro eines großen oder mittelgroßen Konzern vorbeischauen würde, würde er wahrscheinlich die Welt nicht mehr verstehen. Viele Büros sind geschmückt in grellen, bunten Farben, Sitzsäcke laden zum Verweilen ein, an den Wänden kleben abertausende von bunten PostITs und die ehemaligen Teeküchen heißen nun „Coffee Lounges“ mit Fairtrade Kaffee und Kühlschränken voller Limonaden und Bieren mit lustigen Namen aus regionalen Brauereien. Der Besucher wird Großraumbüros vorfinden, die wie in der Vorbereitung auf einen Umzug leergeräumt sind. Er würde belehrt, dass es keine festen Arbeitsplätze mehr gibt. Jeder Mitarbeiter räumt jeden Abend seine persönlichen Habseligkeiten in einen rollenden Spind, den er in eine Ecke schiebt. Am Morgen beginnt dann eine Art „Reise nach Jerusalem“ auf der Suche nach einem Arbeitsplatz. Wehe, man kommt um erst um 9.30 Uhr ins Büro. Dann sind die besten Plätze am Fenster schon längst vergeben. An einer Seite des Büros befinden sich kleine, verglaste Zellen mit jeweils einem Tisch und zwei oder drei Stühlen, die ungestörte Gespräche oder konzentriertes Arbeiten ermöglichen sollen. Tatsächlich sind diese Zellen schallgeschützt, aber jeder im Büro kann sämtliche Gesten und Reaktionen der Zelleninsassen genau beobachten und seine Rückschlüsse über den Charakter des Gesprächs ziehen.
Der Besucher kennt sich mit den früheren Hierarchien in Betrieben aus. Es gab Sachbearbeiter, Abteilungsleiter, stellvertretende Abteilungsleiter, Direktoren und Vorstände. Heute erfährt er aus den Organigrammen, dass in den Büros Product Owners, Scrum Masters, agile Coaches, agile Facilitators und Happiness Facilitators arbeiten.
Wenn der Besucher dann an einem Tischkicker und Tischtennisplatten vorbei in die Besprechungszimmer bzw. „Meetingrooms“ hinüber geht, wird er keine schönen Porzellan-Kaffeetassen mit vergoldetem Rand und Thermoskaffeekannen voller Filterkaffee vorfinden, sondern große Bildschirme, denn heute finden die Mehrzahl aller Meetings über Webkonferenz statt – irgendeiner ist immer zu Hause oder in Berlin oder sonstwo auf der Welt unterwegs. Außerdem erinnern die Konferenzräume an Klassenzimmer. Die Wände sind nicht mit edlen Holzvertäfelungen oder abstrakten Kunstwerken verziert, sondern bieten Platz für „Whiteboards“ auf denen Begriffe wie Kanban, Sprints, 29 Retro, Velocity, Daily Standup stehen, die für unseren Besucher vollkommen unverständlich sind. An manchen Tischen wird er Timer finden wie bei einer alten 80er-Jahre-Quizshow und an anderen Tischen Spielkarten, die an Poker erinnern. An einigen Wänden hängen Plakate mit Sprüchen wie „Wir sind wahre Mutbolzer“. Sehr wahrscheinlich hätte der Besucher den Eindruck, er sei in eine Mischung aus Spielhalle, Kindergarten oder Clubhotel geraten und nicht in ein Büro.
Unser Besucher wird vieles neues entdecken können, auch Müslischalen oder Obstkörbe, aber er wird eines vermissen: die Mitarbeiter. Die haben sich alle ins smart working verabschiedet oder – wie man es auch nennt – ins Home-Office.
Die Veränderungen in den letzten zehn Jahren in deutschen Unternehmen sind exorbitant. Diese Veränderungen beschränken sich nicht mehr nur auf die Verbannung von Krawatten und Anzügen aus den Unternehmen und auf die weißen Sneakers, die stattdessen en vogue geworden sind. Die meisten Veränderungen basieren auf neuen Managementtrends, die mit den Begriffen Scrum, New Work und Agilität verbunden, und die wie ein Tsunami über die Unternehmen gerollt sind.
Auch wenn in vielen Unternehmen die identischen Wörter für neue Managementmethoden verwendet werden, so sind die Bedeutungen doch sehr verschieden. Es ist faszinierend, wie unterschiedlich die Methoden tatsächlich gelebt werden. Aus diesem Grund möchten wir zunächst ein gemeinsames Verständnis über die wichtigsten aktuellen Managementmethoden schaffen, um einen Rahmen für die Analyse von Führung und aktuellen Fehlern im Management zu spannen.
30 1 SCRUM
Scrum ist eine Strukturmethode des Projektmanagements, die Mitte der 90er-Jahre von Ken Schwaber und Jeff Sutherland konzipiert wurde. Es war eine klare Gegenbewegung zu den bis dahin üblichen Planungsmethoden, wie z. B. Wasserfallmethoden, bei denen der Plan zu Beginn aufgesetzt wurde, um ihn dann akribisch abzuarbeiten und nicht mehr wesentlich anzupassen. Man merkte oft erst gegen Ende, dass die Bausteine nicht zueinander passen.
Schwaber und Sutherland wollten Methoden für den erfolgreichen Abschluss von Softwareprojekten entwickeln. Denn sie hatten viele derartige Projekte scheitern sehen. Dabei suchten sie in der Wissenschaft und stießen auf einen Artikel von Hirotaka Takeuchi und Ikujiro Nonaka (Harvard Business Review 1986) „The New Product Development Game“. Aus dem Artikel stammt auch der Name „Scrum“. Scrum kommt aus der Sprachwelt des Rugbys und bedeutet dort den Neustart des Spiels nach einer kleineren Regelverletzung.
Die aktuelle Ausgabe des Scrum Guide, in dem die offizielle Definition von Scrum beschrieben wird, umfasst 17 Seiten und ist leicht verständlich. Was hat aber dazu geführt, dass Scrum in den Köpfen vieler Manager in den letzten Jahren als das Allheilmittel betrachtet worden ist? Was hat Scrum zur einzig wahren Wahrheit im Management werden lassen?
Klare Regeln
Entgegen dem, was viele Betrachter von außen vielleicht denken würden, sind im Scrum klare Regeln vorhanden, auch wenn dies immer wieder gerne verwässert werden.
1. Messen des Fortschritts
Fortschritt wird im Scrum ausschließlich in Form von fertiggestellten Aufgabenpaketen/Produktfunktionalitäten definiert, die gut 31 geplant und messbar sind. Dabei wird geplant, welche Aufgaben/Produktfunktionalitäten in einem festgelegten Zeitraum (sogenannter „Sprint“, der wenige Tage aber auch bis zu vier Wochen dauern kann) umgesetzt werden können.
2. Klare Rollen
Im Scrum gibt es Rollen, die klar definiert sind und überschneidungsfrei sind:
Product Owner: Er legt mit dem Team fest, welche Aufgaben zuerst erledigt werden sollen und welche eine niedrige Priorität haben.
Scrum Master: Er ist der Herr der Meetings (Dailys, Groomings, Planning und Retrospektive) und hat die Verantwortung, Probleme aus dem Weg zu räumen, damit sich das Team auf die Bearbeitung der Tasks und Aufgaben konzentrieren kann.
Entwicklungsteam: Das Team bearbeitet die Arbeitspakete, die es selbst gemeinsam mit dem Product Owner definiert hat.
3. Transparentes Controlling
Der Abarbeitungsstand der Aufgaben/Produktfunktionalität fachlich wie auch technisch wird in einem tagesgenauen Controlling überprüft. Hierfür gibt es klare Meetingsmomente wie beispielsweise das Daily Scrum. Dadurch können frühzeitig Hindernisse oder Abweichungen erkannt und auch behoben werden oder Mitigationen gestartet oder adressiert werden.
4. Weiterentwicklung und stetige Verbesserung
Alle zwei bis vier Wochen findet eine Retrospektive statt, bei der die Zusammenarbeit reflektiert wird. Hier ist Raum, um offen über Fehler zu sprechen. Dadurch wird die Qualität des Produktes und des Prozesses ständig verbessert.
Obwohl Scrum für die Softwareentwicklung entwickelt wurde, kann die Methode in vielen Kontexten angewandt werden.
Der Ansatz vom Scrum basiert auf dem Teamgedanken, ähnlich wie beim Fußball oder Rugby. Allerdings gilt nicht das Motto „Jeder muss immer genau das tun, was er am besten kann“, sondern vielmehr das Motto „Wir unterstützen einander, um am Wichtigsten zu arbeiten“.
Abbildung 1: Vier Regeln im Scrum
Das Team gibt sich selbst die Normen und Regeln, die benötigt werden, um die tägliche Arbeit zu bewältigen.
Ich habe oft sehen müssen, wie Arbeitsweisen übernommen werden, ohne den eigentlichen Kern zu beachteten, geschweige denn zu verstehen. In der Fachliteratur spricht man vom Cargo Cult.
Natürlich kann man wie im Supermarkt den Einkaufswagen nur mit all den Produkten füllen, die einem auch schmecken. Ebenso kann man alle Mechanismen, Meetings und Strukturen des Scrum übernehmen und in den Arbeitsalltag aufnehmen, wenn aber die Prinzipien, die darunter liegen nicht verstanden werden, sind diese Praktiken leer und bedeutungslos.
Scrum fußt auf klaren Prinzipien, wie die Methode funktioniert.
1. Aus Erfahrungen leitet man Erkenntnisse ab
Betrachtung der Ergebnisse von jedem Sprint und der gelieferten Arbeitsergebnisse im Review. Die daraus gewonnenen Erfahrungen verhelfen zur Standortbestimmung und zur Ausrichtung der nächsten Arbeitspakete.
Dies geschieht am Ende jeden Sprints, aber auch in der Retrospektive (am Ende eines Blocks von mehreren Sprints). Während beim Review der Fokus auf der Bewertung der Qualität der Arbeitspakete 33 liegt, wird in der Retrospektive die Zusammenarbeit im Prozess betrachtet.
So entsteht ein iterativer Prozess, bei dem aus den Fehlern, aber auch aus den Erfolgen der Vergangenheit gelernt wird. Wie beim Rugby gibt es einen Neustart nach dem Entdecken von Fehlern. Denn jeder Sprint wird als unabhängig von den vorherigen gesehen und bedeutet einen kleinen Neustart.
2. Wachstum aus Erfahrung
Mit jedem Sprint wachsen die Erfahrung und die...
Erscheint lt. Verlag | 23.3.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Wirtschaft ► Betriebswirtschaft / Management ► Unternehmensführung / Management |
Schlagworte | Agilität • Arbeitswelt • Kloster • Mitarbeiterentwicklung • Mitarbeiterführung • Team • Veränderung • Work-Life |
ISBN-10 | 3-8006-6471-2 / 3800664712 |
ISBN-13 | 978-3-8006-6471-9 / 9783800664719 |
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