Das schöne Leben der Toten (eBook)

Vom unbeschwerten Umgang mit dem Ende
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2019 | 1. Auflage
176 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9435-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das schöne Leben der Toten -  Milena Moser,  Victor-Mario Zaballa
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In der mexikanischen Kultur ist der Tod immer präsent, nie tabuisiert, ganz im Unterschied zur europäischen Kultur. Man freut sich auf den Tag der Toten, wenn die Verstorbenen zu Gast sind, um ein rauschendes Familienfest mit Torten und Tequila, Geschenken und Gelagen zu feiern. Milena Moser hat eine sehr persönliche Geschichte über den Día de los Muertos geschrieben: Ihr Partner Victor-Mario Zaballa ist selbst schwer krank. Doch er sieht seinem Ende ohne Furcht entgegen, denn er weiß: Den Toten geht es blendend.

Milena Moser, 1963 in Zürich geboren, ist eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen der Schweiz. 2015 emigrierte sie nach Santa Fe, New Mexico. Zuletzt erschienen die beiden Bestseller über ihr Leben in den USA »Das Glück sieht immer anders aus« (2015) und »Hinter diesen blauen Bergen« (2017) sowie der Roman »Land der Söhne« (2018). Victor-Mario Zaballa, 1954 in Mexico City geboren und in Cuernavaca aufgewachsen, ist Künstler. 1982 gewann er den ersten Preis für Traditionelle Altare in Cuernavaca. Seit über zwanzig Jahren baut er jedes Jahr für den Día de los Muertos öffentliche Altare, u. a. in der Davies Symphonie Hall und der Galerie Somarts in San Francisco, wo er auch lebt.

1. DER MARKT

DAS BESTE IST GERADE GUT GENUG

Über die Toten nichts Schlechtes – dieser Grundsatz gilt in der mexikanischen Kultur nicht. Im Gegenteil. Dafür heißt es: Den Toten nichts Altes. Alles, was man den Toten darbietet, muss neu gekauft sein. Bis hin zu den Töpfen, in denen ihr Essen gekocht wird. Das ist natürlich längst nicht für jede Familie durchführbar. Aber alle tun ihr Bestes. Bereits Ende September breiten sich überall in Mexiko spezielle Totenmärkte aus, auf denen man alles kaufen kann, was man für den Día de los Muertos braucht.

»Die Vorfreude auf den Tag der Toten beginnt Ende September mit den Märkten«, sagt Victor. »Da werden ganze Straßenzüge gesperrt, es ist ein Volksfest. Musik wird gespielt, und wie es riecht! Du findest immer einen Vorwand, um dich auf dem Heimweg von der Schule davonzustehlen und die Stände zu bewundern, und es findet sich immer jemand, der dir etwas zusteckt.«

»Die Vorfreude auf den Tag der Toten.« In dieser Formulierung steckt alles, was die mexikanische Totenkultur ausmacht, was sie von allem unterscheidet, was ich kenne.

Ich kenne den Totensonntag, Allerheiligen, nur als Einschränkung: Die geschlossenen Kinos und Bars in meiner Jugend, später die Lesungen, die in katholischen Kantonen nicht durchgeführt werden konnten. Zwangsbesuche an Gräbern, die ich das ganze Jahr nicht gesehen hatte, das Frösteln auf dem Friedhof im grauen Novembernebel, die obligate Chrysantheme im Topf.

Jede Kultur hat ihre Rituale, ihre Bräuche, ihre Zeremonien. Aber ich kenne keine andere, die einen vergleichbar unbeschwerten, fröhlichen Umgang mit dem Tod pflegt. Ich kenne niemanden, der so etwas sagen würde: Die Vorfreude auf den Tag der Toten!

Niemanden, außer einen Mexikaner.

»Für die alten Mexikaner war der Gegensatz Tod und Leben nicht so unbedingt wie für uns«, schreibt Octavio Paz in Das Labyrinth der Einsamkeit.

»Der Tod war ein verlängertes Leben und umgekehrt […] Das Leben hatte keine wichtigere Aufgabe, als in den Tod, seinen Gegensatz und seine Ergänzung, einzumünden. Der Tod seinerseits war kein Ende an sich: Der Mensch nährte mit ihm das gefräßige, unstillbare Leben.«

Das gefräßige, unstillbare Leben: Das gefällt mir. Das gefällt mir auch an Victor. Ich habe es erst auf sein persönliches, privates Bewusstsein der ständigen Anwesenheit des Todes geschoben. Er lebt schließlich seit bald zwanzig Jahren mit ihm. Aber offensichtlich geht dieses Bewusstsein über ihn hinaus, ist in seiner Kultur verankert.

Und was kann man nun auf einem Totenmarkt kaufen? Alles, was die Toten begehren: Blumen, Kerzen, bauchige Töpfe, in denen die Tamales, die gefüllten Maisrouladen, gedämpft werden. Bestickte Stoffe. Reich dekorierte Totenköpfe aus Zuckerteig. Die sind allerdings für die Lebenden gedacht und mit deren Namen versehen.

»Eine meiner deutschen Freundinnen war einmal schwer beleidigt, als ich ihr so einen schenkte«, lacht Victor. »›Willst du mich etwa loswerden?‹ Aber so ist es nicht gemeint – es ist nur eine Erinnerung daran, dass du auch einmal sterben wirst. Dass der Tod zum Leben gehört.«

Diese Zuckerschädel sind besonders bei Kindern beliebt. Zu sehen, wie kleine Kinder genüsslich an einem Totenkopf herumkauen, der ihren Namen trägt, kann schon etwas befremdlich wirken. Wenn man nicht mit dieser Tradition aufgewachsen ist. Aber es erklärt auch den ungezwungenen, vertrauten Umgang mit dem Tod. Wer sich die Ankündigung des eigenen Todes im Mund zergehen lässt, wird ihn nicht fürchten.

»Wenn du als Kind keinen solchen Zuckertotenkopf mit deinem Namen bekommst, ist das, als ob dich der Weihnachtsmann vergessen hat. Einmal«, erinnert sich Victor, »hat meine Mutter Atole gekocht, das traditionelle Warmgetränk aus Maismehl. Doch sie konnte den Piloncillo, den braunen Zuckerhut, nicht finden, der eingerührt wird, und so warf sie einfach meine Calavera, meinen Totenkopf, in den Kessel! Ich konnte zusehen, wie er sich auflöste. Was habe ich geweint!«

Die schönsten dieser reich verzierten Totenköpfe werden aber nicht gegessen, sondern in Seidenpapier gewickelt aufbewahrt und Jahr für Jahr wieder auf dem Altar angerichtet. So mischen sich die Lebenden unter die Toten, die Toten erinnern sich daran, dass sie gelebt haben, und die Lebenden rufen sich ins Bewusstsein, dass sie sterben werden.

Dieselbe Funktion erfüllen die kleinen Schaukästen, in denen Skelette allen möglichen Tätigkeiten nachgehen. Auch die sind als Geschenke für die Lebenden gedacht. Bis ins letzte Detail liebevoll nachgebaute Szenen stellen das Leben des Beschenkten dar: Nur sind es eben Skelette, die in Schulzimmern eine Klasse von Winzlingsskeletten unterrichten. Die verletzte Knochenmänner in Ambulanzen laden, Krane und Bagger bedienen, filigrane Fischskelette aus den blau bemalten Papiermaschee-Wellen ziehen oder auf dem Markt in detailgetreu bedrucktes Zeitungspapier wickeln. Man sieht Gebeine unter reparaturbedürftigen Autos hervorschauen, Skelette als Hochzeitspaar tanzend und an Infusionen und Maschinen angeschlossen im Krankenhausbett liegen.

Wem schenkt man denn so etwas?

»Oh, jemandem, der schwer krank ist.«

Ist das nicht ein bisschen taktlos? Jemanden, der bereits im Krankenhaus liegt, daran zu erinnern, dass er bald sterben könnte?

Das ist der Unterschied zwischen der mexikanischen und der europäischen Kultur. Der Tod ist immer da, ist Teil des Lebens, des Alltags, wird nicht verschämt versteckt. Man spricht über den Tod nicht im Flüsterton – und man wechselt nicht die Straßenseite, wenn man einem Hinterbliebenen begegnet. Im Gegenteil. Am Día de los Muertos besucht man die Familien, die in diesem Jahr einen Angehörigen verloren haben, und bringt ihnen Geschenke mit – den Toten, nicht den Angehörigen. Auch diese Ofrendas kann man auf dem Totenmarkt kaufen: Früchte, Totenbrötchen, Kerzen, reich bestickte Stoffe, Blumenornamente, Spielzeuge. Alles, was an die Toten erinnert, alles, was für sie im Leben von Bedeutung war. Eine Pfeife, ein Plüschaffe, eine neue Bluse, saftige, rosafarbene Kaktusfrüchte. Man geht davon aus, dass sich Geschmack und Bedürfnis im Tod nicht grundsätzlich verändern. So wurden die Toten früher gern mit ihren Wertsachen begraben, oder es wurde ihnen noch im Sarg, auf dem Weg zum Friedhof, Wasser eingeflößt. Nur ein paar Tropfen, aber trotzdem. Sicher ist sicher. Man bringt also den Toten dieselben Geschenke, die ihnen im Leben Freude gemacht hätten. In Michoacán werden diese Ofrendas auf hölzerne Pferdchen gebunden und so transportiert und verschenkt. Die Trauerfamilie wiederum bewirtet die Gäste mit traditionellen Gerichten, Posole, einer Maissuppe, Tamales und Atole. Die Gäste legen ihre Gaben auf den Altar, und dann wird geredet. Die ganze Nacht lang. Es wird über die Toten geredet, als seien sie noch da.

Das ist vielleicht der tröstlichste Aspekt des Día de los Muertos: Der Tod schaut in jedem Haus einmal vorbei. Dieses Bewusstsein wird so selbstverständlich geteilt wie die Trauer. Niemand bleibt damit allein.

DAS VORDRINGEN DES NICHTS

Die Sterblichkeit verdanken wir einem Unfall. Die Spannungen zwischen den Geschlechtern, die angenehmen wie die anstrengenden, auch. Alles nur, weil Quetzalcoatl hingefallen ist!

Jedenfalls gemäß dem toltekischen Schöpfungsmythos, wie Victor ihn mir erzählt hat. Die Hochzeit der Tolteken war längst vorbei, als die Azteken aus dem Norden kamen und sich ihre Kultur, ihre Religion und ihre Götter einverleibten. Das waren deren viele und sie hatten poetische Namen: Coatlicue, »die mit dem Schlangenrock«, die Mutter der Erde, der Sonne, des Mondes und der Sterne. Huitzilopochtli, der »südliche Kolibri«, Gott des Mondes und des Krieges. Mixcoatl, die »Wolkenschlange«, Gott der Jagd und des Polarsterns, Ometeotl, »Zwei-Gott«, Gott und Göttin der Dualität. Tlaloc, »der die Dinge sprießen lässt«, der Gott des Regens. Es gab Fruchtbarkeits- und Medizingötter, jedes Gestirn und jede Ackerfrucht hatte ihre eigene Gottheit, aber auch die Trunksucht, die Wolllust, Erdbeben und Dürre waren in diesem Pantheon vertreten.

Nur: Diese Götter waren einsam. Sie sehnten sich nach Menschen, die ihnen dienen, die sie verehren würden. Also schickten sie Quetzalcoatl, den gefiederten Schlangengott, in die Unterwelt. In der aztekischen Vorstellung war die Erde eine Scheibe, die im Meer schwamm. Sie hatte die Form eines Krokodils oder eines Frosches, je nach Interpretation oder Übersetzung. Den vier Himmelsrichtungen waren spezifische Götter, Pflanzen, Tiere und Farben zugeordnet. Über der Erde stiegen die dreizehn Stufen des Himmels auf, unter ihr ging es neun Ebenen tief in die Unterwelt.

»Was wollt ihr denn mit Menschen?«, fragten die Herrscher der Unterwelt. »Habt ihr es nicht schon oft genug versucht?«

In der Tat waren vier frühere Versuche gescheitert oder vielmehr von den enttäuschten Göttern abgebrochen worden. Diese vier Menschenalter werden die vier »Sonnen« genannt, weil bei jedem Versuch ein anderer Gott die Rolle der Sonne einnahm. Der erste, der es versuchte, war Quetzalcoatls Bruder, der unheilvolle Tezcatlipoca. Quetzalcoatl schubste ihn kurzerhand vom Himmel, was Tezcatlipoca so wütend machte, dass er sich in einen Jaguar verwandelte und alle Menschen auffraß. Und natürlich beendete er postwendend den zweiten Versuch Quetzalcoatls mit einem gewaltigen Windsturm und verwandelte die wenigen überlebenden Menschen in Affen. Die...

Erscheint lt. Verlag 8.10.2019
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Wirtschaft
Schlagworte Abschied • Dia de los Muertos • Familie • Fest • Krankheit • Kultur • Leben • Liebe • Tod
ISBN-10 3-0369-9435-1 / 3036994351
ISBN-13 978-3-0369-9435-2 / 9783036994352
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